Imperiale Lebensweise

Kritik im Handgemenge

24.04.2018   Lesezeit: 7 min

Was ein neuer Internationalismus berücksichtigen muss. Von Ulrich Brand

Seit mindestens 20 Jahren bin ich Mitglied von medico international. Bis heute fasziniert mich, wie hier Kritik und Hilfe im Handgemenge praktisch werden. Es bedarf in dieser Welt der kritischen Nothilfe als Teil internationalistischen Handelns – leider und offensichtlich in diesen Jahren wieder mehr. Um einige Sachverhalte auf den Begriff zu bringen, die ein zeitgemäßer Internationalismus berücksichtigen muss, haben Markus Wissen und ich das Konzept der „imperialen Lebensweise“ vorgeschlagen.

Die kapitalistische Globalisierung und die damit einhergehenden wirtschaftlichen, politischen, sozialen und ökologischen Verwerfungen sind zuvorderst eine Strategie von imperialen Staaten und des Kapitals. Sie basiert aber auch auf dem ganz normalen Alltag vieler Menschen im globalen Norden. Möglich wird diese imperiale Lebensweise dadurch, dass der globale Norden auf die billigen Ressourcen und billige Arbeitskraft andernorts zugreift. Für die einen entsteht so Handlungsfähigkeit und materieller Wohlstand, aber auch – so politisch erkämpft und gewollt – eine funktionierende öffentliche Infrastruktur und Daseinsvorsorge. Für die anderen bedeutet es eine fortschreitende Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen und eine Verfestigung von Abhängigkeitsverhältnissen.

Diese Lebensweise hat sich im globalen Norden durch den Globalisierungsprozess der letzten 30 Jahre gerade auch durch die Digitalisierung mit ihrem hohen Ressourcenverbrauch vertieft. Systematisch greifen die Menschen verstärkt auf Ressourcen, auf High-Tech-Geräte, aber auch auf T-Shirts, Autos, Nahrungsmittel und anderes zu, die unterbezahlte Arbeitskräfte im Süden produzieren. Subjektiv erleben das viele Menschen als Wohlstand. Die imperiale Lebensweise bedeutet nicht, dass alle Menschen im Norden gleich leben. Studien belegen vielmehr, dass die Größe des ökologischen Fußabdrucks weniger vom Bewusstsein abhängt, sondern vor allem vom Einkommen. Wer ein höheres Einkommen hat, kann vermehrt auf jene Produkte und Dienstleistungen zurückgreifen, die unter sozial und ökologisch problematischen Bedingungen produziert werden. Zudem: Die imperiale Lebensweise, wie sie hierzulande gelebt wird, ist eine statusorientierte Lebensweise, die nicht nur die Umwelt zerstört, sondern auf sozialer Ungleichheit basiert und sie verschärft. Die Mittelschichten grenzen sich gegen die unteren Schichten bewusst ab, indem sie zeigen, dass sie sich aufgrund ihres hohen Einkommens ein Auto und viel Konsum leisten können. Das führt dazu, dass Menschen mit weniger Geld umso mehr ausgeschlossen werden und sich auch ausgeschlossen fühlen.

Den Schaden haben andere

Diese Lebensweise, die immer auch eine Produktionsweise ist, kommt deutlich an globale ökologische Grenzen. Auch früher gab es immer wieder Regionen, die in bestimmten Konstellationen ökologisch kollabierten. Doch heute hat die ökologische Gefahr eine globale Dimension. In gewisser Weise siegt sich die imperiale Lebensweise „zu Tode“. Und sie produziert in Zeiten der Krise ein Paradox, das es politisch in sich hat: Vor allem im globalen Norden wirkt diese Lebensweise in Zeiten der Krise stabilisierend, denn die relativ billigen Lebensmittel werden über den Weltmarkt weiterhin in die Metropolen geschaufelt. Gleichzeitig verschärfen sich andernorts die politischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Krisen und damit die Ursachen von Konflikten und Flucht.

