medico: Das Programm der Arbeiterpartei-Regierungen unter Lula und Dilma Rousseff „Mein Haus – mein Leben“ (Minha Casa – Minha Vida) war für Eure Bewegung, die sich für das Recht auf Wohnen einsetzt, sehr wichtig. Besetzungen von Häusern oder Territorien, die ihr regelmäßig in vielen Städten durchführt, konnten häufig tatsächlich zur Schaffung von Obdach beitragen. Was wird mit diesem Programm unter Bolsonaro geschehen?
Guilherme Boulos: Eine der ersten Maßnahmen, die Bolsonaro nach seinem Wahlsieg angekündigte war die Abschaffung der Ministerien mit sozialen Aufgaben. Dazu zählt auch das Ministerium für Stadtentwicklung, das die Umsetzung des Programmes „Minha Casa – Minha Vida“ verantwortete. Zudem hat Bolsonaro einen Ökonomen zum neuen Präsidenten der brasilianischen Bundesbank benannt, der sie privatisieren soll. Sie ist aber für die Wohnungsbaukredite mit speziellen Konditionen zuständig. Wir gehen davon aus, dass die Bolsonaro-Regierung die sozialen Komponenten, die Subventionierung des Wohnungsbaus für die Unterprivilegierten beenden wird. Bestehen bleibt sicher der Teil des Programmes, der die Finanzierung von Immobilienbesitz für die Mittelschicht gewährleistet.
Was bedeutet das für den MTST, wenn man den Aktivist_innen der Bewegung keinen legalen Ausweg mehr aufzeigen kann?
Man kann die Bewegung der Menschen ohne Obdach nicht durch staatliche Verfolgung, Repression oder per Dekret zerschlagen. 7,7 Millionen Familien haben in Brasilien kein Dach über dem Kopf. Bolsonaros Politik wird dieses Problem verschärfen. Die Wohnungslosigkeit ist dramatisch, gleichzeitig werden institutionelle Maßnahmen zur Adressierung dieses Problems beendet und diejenigen als Terroristen gebrandmarkt, die Leute in ihrem Kampf um Wohnung organisieren, so wie wir das tun. Das ist eine explosive Situation.
Wie begründet Bolsonaro den Terrorvorwurf gegen Euch?
Bolsonaro will das vorhandene Gesetz gegen den Terrorismus verschärfen. Ein unsinniges Gesetz, das es nur gibt, weil das Internationale Olympische Komitee das zur Auflage für die Olympischen Spiele 2016 machte. Jetzt soll das Gesetz so verändert werden, dass die beiden größten sozialen Bewegungen, die Bewegung der Landlosen und der Wohnungslosen (MST und MTST) zu terroristischen Bewegungen erklärt werden können. Alle sozialen Proteste sollen mit dem veränderten Gesetz als Nötigung der Regierung und damit als terroristisch eingestuft werden. Dieses Gesetz steht ganz oben auf der Agenda der Bolsonaro-Regierung.
Ist eine Mehrheit im brasilianischen Parlament dagegen denkbar?
Das wird sehr schwer. Denn im neu gewählten Parlament hat Bolsonaro eine Mehrheit. Es ist sehr konservativ.
Welche strategischen Möglichkeiten existieren, um Bolsonaro an der Verwirklichung seiner schlimmsten Ankündigungen, wie der Verhaftung und Ausweisung von Oppositionellen, zu hindern?
Die sozialen Bewegungen werden sich weiter für ihre Themen einsetzen und sich nicht verängstigen lassen. Wir brauchen ein breites Netz der Solidarität. Im Land selbst und auf internationaler Ebene. Solche Netze zu bilden, ist jetzt unsere Hauptaufgabe. Dann das Projekt der neuen Regierung ist gerade in der sozialen Frage extrem gewalttätig. In Brasilien sind wir dabei ein breites Bündnis, eine Art Frente Amplio, zur Verteidigung der demokratischen Freiheiten und der sozialen Bewegungen zu schmieden. Es reicht bis weit ins bürgerliche Lager und in die Kulturszene hinein. Denn es geht um die Verteidigung der Demokratie.
