Mehr als Überleben

Bericht aus dem palästinensischen Flüchtlingslager Yarmouk in Damaskus

05.02.2014   Lesezeit: 5 min

Das syrische Regime versucht, „aufständische Gebiete“ und die darin noch verbliebene Zivilbevölkerung durch eine künstliche humanitäre Krise zu bestrafen - mit Erfolg. Die betroffenen Menschen werden müde und zusehends verzweifelter. AktivistInnen sind gezwungen, humanitäre Hilfe zu leisten oder sie bemühen sich, irgendetwas zu machen, damit es den Betroffenen besser geht. Die Selbstlosigkeit und Effektivität mit der dies geschieht, zeigt, dass die gelebte Solidarität noch nicht am Ende ist - trotz Hunger, Gewalt und Zukunftsangst.

Mittlerweile sind in Yarmouk etwa 70 Menschen ums Leben gekommen. Sie starben an körperlicher Auszehrung, an Hunger, sie fielen Kämpfen zum Opfer oder wurden aus der Luft durch eine der mittlerweile berüchtigten Fassbomben getötet. Die Nahrungsmittelversorgung in Yarmouk ist noch immer nicht gewährleistet und unterliegt weiter dem politischen Kalkül des syrischen Regimes und mit ihm loyaler palästinensischer Milizen. medico international unterstützt mit der palästinensischen Jafra-Foundation eine lokale, im Camp Yarmouk beheimatete zivilgesellschaftliche Struktur. Die AktivistInnen von Jafra ringen darum, nicht nur den buchstäblich hungernden Kindern beizustehen, sondern auch die allgemeine Lebensatmosphäre zumindest ein klein wenig zu verbessern.

Selbstorganisierte Schulen

„Trotz Hunger und Kälte beginnen die Prüfungen des ersten Schulhalbjahres kommenden Sonntag- die Schulleitung der `Damaszener Schule´ wünscht allen SchülerInnen der Schule einen schönen Schulstart“, so die Ankündigung Anfang Januar 2014 auf der Facebook-Seite von einer der neun alternativen Schulen in Camp Yarmouk. Nach dem die UN-Behörde UNRWA sich aus dem Camp zurückgezogen hatte, haben Jafra und andere zivilgesellschaftliche Gruppen die Verantwortung für die Schulen übernommen. Zumindest der Schulbesuch sollte für die Kinder weiter sichergestellt werden, damit ihr Alltag ein wenig strukturiert bleibt.

Durch die starke Unterernährung hat sich der Klassenalltag allerdings völlig verändert. Die Kinder sind sehr unkonzentriert, immer wieder werden Kinder im Unterricht ohnmächtig. Um dem auf kleiner Ebene entgegenzuwirken, verteilt Jafra Honig an die Kinder: „Das ist das energiereichste Nahrungsmittel, das wir auf dem Schwarzmarkt noch finden können“, erklärt Osama, der Jafras Hilfsaktionen im Camp koordiniert.

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Jafra verteilt Honig, Dezember 2013. (Foto: Jafra Foundation)

„Aber die Schwarzmarktökonomie ist teuflisch und macht alles sehr kompliziert. Denn wer helfen will, kann nicht einfach Geld schicken. Kommt Geld ins Lager aber gleichzeitig keine Waren, dann gibt es sofort eine enorme Preissteigerung, die uns noch mehr Probleme bereitet“, erklärt Osama weiter. Jafra versucht dieses Problem mit direkten Warenlieferungen zu lösen, auch wenn das eine langwierige Vorbereitung verlangt: „Wir bereiten uns darauf vor, bald Waren ins Camp bringen zu dürfen. Deswegen besorgen wir jetzt Nahrungsmittel und lagern sie in der Nähe des Camps, um sie im günstigen Moment sofort reinbringen zu können“. Tatsächlich konnte Jafra in individuellen Abmachungen mit dem Regime erwirken, dass in den vergangenen drei Monaten zwei Mal zumindest ein kleiner Laster mit Lebensmitteln für Kinder den Weg ins Camp passieren durfte.

