Perspektivwechsel auf Zeit

Die medico-Mitarbeiterin Usche Merk arbeitete über 2 Jahre beim südafrikanischen Partner Sinani – hier ihr Erfahrungsbericht

17.11.2008   Lesezeit: 8 min

Statt als Projektkoordinatorin von medico in Frankfurt, hatte ich in den letzten 2 Jahren die Chance, beim langjährigen medico-Projektpartner Sinani-KwaZulu Natal Programme for Survivors of Violence in Südafrika mitzuarbeiten. Ermöglicht durch eine Beurlaubung von medico und einen Kooperantenvertrag des Weltfriedensdienstes im Rahmen des Zivilen Friedensdienstes.

So habe ich aus der Nähe die Arbeit unserer südafrikanischen Kolleginnen und Kollegen mit all den Widersprüchen, dem Engagement, den Rückschlägen und Überraschungen kennenlernen dürfen. Davon will ich hier erzählen.

Südafrikanische Widersprüche

Südafrika ist ein Land extremer Widersprüche. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist auch nach der Apartheid nicht kleiner geworden, zu den Reichen haben sich inzwischen die 'Black Diamonds' gesellt, die neue schwarze Elite. Bei den Armen hat sich wenig verändert. Mit einem für deutsche Verhältnisse eher bescheidenen Gehalt gehöre ich automatisch zur oberen Mittelschicht, wohne im 'sicheren', ehemals ausschließlich Weißen vorbehaltenen Vorstadt-Viertel, in einem Haus mit Garten, hohem Zaun und Alarmanlage. Meine Tochter geht in eine "weiße" Schule, täglich pendle ich zwischen einer weißen Lebenswelt der Mittelschichten und den Siedlungen der Ärmsten, wo die Schwarzen leben und wo ich arbeite. Auf den Elternabenden in der Schule meiner Tochter tauschen die Mütter Tipps über Wellness-Hotels aus, in meiner Schwiegerfamilie, die in einem indischen Viertel lebt, wird dagegen beratschlagt, wie der Eigenbeitrag für die notwendige Operation des Großvaters aufgebracht werden kann. Und bei der Arbeit geht es darum, wie die Großmutter, die sich um fünf AIDS-Waisen ihrer verstorbenen Kinder kümmert, das Fahrgeld in die Stadt aufbringt, um eine Waisenrente für die Kinder beantragen zu können.

Zu den extremen Widersprüchen gehört auch die allumfassende Sorge um Sicherheit und die Angst vor Gewalt. Organisierte Kriminalität und Sicherheitsindustrie haben sich fatal hochgeschaukelt. Alarmanlagen, Wegfahrsperren, Tresorcodes und der Einsatz von privaten Sicherheitsdiensten führen immer öfter dazu, dass Einbrecher und Autodiebe nur noch kommen, wenn auch die Besitzer anwesend sind. Die Überfallopfer werden so lange bedroht und misshandelt, bis sie die Alarmanlagen und Überwachungsdienste abschalten und die Tresorcodes herausgeben. Immer häufiger werden sie anschließend umgebracht, damit sie niemanden identifizieren können. Angst und Unberechenbarkeit werden so zu einer ständigen Konstante bei jeder Unternehmung des täglichen Lebens.

Doch der erstaunlichste Widerspruch ist das Nebeneinander von Unmenschlichkeit und menschlicher Wärme. Die erschreckende Brutalität des südafrikanischen Alltags kontrastiert eklatant mit der einnehmenden Freundlichkeit der Menschen. Immer gibt es ein kleines Gespräch: mit der Frau an der Kasse, dem Wachmann, dem Zeitungsverkäufer. Die Art, wie Fremde integriert werden, ist etwas Besonderes: Keiner würde vor deiner Nase seine Mahlzeit auspacken und einfach anfangen zu essen. Immer wird etwas angeboten und geteilt, was man hat. Kommt man in eine Gruppe, wird man vorgestellt, niemals steht jemand allein am Rand und wird sich selbst überlassen. Das afrikanische Prinzip "Ubuntu", deine Menschlichkeit nur gemeinsam mit der Menschlichkeit der Anderen verwirklichen zu können, findet sich in allen südafrikanischen Gesellschaftsgruppen, nicht nur bei den Schwarzen.

In der Arbeit sind alle Widersprüche gleichzeitig da. Sinani ist eine südafrikanische Nichtregierungsorganisation, die sich 1995 gegründet hat und mittlerweile in zwei Büros mit 19 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in 15 verschiedenen 'Communities' rund um Durban und Pietermaritzburg arbeitet. Alle kommen aus unterschiedlichen Familien, manche sind wohlhabend aufgewachsen oder stammen aus der Mittelschicht, andere lernten als Kind extreme Armut, Gewalt und Krankheit kennen. Sinani arbeitet in ländlichen und städtischen Armutsvierteln. Es sind Communities, die von der jahrzehntelangen politischen Gewalt der Apartheid besonders betroffen sind. In der Folge entwickelten sich dort häufig Gewaltkreisläufe, in denen politische Rivalität, Familienfehden und Kriminalität ineinandergreifen und den sozialen Zusammenhalt zerstören. Die Folgen sind hohe kriminelle und häusliche Gewalt, HIV-Infektionen und AIDS-Erkrankungen, gepaart mit einer extremen Armut.