Schon die bloße Aussicht auf Bolsonaro als Präsident hat eine Atmosphäre der Angst und der Gewalt geschaffen. Wie soll man sich unter solchen Bedingungen eine Protestbewegung vorstellen?
Vor kurzem ist eine bereits etablierte Gemeinde des MTST angegriffen worden, die seit vier Jahren Land besetzt hält und darauf Häuser errichtet hat. Die Polizei hat die Ermordung eines Polizisten zum Vorwand genommen, die Gemeinde anzugreifen. Sie sind in die Häuser eingedrungen, haben Leute geschlagen und erniedrigt. Als sie niemanden fanden, den sie des Mordes beschuldigen konnten, haben sie die ganze Gemeinde in Brand gesetzt. 300 Häuser sind abgebrannt. Das war die Polizei. Aber es gibt keine polizeiliche Untersuchung wegen des Brandes. Ende Oktober haben fünf bewaffnete Männer eine Siedlung des MST in Ceará angegriffen und niedergebrannt. Das alles waren schon Vorboten der Bolsonaro-Zeit. Die Botschaft von oben lautet: Jede Form von Gewalt gegen die Bewegungen der Land- und Wohnungslosen (MST und MTST) ist erlaubt.
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Warum richten sich die Angriffe insbesondere gegen diese beiden Institutionen der sozialen Bewegungen?
Das ist eine Obsession Bolsonaros. In all seinen Reden tauchen Tiraden gegen uns auf. Aber es gibt ein paar rationale Gründe. Diese beiden Bewegungen haben in Brasilien die größte Mobilisierungsfähigkeit. Da Bolsonaro ein ultraliberales Wirtschaftsprogramm durchsetzen will, sind wir seine natürlichen Gegner, die er neutralisieren will. Außerdem pflegt er einen Diskurs aus Vorurteilen gegen diese beiden Bewegungen. Er bezeichnet die Aktivist_innen als Invasoren, als Menschen, die gegen die Ordnung sind, als Illegale und Arbeitsfaule, als Terroristen und Kommunisten, die das Eigentum missachten. Das hat sich als Meinung in Teilen der brasilianischen Gesellschaft durchgesetzt und es gibt einen verbreiteten Hass auf diese Bewegungen.
Du bist Psychoanalytiker. Wie erklären sich diese Vorurteile. Ist das eine koloniale Mentalität, die in den Köpfen der weißen Mittel- und Oberschicht immer noch prägend ist?
Das ist ganz sicher so. Die Elite denkt wie in der Zeit der Sklaverei. Aber es gibt noch einen anderen Grund. Das ist das Phänomen der Angst. Bolsonaro hat es verstanden, die Angst politisch für sich zu nutzen. Brasilien ist ein sehr gewalttätiges Land. Im Jahr 2017 gab es 62.000 Morde, mehr als in vielen Kriegsgebieten. Die soziale Gewalt ist extrem stark und es gibt Zukunftsangst, weil es keine Perspektive gibt. Es liegt in Brasilien eine ökonomische, eine politische und eine ethische Krise vor. Daraus hat sich ein Milieu der Angst entwickelt. Wenn Menschen Angst haben öffnen sie sich leichter einem Ordnungs- und Gewaltdiskurs. Bolsonaros autoritärer Diskurs ist eine perverse Form, die Angst der brasilianischen Gesellschaft zu nutzen. Aus psychologischer Sicht ist dieser Diskurs sehr nah an dem faschistischen Führertum. Das ist heute offenbar attraktiv.
Man hat den Eindruck, als hätte es 15 Jahre Regierungen der Arbeiterpartei (PT) nicht gegeben.
Bei allen Einschränkungen haben die PT-Regierungen doch zum Teil erfolgreich die Ungleichheit bekämpft. Es gab eine politische Debatte um die Rechte der Schwarzen, der Frauen, der Armen. Darauf hat der reaktionäre und elitäre Teil der Gesellschaft mit Bolsonaro auf sehr perverse Weise reagiert.
