Von Moritz Krawinkel
Im Herzen von São Paulo ist die Utopie eines geeinten Lateinamerikas Stein geworden. Einst hat hier der brasilianische Stararchitekt Oscar Niemeyer die Memorial da América Latina entworfen, eine weitläufige Anlage mit extravaganten weißen Bauten, Ausdruck eines Aufbruchs in gemeinsame, bessere Zeiten. In der nach dem anti-kolonialen Freiheitskämpfer Tiradentes benannten Empfangshalle steht noch immer der Tisch, auf dem, so die Hoffnung Niemeyers, einmal eine lateinamerikanische Gründungserklärung unterzeichnet würde. Diese Utopie hat sich nie erfüllt. Doch Brasiliens neuer Präsident scheint sie regelrecht zertrümmern zu wollen.
Bei seinem Besuch in den USA Mitte März 2019 machte Jair Messias Bolsonaro unmissverständlich deutlich, wer seine Verbündeten sind und wie wenig ihn die Einheit Lateinamerikas schert: Er sicherte den USA die Öffnung der Raumfahrtbasis Alcântara zu, eine militärische Nutzung schloss er nicht aus – ebenso wenig eine Beteiligung an einer etwaigen Militärintervention gegen das Nachbarland Venezuela. Er sagte die Aufhebung der Visapflicht für US-Bürger zu und versprach – entgegen den Verträgen des lateinamerikanischen Binnenmarktes Mercosur – die zollfreie Einfuhr von 750.000 Tonnen Weizen aus den USA. Gegenüber Fox News erklärte Bolsonaro seine Unterstützung für den Bau einer Mauer an der Südgrenze der USA. Die Menschen, so meinte er, kämen nicht, um „dem US-amerikanischen Volk Gutes zu tun“.
Die Maßlosigkeit, mit der der rechtsradikale Präsident den Ausverkauf der nationalen und lateinamerikanischen Souveränität betreibt, ist, ebenso wie die Niedertracht seiner Äußerungen über Frauen, LGBTI, Schwarze und Migranten, selbst im tief gespaltenen Brasilien ohne Vorbild. Dabei haben Bolsonaros Aussagen System, sagt die Journalistin Rosane Borges. Es gehe seiner Regierung um die „Wiederherstellung der rassischen Hierarchie“ zugunsten der Weißen, die das Land seit der Kolonisierung dominierten. Erst unter der Regierung Lula seit 2003 erhielten Schwarze und Indigene durch die Einführung von Quoten an den Universitäten, durch Sozialprogramme wie „Bolsa Familia“ und das Wohnungsbauprogramm „Minha Casa, Minha Vida“ Zugang zu Räumen, die der weißen Mittel- und Oberschicht vorbehalten waren. Diese Kränkung hat die brasilianische Rechte nicht verwunden.
Seit Beginn der Straßenproteste der durch die Krise verunsicherten Mittelschicht arbeitet sie an der Wiederherstellung weißer Privilegien. Dazu gehört, den armen Teil der Bevölkerung wieder auf die hinteren Plätze zu verweisen. Genau darauf zielen Reformen wie die geplante Anhebung des Renteneintrittsalters bei gleichzeitiger Senkung der Renten. Am härtesten betroffen werden diejenigen sein, die in der informellen Ökonomie arbeiten, Kleinigkeiten auf der Straße verkaufen oder auf dem Land ohnehin nie in eine Rentenkasse eingezahlt haben. Übergeordnetes Ziel ist die Entlassung der Unternehmen und des Staates aus der Verantwortung und eine Stärkung der privaten Rentenkassen. Einmal mehr wird das neoliberale Lied der Individualisierung statt solidarischem Ausgleich angestimmt.
