Südafrika steht bei Gewaltverbrechen an der Weltspitze. Die junge Demokratie bezahlt für ihre extremen sozialen Gegensätze einen hohen Blutzoll: Seit dem Ende der Apartheid wurden mehr als 420.000 Menschen ermordet. 650.000 Vergewaltigungen wurden angezeigt, die Dunkelziffer ist aber zwanzigfach höher. In der Provinz KwaZulu-Natal hilft der medico-Partner Sinani jungen Tätern.
Von Usche Merk.
Wir wollen ihn X. nennen. Mit vier anderen jungen Männern sitzt er zusammen. Sie fragen sich, warum sind Männer gewalttätiger als Frauen? "In Kriegen müssen sie an vorderster Front stehen", sagt M., "es wird von ihnen erwartet ihre Familien zu beschützen." "Wenn Frauen respektlos sind, müssen sie mit Gewalt diszipliniert werden", meint B. und ergänzt: "Männer werden auch misshandelt und beschimpft, das macht sie noch gewalttätiger." "Aber laut Statistik gibt es mehr Gewaltopfer unter Frauen und Kindern", wendet X. ein. "Ja, aber jetzt haben die Frauen das Gesetz auf ihrer Seite und was unsere Großväter und Väter sagen, gilt nicht mehr", antwortet sein Kollege.
Es ist der erste Sinani-Workshop mit jungen Männern. Sie reden über Zuschreibungen und Selbstbildnisse und fragen sich ernsthaft, ob ein eigenes Programm für sie sinnvoll ist. "Es ist gut, wenn wir mal einen Ort haben, wo wir untereinander über alles sprechen können, ohne gleich angegriffen zu werden. Wir wollen uns selbst besser verstehen und auch ein anderes Verständnis zwischen Männern und Frauen herstellen." Auf Wandzeitungen haben sie Argumente und Ideen gesammelt und beschließen, sich auf einen anspruchsvollen Selbstversuch einzulassen: Eine Reflexion darüber, was ihr patriarchales Rollenbild von ihnen selbst verlangt und wie ein respektvollerer Umgang und ein gleichberechtigtes Verhältnis zu Frauen ohne Gewalt und (Selbst-)Zerstörung möglich ist.
Herausforderungen
X. ist 26 Jahre alt. Er ist in einer Gemeinde aufgewachsen, in der es jahrelange Kämpfe um politische Einflusssphären gab, die blutig ausgetragen wurden. Als Kind hört er nachts Schüsse und sieht Leichen auf der Straße. Nach dem Mord an seinem Vater wird er selbst in die Kämpfe hineingezogen. Mit Hilfe einer Jugendgruppe gelingt ihm der Ausstieg, aber die örtliche Gang lässt ihn nicht in Ruhe. Er hat keine Ausbildung, keine Arbeit und daher kein Einkommen. Manchmal findet er Gelegenheitsjobs. Dann will seine Freundin, dass er ihr etwas kauft, aber manchmal hat er kein Geld mehr, weil er vorher alles in der Kneipe ausgegeben hat. Dass sie manchmal neue Kleider trägt, schürt sein Misstrauen, er spioniert ihr nach, ob sie ihn betrügt und hat Angst, dass sie ihn der Lächerlichkeit preisgibt. Schon seine frühere Freundin will nichts mehr von ihm wissen und das gemeinsame Kind kennt ihn nicht. Diesmal soll es anders sein: Er will die Beziehung, möchte heiraten und weitere Kinder haben, aber er braucht Geld, um Lobola (Brautgeld) an die Schwiegereltern zu bezahlen.
Ausgangspunkte
Anfang 2006 fing ich an, bei der südafrikanischen Organisation Sinani zu arbeiten. Der medico-Partner arbeitet in der Provinz KwaZulu-Natal und dort in den besonders gewaltgeprägten Gemeinden. Immer wieder gab es Diskussionen, wie die Gewalt gegen Frauen reduziert werden könne. Jahrelange Unterstützung von Frauengruppen hatte teilweise dazu geführt, dass Frauen noch stärkerem patriarchalen Druck ausgeliefert waren, weil sich das männliche Umfeld nicht mit veränderte. Die HIV-Aufklärungskampagnen stießen an eine Grenze, weil vor allem Frauen zu den Workshops kamen, aber die Männer sich weigerten Kondome zu benutzen oder zum HIV-Test zu gehen. Aber es gab auch immer wieder hoch motivierte Männer, die sich für ihre verprügelten Schwestern, Mütter und Nachbarinnen einsetzten, die sich den gewalttätigen Regeln der Gangs verweigerten und von ihren Geschlechtsgenossen dafür nur Hohn und nicht selten auch Schläge ernteten. Was also tun? Durch medico wurde ich auf eine Initiative in Brasilien aufmerksam, die ebenfalls versucht, jungen Gewalttätern eine innere Spurensuche zu ermöglichen. Ihr psychosoziales Programm (Programa H - Instituto Promundo) schien überzeugend und ich zeigte es meinen Kollegen. Kurz entschlossen sagten sie: "Das sieht gut aus, lass’ es uns ausprobieren." Sie bestanden allerdings auf meiner Mitarbeit.