Hätte die PT Reformen schneller oder noch langsamer durchführen müssen?
Ich meine schneller.
Aber wenn diese vorsichtigen Reformen schon für diese Gesellschaft zu viel waren?
Ich bin überzeugt, dass man mit dem reaktionären Teil der brasilianischen Elite nicht kooperieren kann, wie es die Arbeiterpartei versuchte. Man muss ihr eine Niederlage zufügen. Diese Elite ist rassistisch, räuberisch, verteidigt die Folter. Mit diesen Leuten kann man keinen Pakt schließen.
Also spricht jede Seite davon, dass die andere vernichtet werden muss?
Wenn ich diese reaktionären Kräfte politisch schlagen will, heißt das nicht, dass ich sie sozial vernichten möchte. Das muss im Rahmen der demokratischen Ordnung geschehen.
Was ist 2013 noch in der Regierungszeit der PT geschehen, als es die ersten großen Demonstrationen gab, die sich auch gegen die PT richteten und ohne die sich Bolsonaro nicht erklären lässt?
Die Demonstrationen im Juni 2013 hatten anfangs legitime Gründe. Die PT-Regierungen haben zwar den privaten Konsum stimuliert, aber die öffentlichen Dienstleistungen, der öffentliche Transport, die Bildung, das Gesundheitswesen verbesserten sich nicht. Die Juni-Demonstrationen forderten anfangs bessere öffentliche Dienstleistungen. Dann aber nahmen sie sich dem Thema der Korruption an, was angesichts mangelnder öffentlicher Investitionen verständlich war. Damit aber gelang es der Rechten, den Protest zu dominieren und die Problematik der Korruption vollständig der PT anzulasten.
Korruption ist ein schwieriger Vorwurf, weil er häufig pauschal die Politikverdrossenheit und Ressentiments gegen Politiker_innen bedient.
Ja, Korruption ist ein Begriff, der sich leicht missbrauchen lässt. In Brasilien hat der Korruptionsdiskurs eine bittere Tradition. Alle Militärputsche wurden u.a. mit der Begründung durchgeführt, man wolle die Korruption bekämpfen.
Neben den Korruptionsvorwürfen gab es auch große Wirtschaftsprobleme am Ende der PT-Ära.
Das Wirtschaftsmodell der PT war nicht nachhaltig und hatte auch widersprüchliche Folgen. Es forcierte die Landflucht, weil das Land zur Gewinnung von Energie und für die Entwicklung des Agrobusiness benutzt wurde. Es war ein extravistisches Modell. In der Stadt gab es viele Baumaßnahmen, ohne dass der Raum geregelt wurde. Damit wurden die großen Baukonzerne gestärkt. So hat der Staat für eine enorme Immobilienspekulation gesorgt, mit verheerenden Auswirkungen auf die Stadtbevölkerung. Hinzu kam die globale Krise von 2008, die die Wachstumsraten von 4 Prozent des BIP unter Lula beendete, weil die Nachfrage nach Rohstoffen sank. Um eine nachhaltige Sozialpolitik zu machen, hätte man das Einnahmesystem des Staates verbessern, die Steuern für die Reichen erhöhen und das Finanzsystem stärker regulieren müssen.
Konnte oder wollte die Arbeiterpartei solche Reformen nicht angehen?
Beides. Wenn man solche Reformen will, dann schafft man die Konditionen, damit man sie auch durchführen kann. Man darf nicht vergessen, dass die erste Lula-Regierung eine gewaltige Unterstützung hatte. Die Zustimmungsraten für Lula lagen zeitweise bei 80 Prozent. Da wäre mehr drin gewesen.
Die PT beansprucht die Führung der Opposition gegen Bolsonaro. Geht das?
Die PT war es die letzten 30 Jahre gewöhnt, in der Linken hegemonial zu sein. Aber das ist nicht mehr möglich. Wenn sie diesen Anspruch weiter hegt, wird die PT allein bleiben. Die anderen Parteien, die sozialen Bewegungen sind nicht mehr mit dem Führungsanspruch der PT einverstanden.
