Die Nachricht hatte uns gerade noch gefehlt. Kurz vor unserem Abflug nach Karatschi wies Pakistan drei Agenten des Bundesnachrichtendienstes aus dem Land. Besonders heikel war, dass sie sich nach pakistanischen Angaben als Entwicklungshelfer ausgegeben hatten. Eine Meldung, die alles zu bestätigen schien, was man hier von dem Nachbarland Afghanistans zu wissen glaubt: Rückzugsgebiet Al Quaidas und der Taliban und deshalb nächster Brennpunkt des „war on terror“ zu sein. Ein Land, regiert von korrupten Politikern, allmächtigen Feudalherren und einer zum Staat im Staat gewordenen, mit Atomwaffen ausgerüsteten Armee, heimgesucht von Selbstmordattentaten und den Angriffen unbemannter US-amerikanischer Drohnen.
Obwohl das alles auf unserer Reise beständig Thema blieb, lernten wir zugleich ein ganz anderes Pakistan kennen: Menschen, die sich gegen all das zur Wehr setzen und für das stehen, was im geläufigen Pakistan-Bild gar nicht vorkommt. Unter ihnen die pakistanischen medico-Partner: die Entwicklungsorganisation HANDS, das Forschungsteam des Pakistan Institute of Labour Education and Research (PILER) und die Aktivistinnen und Aktivisten des Sindh Labour Relief Committee (SLRC).
Ein Land, das nie gewollt war
Alle drei Organisationen haben ihren Sitz in Karatschi, der am Meer gelegenen früheren Hauptstadt, die heute zu den Megacities der Globalisierung gehört. Lebten hier in den 1940er Jahren 600.000 Menschen, schätzt man deren Zahl gegenwärtig auf bis zu 20 Millionen – Tendenz jährlich rasant steigend. Die Stadt nimmt fast viertausend Quadratkilometer ein, ist ein Drittel größer als das Saarland. Wer sie durchfahren will, muss dazu gigantische, treffend „Fly-over“ genannte Hochbrücken nutzen, die das Straßengewirr am Boden und den Wildwuchs der Streusiedlungen überspannen. Von diesen „Fly-overn“ sieht man manchmal direkt in die Fenster der unverputzten grauen Ziegelsteinbauten, an denen sie oft nur im Abstand weniger Meter vorbeiführen. Die zwei-, vier-, oder achtstöckigen, wild ineinander verschachtelten Gebäude bieten Abertausenden Zuwanderern einen provisorischen Unterschlupf, der für die meisten zur Heimstatt ihres ganzen Lebens wird.
Sieht man vom alten Zentrum Saddar ab, besteht ganz Karatschi aus solchen Streusiedlungen, wobei sich Slumareale mit denen der schnell wachsenden Mittelklassen und den „gated communities“ der Reichen und Mächtigen abwechseln. Sie werden durch manchmal sehr große, wüstenartig wirkende Brachflächen getrennt, um die blutige Bandenkriege toben, weil ihr Preis im Rhythmus des Zuzugs steigt, also täglich, wöchentlich. Den bewaffneten Landraub inszenieren die Clans der Grundstücksmafia als „ethnischen Konflikt“. Dabei lebten hier vor der Gründung Pakistans Sindhi, Balutschi und Gujarati meist friedlich zusammen, mit ihnen Armenier, Chinesen, Libanesen, gleichgültig, ob muslimischen, hinduistischen, christlichen, parsischen oder jüdischen Glaubens. Nach der Staatsgründung flohen Hunderttausende Hindus und Sikhs nach Indien, ihren Platz nahmen muslimische Flüchtlinge aus Indien ein. Nach dem Krieg um Bangladesh folgten Zehntausende Bihari und Bengali aus dem einstigen Ostpakistan, nach der sowjetischen Invasion Afghanistans noch einmal weitere 1,5 Millionen Menschen. Die Hälfte der Einwohner Karatschis spricht Urdu, die andere Hälfte Panjabi, Paschtu, Sindhi – und einige andere Sprachen.
