»Im Zählen ist der Staat unglaublich gut. Jahrein, jahraus werden wir hier gezählt. Wegen der Wahlstimmen, wegen der Strom -und Wasseranschlüsse, und vor einem halben Jahr wegen der fehlenden Wasserentsorgung. Zählen ist ja gut und schön, aber was soll das alles, wenn keiner die Rechnung macht?«, so Bob Marley, einer der drei Vorsitzenden der Nachbarschaftsinitiative des Porto de traz, deutsch: » des Hafens nach hinten raus«. Seit Jahren schon werden die Anwohner eines der ältesten Stadtviertel von Itacaré hingehalten. Nur zu Wahlzeiten liegt dieses Viertel weit vorne in der Gunst der Politiker, denn ganze 800 Wählerstimmen bringt diese eine langgezogene Straße, die fast vom historischen Ortskern bis in die Mangrovensümpfe des nahegelegenen Flusses Rio de Contas reicht. Hauptproduktionsmittel: Einbaum, Ruder und Netz, alles im Gemeinschaftsbesitz, denn nur ganz wenigen gelingt es mehr als das Überlebensnotwendige aus dem Krebs- und Fischfang zu erwirtschaften. Die Initiative funktioniert gerade auf Grund der wirtschaftlichen Not, meint ganz realistisch der »Buchhalter« Biella, der pro Monat von jedem Mitglied 2 Reais oder einen Euro zur Instandhaltung der Netze, Einbäume usw. von den Mitgliedern erhält. »Ein Kilo frisch geschältes Krebsfleisch bringt ca. 6 Reais im Endverkauf. Das bedeutet für mich, daß ich bei durchschnittlich 12 Stunden Arbeit an sieben Tagen die Woche knapp über den staatlich verordneten Angestelltenmindestlohn von 180 Reais komme. Aber ich bin frei. Eine Uhr brauche ich hier nicht, wir leben mit den Gezeiten. Krebse in den Mangrovensümpfen werden bei Ebbe gefangen: das bedeutet für mich jeden Tag zu einer anderen Zeit raus. Wir sind eigentlich eine große Familie. Wir passen alle zusammen auf unsere Kinder auf. Da müssen auch die Männer ran, denn unsere »Krebsfangflotte« besteht zu über 50% aus Frauen, da können die Männer sich nicht alles leisten«, so Dona Nice, die mit ihrer harten Arbeit 10 Kinder und einen betrunkenen Ehemann durchbringen muß. Es sind vor allem die Frauen, die jahrelang vergeblich versuchten, die Abwasserentsorgung ihres Stadtviertels zu verbessern. Immer wieder wurde eine Kloschüssel, fließendes Wasser und ein funktionierendes Abwassersystem für jedes Haus versprochen. In den »tempos de politica«, jener »fünften Jahreszeit« der Kommunalwahlen, sind die Ähnlichkeiten mit dem brasilianischen Karneval nicht rein zufällig. »Wenn nicht bald etwas passiert«, so Dona Nice, »dann würde sich die ungeklärte Abwasserentsorgung für uns zu einer Katastrophe entwickeln«. »Vor dem Einbruch von massenhaft Touristen war unsere Situation auch nicht gerade rosig, heute aber gehen durchschnittlich ungefähr 5× soviel ungeklärte Abwässer in den Fluß und in die Bucht. Das ist nicht nur schlecht für die Nase, das bedroht in ganz extremer Weise unsere Lebensgrundlage, und die basiert nach wie vor auf Fisch – und Krebsfang. Jetzt wo die Nachfrage nach frischem Krebsfleisch ständig steigt, müssen wir ständig weiter rausfahren, weil um die Stadt alles verseucht ist. Auf den Prioritätenlisten für die Abwassersanierung der Tourismusbehörde stehen die Hotels ganz oben. Wir sind da ‚nur’ Anwohner, und den Krebs könnten sie auch von woanders herbekommen.« Aus diesem Grund haben Dona Nice und all die anderen Einwohner des Porto de Traz sich entschlossen, nicht weiter auf staatliche Hilfen zu hoffen. In Eigeninitiative organisierten die Leute die Säuberung des Mangrovensumpfes, in freiwilliger Wochenendarbeit taten sich verschiedene Familien mit den Nachbarn zusammen, um eine Sickergrube auszuheben. Mit Unterstützung von medico international wurde eine Vorstudie durchgeführt, um ein angepaßtes Abwassersystem zu entwickeln. Techniker loteten die verschiedenen Möglichkeiten für eine möglichst billiges, aber zuverlässiges Abwassersystem für den »Porto de traz« aus. Nachdem die Vorstudie belegte, daß ein funktionierendes Abwassersystem in Porto de Traz gebaut werden konnte, begann die eigentliche Arbeit. In enger Kooperation mit der Basisinitiative »Associacao dos Moradores do Porto de Traz« und mit Unterstützung von medico wurde in vier Monaten die erste Abwasserkanalisation eines Armenviertels in der Provinz Bahia errichtet. Die Einweihungsfeier war ein Großereignis. Brasilianische Medien sendeten auch in andere Favelas diese beispielgebende Nachricht. Jeder versteht: es stinkt nicht mehr zum Himmel und auch die Krebse in Hafennähe können wieder gefangen werden.
Christoph Goldmann