Für medico-Partner Antonio Martins vom alternativen Nachrichten- und Debattenportal Outras Palavras ist es allerdings nicht ausgemacht, dass das Parlament all das verabschieden wird. Bereits jetzt würden die Zustimmungswerte für Bolsonaro sinken. „Am Anfang hatten wir große Angst, dass mit ihm eine tatsächliche faschistische Bewegung einhergeht. Das scheint sich zumindest bislang nicht zu bestätigen“, sagt Antonio. Bolsonaros Politik sei geradezu grotesk, zu einer kohärenten Politik wäre er unfähig – auch weil die Präsidentschaft auf einem fragilen Kompromiss zwischen verschiedenen Fraktionen beruhe. Die Evangelikalen und die US-nahe neoliberale Wirtschaftselite, die Großgrundbesitzer und die Militärs sowie Bolsonaros Fraktion treibe nur der Wunsch nach Zerstörung der sozialen Errungenschaften der Regierungen Lula und Dilma, die Privatisierung von Staatsunternehmen wie Petrobras und die Erledigung verfassungsmäßiger Rechte. Ein gemeinsames Regierungsprojekt hätten sie jedoch nicht. „Bolsonaros Diskurs hat sich noch nicht in Praxis übersetzt“, sagt auch Cássia Bechara vom Sekretariat für Internationale Beziehungen der Landlosenbewegung MST, die medico seit vielen Jahren unterstützt.
Angriff auf Opposition
Mag der Präsident mitunter wie eine Karikatur wirken: Für ihre Gegner ist die Regierung eine echte Gefahr. So geht der Mord an der linken, lesbischen, schwarzen Politikerin Marielle Franco vor einem Jahr in Rio de Janeiro auf das Konto von Milizen, die Teile der Polizei und des organisierten Verbrechens umfassen – und die der Familie Bolsonaro nahestehen. Und selbst wenn Bolsonaro eines Tages für die Interessen der Eliten nicht mehr nützlich sein sollte, muss es danach nicht besser werden: Ein Drittel der Ministerposten wird von Militärs gestellt. Ihr Ziel ist ein starker Staat, dessen Feinde sie im Inneren suchen. Die Denunzierung des MST und der Wohnungslosenbewegung MTST aus den Reihen der Regierung als „terroristische Organisationen“ ist eine ernstzunehmende Drohung.
Vorarbeiten laufen seit Jahren. Schon seit der Fußball-WM der Männer 2014 könne man eine Militarisierung der Polizei beobachten, sagt Gabriella vom Movimento Passe Livre, das sich für einen kostenlosen Nahverkehr einsetzt. Immer neue Fahrzeuge, Waffen und auch Drohnen kämen bei Demonstrationen zum Einsatz. Als sie Mitte Januar im Zentrum von São Paulo gegen die Erhöhung der Fahrpreise im Nahverkehr protestierten, seien sie vollkommen unvermittelt von der Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen angegriffen worden, berichtet Gabriella. „Die Polizei will Demonstrierende traumatisieren.“ Ähnliches erzählt Cássia: Am Jahrestag des Mordes an Marielle Franco Mitte März hatten Frauen des MST in São Paulo aus Protest Gleise des Bergbaukonzerns Vale besetzt. Bei der Räumung durch Polizei gab es mehrere Verletzte.
Die Repression auf der Straße sei aber nur eine Methode gegen die sozialen Bewegungen, meint Cássia. Auf der juristischen Ebene würden Voraussetzungen geschaffen, um die bekanntesten Gesichter der Bewegungen zu kriminalisieren. Außerdem werde erneut ein Anlauf unternommen, das kollektive Eigentum legalisierter Besetzungen des MST in Privateigentum zu verwandeln und die Menschen dadurch zu verdrängen. Damit wäre der größten sozialen Bewegung des Landes die Grundlage entzogen, besteht ihr Ziel doch in einer Landreform, die gegenseitige Hilfe der Menschen und eine kollektive Bewirtschaftung der Erde möglich macht.
Solidarische Gegenwelten
Wie das aussehen kann, zeigt die MST-Besetzung „Marielle Vive“, hundert Kilometer nordwestlich von São Paulo. Vor einem Jahr besetzten hier 1.200 Familien eine brachliegende Farm, deren Flächen als Spekulationsobjekt gehandelt wurden. Jetzt steht hier eine weitläufige Siedlung aus Holzverschlägen. Was von der Straße aussieht wie eine Favela, entpuppt sich als organisierte Siedlung, die den Menschen ein selbstbestimmtes Leben und Auskommen ermöglicht; Menschen wie Cida, die von ihrem Mann vergewaltigt wurde, floh und auf der Straße lebte, bevor sie nach São Paulo kam und den MST kennenlernte. Neben allen Hütten wachsen in kleinen Gärten Kräuter, Mais und andere Nutzpflanzen. Eine gemeinsame Landwirtschaft bereiten sie zurzeit vor, berichtet Luiz. Familien, die nichts haben, werden in der Gemeinschaftsküche mit gespendeten Lebensmitteln aus anderen MST-Siedlungen mitversorgt.