Citizens Charter zur Neuerfindung Pakistans
„Man könnte darüber die ganze Geschichte dieses Landes erzählen“, sagt Karamat Ali, einer der bekanntesten Intellektuellen Karatschis, Geschäftsführer des medico-Partners PILER. „Es gab hier machtvolle Widerstände gegen die Kolonialherrschaft, doch keinen Unabhängigkeitskampf zugunsten Pakistans. 1947 wurden Millionen von Sindhi, Balutschi, Paschtuni, Bihari, Bengali im Westen und Osten Indiens zu Pakistani erklärt, um den Preis wechselseitiger millionenfacher Vertreibung, um den Preis der Grenzkriege mit Indien, des Krieges um Bangladesh, heute des Krieges um Afghanistan. Genutzt hat das den Feudalherren, der Bürokratie, den Militärs, den Mullahs – und dem Westen, der Pakistan als antikommunistisches Bollwerk brauchte.“ Die Scharia wurde erst unter der von Ronald Reagan finanzierten Diktatur Zia ul-Haqs eingeführt, bis dahin neigten nur die Muslime des Nordens orthodoxen Richtungen zu. Hier, im Süden sind die meisten noch heute vom Islam der Sufis geprägt: "Es gab nur wenige Moscheen, Mullahs spielten keine Rolle. Im Sufismus beruhen die religiösen Riten auf Gesang, Tanz und Poesie, der Glaube ist Sache der Einzelnen. Damit beginnt auch der Widerstand, ganz alltäglich, im Privaten“, so Karamat Ali.
Den öffentlichen Widerstand dagegen fördert PILER durch Forschungs- und Bildungsarbeit, durch Kampagnen und Netzwerkbildung. Mit finanzieller Hilfe medicos untersucht das Forschungsteam jetzt systematisch die Folgen der Flutkatastrophen 2010 und 2011, die ungeheuren Verluste an Ackerland, Häusern, Vieh. Auf ihren Recherchereisen sammeln PILER-Mitarbeiter aber auch die Schicksalsberichte der Flüchtlinge, ihre Klagen über das Versagen des Staates und der Armee, über den Zusammenhang von Naturkatastrophe, Großgrundbesitz, Korruption und sklavereiähnlicher Fronarbeit. Auf den Erfahrungen und Ansprüchen der Überlebenden baut die „Citizens Charter“ auf, um die herum PILER nun ein zivilgesellschaftliches Netzwerk schart. Die Forderungen reichen von Sofortmaßnahmen der Nothilfe und der Vorsorge für neuerliche Katastrophen über die Einleitung einer Landreform bis zur Streichung der Auslandsschulden – ein Punkt mehr, an dem Karamat Ali deutlich macht, warum eine gelingende Demokratisierung immer auch nachholende Dekolonisierung sein muss.
Entwicklung, nicht Almosen!
Zum Kreis um die „Citizens Charter“ gehört auch der pakistanische medico-Partner HANDS. Eine sozialmedizinische Hilfs- und Entwicklungsorganisation, mit der wir gleich nach der Flut 2010 große Nothilfeprogramme realisierten. Sie arbeitet in ganz Südpakistan, auch in zwei Slums Karatschis. Sie stützt sich auf fast 2.000 bezahlte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, mobilisiert aber bis zu 90.000 freiwillige Helfer aus lokalen „Community-based Organisations“ (CBOs). Auch deshalb gehörte HANDS zu den allerersten Hilfswerken, die nach der Flut zur Stelle waren, und anders als viele andere ist HANDS noch immer vor Ort, genauer gesagt: in 16.000 Dörfern der 24 Distrikte Südpakistans. „Für uns fügen sich im Stundentakt vorgenommene Nothilfe und auf Jahre angelegte Entwicklungsarbeit zu einer langen Revolution“, sagt Geschäftsführer Dr. Tanveer Ahmed, „und deren Losung ist: Entwicklung, nicht Almosen! Wir stehen den Leuten im täglichen Kampf ums nackte Überleben zur Seite und öffnen ihnen so Möglichkeiten, auch über anderes nachdenken zu können als über den morgen benötigten Reis: zum Beispiel über eine Landreform.“
Bei der Fahrt über die mit HANDS-Hilfe wieder aufgebauten Dörfer sehen wir das an den meist in ganz neuen Gebäuden untergebrachten kleinen Dorfschulen für Jungen und Mädchen: dafür hat HANDS noch in der Phase der Nothilfe gesorgt.
Die ist längst nicht in allen Orten abgeschlossen, am schlimmsten steht es in den Distrikten Matiari und Jamshoro, wo die Dörfer und die umliegenden Baumwollfelder noch bis zum Horizont überschwemmt sind. Hier leben die Leute schon im zweiten Jahr in Zelten neben ihren einsturzgefährdeten, verschlammten Häusern und Hütten. Von der Regierung haben sie nichts bekommen, die Armee ist nie aufgetaucht, das World Food Programme lieferte ganze zwei Mal Nahrungsmittel, alles andere stellen seither HANDS und die neu gegründeten CBOs. Neben den Schulen kommt den Gesundheitsposten oberste Priorität zu. Sie werden von sogenannten „Marvi-Workers“ im eigenen Haus betrieben: Frauen, denen HANDS eine Ausbildung in einfacher Gesundheitsfürsorge, Schwangerschaftsbetreuung und Geburtshilfe ermöglicht und dann mit einem Grundbestand der wichtigsten Medikamente ausgestattet hat.