Du hast Lula im Gefängnis besucht. Sitzt er dort zu recht?
Man kann einen Menschen nicht wegen des Verdachts von Fehlern verurteilen, sondern man muss ihm diese Verfehlungen beweisen. Es gibt keine Beweise gegen Lula. Es war ein politischer Prozess vor einer Wahl, die Lula wahrscheinlich gewonnen hätte. Der Richter dieses Prozesses verfolgte seine eigenen politischen Ziele. Unter Bolsonaro ist er zum Justizminister ernannt worden. Das ist skandalös.
Es gibt ein spürbares Entsetzen im Ausland über Bolsonaro, aber auch Hilflosigkeit. Gibt es sinnvolle Formen, Druck auf diese Regierung auszuüben?
Selbstverständlich. Die internationale Presse und Diplomatie kann sehr viel ausrichten. Man muss dafür Sorge tragen, dass sich der Präsident und die Gruppe um ihn herum nicht wohl fühlt. Bolsonaro wird sich möglicherweise nicht beeindrucken lassen, aber seine Wähler_innen und politischen Unterstützer_innen vielleicht schon. Bei einer autoritären Regierung macht es einen großen Unterschied, ob sie durch internationalen Druck gebremst wird oder ganz ohne Bremse fahren kann. Brasilien ist verletzlicher als man denkt. Nach Bolsonaros Ankündigung, er werde die Botschaft nach Jerusalem verlegen, drohten die arabischen Länder damit, ihre Hühnereinfuhr aus Brasilien einzustellen. Sie sind der größte Abnehmer brasilianischer Hühner. Daraufhin zog er diesen Vorschlag erst einmal zurück.
Wie schätzt Du dein persönliches Risiko ein? Du hast bereits Leibwächter.
Ja, leider. Das ist Ausdruck der Demokratie-Krise in unserem Land. Viele Politiker_innen müssen sich um ihre Sicherheit Gedanken machen, weil wir realen Gefahren ausgesetzt sind. Es ist einfach, die Bluthunde loszuhetzen, aber viel schwieriger sie wieder einzufangen. Die Wahl von Bolsonaro hat die schlimmsten Charaktere und Gefühle wie Hass und Gewalttätigkeit, die in unserer Gesellschaft existieren, von der Leine gelassen. Das ist für uns alle gefährlich.
Das Interview führte Katja Maurer.
Kurzporträt Guilherme Boulos
Der 38jährige Guilherme Boulos ist einer der profiliertesten Vertreter der sozialen Bewegungen in Brasilien. Boulos, Repräsentant der Wohnungslosenbewegung (MTST) und João Pedro Stedile, Mtglied der Direktion der Landlosenbewegung (MST), wurden immer wieder von dem neuen Präsidenten Bolsonaro persönlich angegriffen und als „Terroristen“ denunziert. Boulos, der in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen für die PSOL, eine kleine linke Partei, kandidierte, hat Philosophie studiert und ist Psychoanalytiker. Er habe sich mit der Psychoanalyse beschäftigt, sagt er nach dem Interview beim Kaffee, weil er die persönlichen Veränderungs- und Ermächtigungsprozesse, die er bei den Menschen im Kampf um ihr Recht auf Wohnung beobachtete, besser verstehen wollte. Mit dem Machtantritt von Bolsonaro gehört er zu den politisch gefährdetsten Personen in Brasilien. Das hindert ihn nicht, auch im Interview mit medico seine Positionen in aller Deutlichkeit zu äußern.
Solidarität mit der Opposition
medicos Partner_innen in Brasilien, zu denen auch der MST und der MTST gehören, sind unter dem neuen Präsidenten besonders gefährdet. Wie Guilhermo Boulos im Interview sagt, bedarf es einer großen Aufmerksamkeit für die drohenden politischen Entwicklungen in Brasilien unter einem rechtsradikalen Präsidenten. Sie können damit anfangen, indem Sie das Interview weiter verbreiten. Ihre Solidarität und Hilfe sind in diesen gefährlichen Zeiten umso nötiger.
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