Die imperiale Lebensweise basiert aber auch darauf, dass ihre Voraussetzungen und negativen Folgen unsichtbar sind oder ignoriert werden. Der Schriftsteller Ilija Trojanow verwies im Jahr 2012 in einem Standard-Artikel auf eine von 20 Regierungen in Auftrag gegebene Studie der deutschen Registrierungsagentur für Sozial- und Wirtschaftsdaten (dara). Sie kam zu folgendem Ergebnis: Wenn die globalen Durchschnittstemperaturen so stiegen wie zuletzt, würden bis zum Jahre 2030 mehr als hundert Millionen Menschen an den direkten Folgen – Dürre, Trinkwassermangel, Ernteausfall, Armut und Krankheit – sterben. „100 Millionen sind keine Bagatelle“, so Trojanow, „100 Millionen sind mehr als die Opfer beider Weltkriege. Falls Sie diese Nachricht nicht wahrgenommen haben, grämen Sie sich nicht. Sie wurde ihnen vorenthalten. Der Grund liegt weniger in der Abgeklärtheit, mit der wir der Apokalypse ins Auge blicken, da uns seit Jahren Hollywood und andere popkulturelle Industrien an ihre Allgegenwart gewöhnt haben, sondern wohl eher in einem Nebensatz des Berichts, der leicht zu übersehen wäre: `Mehr als 90 Prozent dieser Toten werden Bewohner von Entwicklungsländern sein.´ Nun ja, es wird die anderen treffen.“

Mit dem Begriff imperiale Lebensweise lassen sich auch rechtskonservative und rechtsextreme Politiken in Europa und den USA besser verstehen. In Zeiten sozialer Spaltung und Verunsicherung verheißen sie mit ihrem politischen Angebot, durch Migrations-, Handels- und Außenpolitik zuvorderst die Interessen derer zu verteidigen, die in den kapitalistischen Zentren leben. Die anderen Weltregionen sollen in ihrer Rolle als Zulieferer von billigen Waren bleiben und Hilfe suchende Menschen werden abgewiesen. Die imperiale Lebensweise zeigt aber auch an, dass sich diese Lebensweise über den Aufstieg von Schwellenländern wie China oder Brasilien ganz dynamisch auch in der Bevölkerung des globalen Südens verallgemeinert. Sie macht die Ausweitung des Kapitalismus für immer mehr Menschen attraktiv. Entscheidend für die Reproduktion der imperialen Lebensweise ist eine global und jeweils innergesellschaftlich ungleiche Konstellation – entlang von Klassen, Geschlechtern, Race, aber eben auch verallgemeinerten Produktions- und Konsummustern.

Anders leben – andere Verhältnisse

Ich bin hin und wieder in Ecuador. Dort habe ich erlebt, wie schnell in Zeiten hoher Erdölpreise und damit hoher Deviseneinnahmen des Staates die Anzahl der Autos und insbesondere der SUVs zunimmt. Auch dort greift die imperiale Lebensweise sofort.

Gleichzeitig hält der sich globalisierende Kapitalismus viele Menschen unter katastrophalen Lebensbedingungen. Aus einer geopolitischen Perspektive verstärken wirtschaftliche Globalisierung und die globale Ausweitung der imperialen Lebensweise den Bedarf an natürlichen Ressourcen in Ländern des globalen Südens. Die Konkurrenz um Land, etwa in Afrika, nimmt zu. Damit verstärken sich „öko-imperiale Spannungen“. Im Globalisierungsprozess der Nahrungsmittelindustrie werden Menschen von ihrem Land vertrieben, auf dem sie sich selbst ernähren konnten, um auf eben diesem Land Palmöl, Zuckerrohr oder Soja für die globalen Industrien und den Konsum im Norden anzubauen. Wenn sie sich dann erniedrigt und entrechtet für mehr als 2 US-Dollar am Tag als Plantagenarbeiter auf ihrem früheren Land verdingen, gelten sie in der Weltbank-Statistik als „aus der Armut befreit“. Die bittere Lebensrealität von immer mehr Menschen ist den Globalisierungsapologeten entgegenzuhalten, die uns mit Statistiken glauben machen wollen, die materielle Armut auf der Welt habe abgenommen.