Als wir in einem der HANDS-Distriktbüros an einem „Marvi“-Kurs teilnehmen und die Frauen über ihre Arbeit befragen, sind wir von ihrem Eifer, ihrem Mut und ihrem Stolz beeindruckt. Sie sprechen frei von den Grenzen ihres Tuns und wissen, dass sie nicht ersetzen können, was dringend gebraucht wird: ein funktionierendes Gesundheitswesen. Das ist der Grund, warum sich auch HANDS auf die „Citizens Charter“ beruft: „Wir können bestenfalls Lücken des Mangels ausfüllen, für den eigentlich ein demokratischer, säkularer Staat zuständig wäre“, sagt Dr. Tanveer, „deshalb ist politischer Einfluss für uns ein strategisches Ziel, Teil von Entwicklung.“
Workers of the World, unite!
Um das Verhältnis von konkreter Nothilfe und politischer Arbeit kreisen auch die Gespräche mit dem dritten medico-Partner, dem Sindh Labour Relief Committee (SLRC). Das Komitee sitzt zur Untermiete im Büro der National Trade Union Federation und entstand aus der Nothilfe. In ihm arbeiten Gewerkschafter mit Frauenaktivistinnen, Studierenden und einer Gruppe von Schriftstellern zusammen, zu denen auch Mushtaq gehört, der uns in den Gesprächspausen von seinen literarischen Vorbildern spricht: Wladimir Majakowski, unglücklicher Dichter der russischen Revolution, Agostinho Neto, Dichter und umstrittener erster Präsident Angolas, und Jean-Paul Sartre, Dramatiker und Philosoph. Seine nächste Quelle aber ist die Sufi-Tradition, deren Spiritualität nicht durch Mullahs, sondern durch populäre Poeten vermittelt wird, die den Gemeinden ihre Verse im Wettbewerb vortragen. Mushtaq nimmt selbst an solchen „poetry slams“ teil, mit Gedichten, die er auswendig lernt, weil ihre Niederschrift lebensgefährlich werden könnte: „Auf Gotteslästerung steht die Todesstrafe, und nicht wir entscheiden, was Gotteslästerung ist.“
Mit medico-Hilfe wird das SLRC in dem Dorf, in dem sie Nothilfe leisteten, eine Kooperative aufbauen: Ackerbau, Viehzucht und Vermarktung sollen genossenschaftlich betrieben, der Ertrag geteilt werden. Die Aktivisten wollten eigentlich zwei Kooperativen aufbauen, wir bremsten den Elan, und das nicht aus finanziellen Gründen. Denn das SLRC wird auch an anderen Stellen gebraucht: in der Organisation von Streiks, im Unterhalt einer Rechtsberatung für Arbeiterinnen und Arbeiter ohne Verträge, im Aufbau säkularer Studierendenzirkel, die aus Gründen, die wir nicht klären konnten, den deutschen Namen Zeitgeist-Movement tragen. Mit deutschem Geld wird sich das SLRC in Eigenarbeit ein neues Büro samt großen Versammlungsräumen bauen. Das stammt nicht von medico, sondern von einer bekannten deutschen Fluggesellschaft. Bei der hatte SLRC-Koordinator Nasir Mansoor einen Flug Karatschi-Caracas gebucht, mit Zwischenstopp in Paris. Dort fiel auf, dass der Moslem aus Pakistan kein Visum, doch eine beglaubigte persönliche Einladung des venezolanischen Präsidenten Chavez besaß. Zwangsweise nach Karatschi zurückgeschickt, klagte Nasir gegen „rassische und religiöse Diskriminierung“ – und erstritt im Vergleich eine Summe, die zum Erwerb des Baugrundstücks irgendwo inmitten Karatschis reichte. Im Fortgang unserer Zusammenarbeit werden wir ihn und seine Mitstreiter dort wiedersehen: zur Debatte, warum nicht, um eine zweite Kooperative.
Projektstichwort
Die Schäden der Flutkatastrophen 2010 und 2011 sind noch nicht behoben, doch das Pakistan-Bild schrumpft wieder auf den „war on terror“ zusammen. medico aber bleibt seinen Partnern weiter verbunden. Die Zusammenarbeit mit HANDS geht in die nächste Phase: wir unterstützen weiter den Wiederaufbau in von den Fluten zerstörten Dörfern in der gesamten Provinz Sindh („Tameer 3“). Fortgesetzt wird die medico-Unterstützung für die Forschungs-, Bildungs- und Kampagnenarbeit des Pakistan Institute for Labour Education and Research (PILER), unterstützt wird auch das Kooperativenprojekt des Sindh Labour Relief Committee (SLRC). Wie Dr. Tanveer Ahmed sagt: es geht um eine „lange Revolution“. Stichwort: Pakistan