Konzepte
Wir beschlossen, mit einer Pilotgruppe von 25 jungen Männern, alle zwischen 16 und 35 Jahre alt, zu beginnen, die wir bereits aus der Gemeindearbeit kannten. Manche waren frühere Kämpfer, andere leben in der Grauzone zwischen Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Zukunftsträumen. Ihre Situation ist hart: Von allen Seiten gibt es Erwartungen: Geld verdienen, Freundinnen beschützen, anständig bleiben, ein richtiger Mann sein, Familie gründen. Ihre Ausgangsvoraussetzungen sind aber denkbar schlecht: abwesende Väter, mangelndes Selbstvertrauen, kein Einkommen, schlechte Ausbildung. Häufig verstricken sich die jungen Männer in Gewalt und Drogen, haben Depressionen. An diesem Punkt setzt das Programm an: Sinani bietet ihnen geschützte Räume, wo die Gewalttäter sich mit ihrer Lebenssituation und ihrem eigenen Rollenbild auseinandersetzen können. Wir passten das brasilianische Modell den südafrikanischen Realitäten an und veranstalteten mehrtägige externe Workshops. Das Ziel lag darin, die jungen Männer nicht als Problemfälle, sondern als Verbündete zu begreifen, und ihrer Sicht auch zuzuhören. Zu Beginn war ich sehr unsicher, was ich als ältere, weiße, deutsche Frau in einer Gesprächsrunde für junge, schwarze, südafrikanische Männer zu suchen habe. Aber erstaunlicherweise nahmen mich die Männer offen und integrierend auf.
Übungen
Konzentriert und still sitzen sie zusammen. Auf Kartonkarten sollen sie ihre Gedanken zu zwei Themen notieren: "selbst erlittene Gewalt und meine Empfindung" und "selbst ausgeübte Gewalt und meine Empfindung". Anschließend hängen sie die Karten mit Klammern auf vier Wäscheleinen und betrachten sie: "Wenn mich jemand vor anderen beschimpft", steht da auf einer Karte unter der Rubrik Gewalterfahrungen. "Wenn ein Familienmitglied umgebracht wird, das ich liebe" auf einer anderen. "Wenn mein Vater meine Mutter verprügelt", "wenn jemand über mein Leben entscheidet", "wenn ich nichts zu essen bekomme". Auf der zweiten Leine hängen die Beschreibungen, wie sie sich dabei fühlen: "Als ob ich weinen müsste", "voller Rachegefühle", "nutzlos". Und welche Gewalt haben sie selbst ausgeübt? "Eine Waffe auf jemanden richten", "eine Frau schlagen", "Schwächere bedrohen", "jemandem das Handy klauen". Über die Gefühle geben die letzten Karten Auskunft: "Mächtig und stärker zu sein als die, mit denen ich kämpfe", "ich schäme mich, Entschuldigung zu sagen", "Unversöhnlichkeit", "Hass und Wut".
Debatten
In den Gruppen wird ernsthaft und vertieft über die eigenen Gewalterlebnisse diskutiert. Ich selbst schwanke zwischen neugierigen und "mütterlichen" Gefühlen, weil ich spüre, wie diese jungen Männer einen Zugang zu ihren extrem gewaltgeprägten Erfahrungen suchen. Für viele ist der abwesende und früher gewalttätige Vater prägend, und jetzt, wo sie selbst Kinder haben, aber mit der Frau nicht zusammenleben können, weil die Hochzeitskosten zu hoch sind, werden sie selbst zu abwesenden Vätern, die irgendwann ihr Kind aufgeben. Im Plenum wird über Gewalt gegen Frauen gestritten. X. sagt, er wolle zwar seine Freundin nicht schlagen, aber wenn sie ihn manchmal sehr verletze, dann weiß er nicht, was er tun soll. "Wie kann ich reagieren, ohne ihr dabei weh zu tun?" "Du kannst ihr doch auch sagen, was dir nicht gefällt. Wenn du sie schlägst, verlierst du nicht nur ihre Liebe, sondern kannst ins Gefängnis kommen", entgegnet ein anderer. "Wieso Gefängnis?", fragt B. "Schlagen ist per Gesetz verboten und die Frau kann dich anzeigen", antwortet X. Und M. ergänzt: "Wir müssen unsere Einstellungen ändern, wie sich die Zeiten verändert haben."
Brüche
Am Abend wird B. dabei erwischt, wie er eine große Schachtel Kekse aus der Küche klaut. Damit konfrontiert, sinkt er plötzlich in sich zusammen. Nach und nach erzählt er. Er ist 20 und in der letzten Klasse der Schule, wurde aber vor einiger Zeit rausgeworfen. Zu Hause erzählt er es aus Angst nicht, weil seine Mutter gedroht hat, ihn aufs Land zu schicken. Jetzt versteckt er sich den ganzen Tag in den Schultoiletten und ist mit Glücksspielen beschäftigt, aber er hat nichts zu essen. Gemeinsam im Workshop beratschlagen sie, was zu tun ist. Einer, der auch aus seiner Gemeinde ist, bietet ihm an, mit ihm zusammen nach Hause zu gehen. B. ist erleichtert und sagt, dass er gerne weiterlernen will.
Veränderungen
Mich beeindrucken die Energie und der Veränderungswille, die zum Vorschein kommen, wenn den jungen Männern ein Raum angeboten wird, selbst neue Wege zu finden. X. hat beschlossen, einen HIV-Test zu machen. Er will eine Ausbildung nachholen und hat begonnen in einer lokalen AIDS-Kampagne gegen Honorar mitzuarbeiten. Auch sein erstes Kind will er wiedersehen. B. hat sich mit Hilfe seiner Freunde mit seiner Familie versöhnt und besucht eine Berufsbildungsschule. Natürlich schaffen nicht alle einen Neuanfang. Einer ist erneut im Gefängnis gelandet, andere machen weiter wie bisher.
Projektstichwort
Unser Partner Sinani hat die ersten Workshops mit jungen Männern aus gewaltgeprägten Gemeinden ausgewertet und beschlossen, das Programm fortzusetzen. Die individuellen Erfolge waren ein erster Anfang, der Mut macht. Denn die gewalttätige Armut am Kap der Guten Hoffung ist noch längst nicht besiegt. Spendenstichwort Südafrika.