Ausgebaut werden soll auch die Kinderbetreuung. Cicera, die Pädagogin, zieht uns aus dem Raum mit der lärmenden Kindergruppe und öffnet eine kleine Kammer voller Spiele, Plüschtiere und Bälle, alles Spenden. „Die Bälle bekommen die Kinder an Ostern“, sagt sie. Luiz führt uns weiter durch die Siedlung, vorbei an unzähligen nummerierten Hütten. In 33 Untereinheiten haben sich die Familien aufgeteilt, jede Gruppe stellt eine Person für die Koordinationsgruppe des Camps und rotiert durch die vielen notwendigen Aufgaben der Gemeinschaft – von der Torwache über Küche und Sicherheit bis zu Sauberkeit und der Kleiderkammer. Die Siedlung wie auch viele andere MST-Camps im ganzen Land bilden eine solidarische Gegenwelt, in der eine echte Alternative jenseits von Kapitalismus und Konkurrenz geschaffen wird.
Einen ihrer vielleicht letzten großen Erfolge feierte vor kurzem die in den urbanen Zentren aktive „Bewegung der Arbeitenden ohne Dach”, MTST, mit der medico seit letztem Jahr kooperiert. Welche Bedeutung der Besitz einer Wohnung für die Menschen hat, wird bei der feierlichen Übergabe der Schlüssel von 910 Wohnungen am Stadtrand von São Paulo deutlich. Hunderte Menschen haben sich vor einer Bühne versammelt, Schirme schützen gegen die Sonne, rote Fahnen des MTST wehen und ein langes Banner an einem der neuen Hochhäuser verkündet, dass nur gewinnen kann, wer kämpft.
Vor sieben Jahren hatten MTST-Aktivistinnen und -Aktivisten zusammen mit Menschen aus der Peripherie das Gelände besetzt. Sie erreichten, dass die Stadt das Land vom insolventen Eigentümer kaufte und das staatliche Wohnungsbauprogramm „Minha Casa, Minha Vida“ den Neubau finanzierte. Weil die Wohnanlage so groß ist, können auch Familien aus anderen MTST-Besetzungen einziehen, die Hälfte wird von der Stadt selbst vergeben. An der Planung waren die begünstigten Familien von Anfang an beteiligt, was den Bau und die Ausstattung der Wohnungen deutlich verbessert habe, erklärt Guilherme Boulos, Repräsentant des MTST, der 2018 für die linke PSOL als Präsidentschaftskandidat angetreten war. Bei der Schaffung von Wohnraum geht es auch darum, so Koordinatorin Érika Fontanas, Orte für Debatten, Weiterbildung und Aufklärungsarbeit zu schaffen, zum Beispiel über die geplanten Sozialkürzungen.
Der Ansatz scheint zu funktionieren: Bei einer Demonstration von annähernd 70.000 Menschen auf der zentralen Avenida Paulista gegen die Kürzungspläne ist der MTST stark vertreten. „Hier ist das Volk ohne Angst, ohne Angst zu kämpfen“ rufen die Menschen. Die Demonstration, getragen von Gewerkschaften und den großen Bündnissen der sozialen Bewegungen, galt als erster Gradmesser des Widerstandspotentials gegen die neue Regierung – und als Signal zur Überwindung der lähmenden Beklemmung, die das progressive Brasilien seit Bolsonaros Wahl gezeichnet hat. Breite Bündnisse, große Proteste – das ist die eine Strategie. Daneben setzen MST und MTST auf eine Verstärkung der Basisarbeit, im Falle des MTST in den eigenen Wohnblöcken ebenso wie in anderen Vierteln. Es gehe darum, mit politischer Bildung, Kollektivküchen und Gesundheitsprojekten die bestehende Basis zu halten und neue Leute heranzuführen, erklärt Érika Fontanas. Den Befreiungstheologen Frei Betto zitierend sagt sie: „Sparen wir uns den Pessimismus für bessere Tage auf.“
Die medico-Partner in Brasilien streiten für das Recht auf Land und Gesundheit, auf Wohnraum und ermöglichen unabhängige Informationen. Unter Bolsonaro ist nicht nur ihre Arbeit bedroht, auch die Aktivistinnen und Aktivisten selbst geraten in den Fokus. Umso mehr sind sie auf Solidarität angewiesen.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2019. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!