Die Analyse aktueller Dynamiken sollte uns motivieren, nach Widersprüchen, Widerständen und Alternativen zur imperialen Lebensweise zu suchen und sie zu stärken. Zahlreiche spannende Diskussionen auf Workshops und bei Buchvorstellungen haben mir deutlich gemacht, dass der Begriff der imperialen Lebensweise das Unbehagen vieler Menschen trifft. Unbehagen an autoritären politischen Tendenzen, zunehmender sozialer Polarisierung und Bereicherung der Eliten. Kritik im Handgemenge bedeutet, den sich globalisierenden Kapitalismus als multiples Herrschaftsverhältnis zu verstehen und zu verändern. Das scheint heute schwierig, da der dominante Globalisierungsdiskurs darin besteht, die Fahnen wirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit und des Standortwettbewerbs hochzuhalten. Das Versprechen „Wenn wir am Standort zusammenhalten, leben wir besser“ ist nicht weit weg von „America First!“.

Wie können Alternativen zur imperialen Produktions- und Lebensweise aussehen? Es gibt vielfältige Widerstände und Vorschläge, etwa wie soziale Rechte verteidigt werden können, ohne dies auf Kosten anderer zu tun, sondern indem sie die Mächtigen und die mit ihnen verbundenen Herrschaftsverhältnisse infrage stellen. medico ist Teil dieser praktischen Suche nach Alternativen. Vor allem aber bedarf es einer sehr grundlegenden Transformation des dominanten nördlichen Entwicklungsmodells. Wir müssen raus aus der Komfortzone, wie das viele im „Sommer der Migration“ auch getan haben. Der Umbau des Ernährungssystems in eine ökologische Landwirtschaft bedeutet eine andere Ernährungsweise und ein anderes, nicht industriell-globales Produktionssystem. Dabei geht es auch darum zu zeigen, dass solche Entwicklungen ohne Konflikte und Kämpfe nicht zu haben sind. Eine wichtige aktuelle Erfahrung ist der Kampf der „Ende Gelände“-Bewegung um den Ausstieg aus der Braunkohleförderung und -verstromung in Deutschland. Die muss Hand in Hand gehen mit dem Ausstieg aus den Kohleimporten aus Kolumbien und überall dort, wo die sozial und ökologisch Kohleförderung desaströs ist. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.

Schließlich: Internationale Solidarität ist keine mit „dem“ Süden. Es bedarf auch der Kritik an der imperialen Lebensweise der Ober- und Mittelschichten in den Ländern des globalen Südens. Denn diese Lebensweise stabilisiert Herrschaftsverhältnisse und schafft durchaus Konsens – allerdings zu Lasten der Ärmeren und der Natur. Eine Kritik im Handgemenge, die nicht schick grün-alternativ und überheblich von Menschen und Organisationen aus dem globalen Norden vorgetragen wird, sondern in emanzipatorischer Absicht, darf auch davor nicht Halt machen.

Ulrich Brand ist Professor für Internationale Politik an der Universität Wien. Gemeinsam mit Markus Wissen verfasste er das kritisch-analytische Buch „Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus“ (oekom-Verlag München 2017), das es auf die Spiegel-Bestsellerliste schaffte. Im März 2018 erschien das von ihm und dem ecuadorianischen Ökonomen und Politiker Alberto Acosta verfasste Buch „Radikale Alternativen. Warum man den Kapitalismus nur mit vereinten Kräften überwinden kann“ (ebenfalls im oekom-Verlag), in dem es um die Debatten um Post-Wachstum in Europa und Post-Extraktivismus/Gutes Leben in Lateinamerika geht. 


Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2018. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!


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