Ende Januar gelang es auch den UNRWA-Behörden, einige Hilfslieferungen ins Camp zu bringen. Doch die Mengen reichen längst nicht aus und niemand weiß, wie lange die quasi militärische Belagerung und Kontrolle des Viertels noch anhalten wird. Es gibt nur einen zusätzlichen positiven Effekt, wenn Nahrungsmittel nach Yarmouk kommen: Die Schwarzmarktpreise fallen im Minutentempo.

Hunger zermürbt den zivilen Widerstand

„Hier in der Gegend gibt es niemanden, der nicht hungrig ist. Hunger ist vollkommen normal geworden.“, beschreibt ein Aktivist die Situation. Das beeinträchtigt auch den Versuch, die Schulen weiterzuführen. Die verschiedenen Gruppen, die versucht hatten, die UNRWA-Schulen für die Kinder weiter geöffnet zu halten, mussten am 26.01.2014 nach Abschluss der Prüfungen einen Teil der Schulen schließen. Ihre Erklärung ist bedrückend: „Aufgrund der Verschlechterung der humanitären Situation im Camp Yarmouk, aufgrund der Ausbreitung von infektiösen Krankheiten wie Hepatitis und der starken Zunahme von Blutarmut, sind wir gezwungen die alternativen Schulen im Camp vorerst zu schließen. Wir können den Schulbetrieb verantwortlich erst dann wieder aufnehmen, wenn sich die humanitäre und gesundheitliche Situation der Kinder verbessert hat.“

Das Beispiel der Schulen, die mühevoll von den Gruppen vor Ort aufgebaut wurden, zeigt, wie eng die sozialen und kulturellen Räume im aktuellen Syrien mit der humanitären Situation verknüpft sind. Da wo der Hunger herrscht, bleibt nur wenig Platz für etwas anderes. Entsprechend erfolgreich bricht eine Nahrungsmittelblockade den Willen und den Wunsch der Menschen, etwas anderen zu machen – und sei es ein Schulunterricht für Kinder. Das Regime hat gelernt. Da wo Bomben und Häuserkämpfe nicht zum schnellen Erfolg führen, wird durch eine Blockade auf Zeit gesetzt. Der künstliche Mangel zermürbt, schwächt und trocknet den Überlebenswillen aus. Seit Mitte 2012 wird die Altstadt von Homs belagert. Seit einem Jahr ist nun auch der Süden von Damaskus betroffen- seit sieben Monaten sind diese Bezirke komplett abgeriegelt. Die Menschen dort versuchen zu überleben, aber sie versuchen auch, ihr neues gesellschaftliches Klima zu retten.

Gerade in den letzten Wochen entstanden immer mehr Initiativen zum „Gruppenkochen“. „Wenn jede Familie die Sachen einzeln auf dem Schwarzmarkt kauft, dann haben sie am Ende trotzdem kein richtiges Essen. Selbst Gewürze sind teuer geworden“, so Jafra. Die Initiativen finanzieren sich unterschiedlich, teilweise aus den Geldbeuteln der einzelnen Familien, teilweise über Spenden aus dem Ausland. „Natürlich befördern wir damit nur die Preise auf dem Schwarzmarkt und wir finden das schrecklich. Aber wenn wir mit so einer Kochaktion 150 Menschen eine Mahlzeit verschaffen können, dann müssen wir das einfach tun“, erklärt einer der Mitorganisatoren weiter. Auch wenn viele Initiativen nur aus der Not entstanden sind, entstehen hier neue soziale Orte und sogar ein Gemeinschaftsgefühl. Das macht die Situation erträglicher.

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Obwohl die Schulen geschlossen sind, geht die Arbeit der zivilen Gruppen weiter. Hier: psychologische Unterstützung für Kinder und gleichzeitige Ausgabe einer Linsensuppe im Januar 2014. (Foto: Jafra Foundation)


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