Sinani – auf Zulu bedeutet das "Wir sind mit euch" – entwickelte einen eigenen Weg, um mit diesen massiven Problemen umzugehen, und setzt auf einen ganzheitlichen Ansatz in den Gemeinden. Die Arbeit ist getragen von der afrikanischen Philosophie des kommunalen Seins – ich bin, weil wir sind, und wir sind, weil ich bin. Gemeindemitglieder werden begleitet, eigene Optionen der Veränderung zu entwickeln. Dabei wird mit 'strategischen Zielgruppen' wie lokalen Führern, Gesundheitsarbeiterinnen, Jugendlichen und jungen Männern etc. auf verschiedenen Ebenen zu den Themen Gewalt, Armut und HIV & AIDS gearbeitet.

Das Geheimnis des Friedens

Einmal die Woche fahre ich mit meinen Kollegen nach Richmond zum Leadership Peace Forum. Hier treffen sich Vertreter der drei politischen Parteien, die sich in den Communities bis vor Kurzem noch aufs Heftigste bekämpft hatten. Gemäß strikter Regeln kann jeder der Anwesenden seine Beschwerden gegen die anderen vorbringen. Mitarbeiter von Sinani moderieren das Gespräch, geben den Beschuldigten Gelegenheit zur Entgegnung. Die entstehende Spannung nennen die Kollegen "Feuerwerk", etwa wenn die netten Herren in der Runde auf einmal Drohungen ausstoßen. Es ist Kommunalwahlkampf und keine der letzten Wahlen ging hier ohne Gewalt vonstatten. Doch die Kollegen machen Scherze, bringen die Männer zum Lachen. Wenn die Spannung nachlässt und die Verabredungen für das nächste Treffen erfolgt sind, wird gemeinsam Hähnchen gegessen. The secrets of peace building – wäre ich nicht vorher dabei gewesen, ich würde denken, es sei eine Versammlung von alten Schulfreunden, die gemeinsam scherzen und sich das Essen schmecken lassen.

Auf der Heimfahrt erzählt mir eine Kollegin, mit wem wir es da zu tun haben. "Da sind richtige 'Warlords' dabei, einige sind Waffenhändler und einer stand bereits wegen 18-fachen Mordes vor Gericht. Es dauerte Monate, diese Leute in das Forum zu kriegen. Aber wir wussten, das sind die Schlüsselpersonen, sie entscheiden, ob es Gewalt gibt oder nicht." Ich frage nach, wie sie das geschafft haben und sie antwortet lächelnd: "Ich behandle sie, als ob sie Gentlemen wären und nach einiger Zeit möchten sie sich dann auch als solche verhalten." Die harte Arbeit hat sich offensichtlich gelohnt – die Gewalt ist zurückgegangen und bei den jüngsten Wahlen gab es zum ersten Mal keine größeren Ausschreitungen.

Zeremonie der Reinigung

Auch im Distrikt Umbumbulu, wo Sinani seit Längerem ein Forum aus traditionellen Führern (Amakhosi) moderiert, geht die offene Gewalt langsam zurück. Dennoch leben die Gemeinden weiterhin getrennt und in Angst voreinander. Das Forum beschließt deshalb, eine große spirituelle Reinigungszeremonie durchzuführen. Die Ahnen, die Seelen der Toten, die durch die Gewalt ihr Leben verloren, sollen zur Ruhe kommen, um eine wirkliche Versöhnung zu stiften: "Durch die Reinigungszeremonie sagen wir denen, die von uns gegangen sind, dass sie die Waffen niederlegen sollen. Dass wir Frieden schließen mit jenen, die sie verletzt haben. Sonst bringen sie uns dazu, wieder die Waffen gegen unsere Brüder zu erheben, weil wir von ihrem Geist und ihrer Wut besessen sind." Sinani wird gebeten, diesen Prozess unter Beteiligung aller sich vormals bekämpfenden Fraktionen in Umbumbulu zu begleiten und zu moderieren – eine große Herausforderung.

Nach langen und schwierigen Vorbereitungen ist es dann soweit: Fast 10.000 Menschen aus der ganzen Region strömen zur Versöhnungsfeier zusammen. Ehrengäste sind der Zulu-König Goodwill Zwelithini, der Finanzminister der Provinz und hochrangige ANC-Vertreter Zweli Mkhize, sowie Mangosuthu Buthelezi, Chef der Inkatha-Partei. Bereits am Abend zuvor hatte der rituelle, nicht öffentliche Teil begonnen: Priester der afrikanischen Shembe-Kirche schlachteten in Anwesenheit der Amakhosi eine Ziege und verbrannten Heilkräuter, um in Kontakt mit den Verstorbenen zu treten. Symbolisch reinigten die Amakhosi sich und ihre Toten mit geweihtem Wasser. Am Tag darauf folgt der mit Angst und Nervosität erwartete Einmarsch der fast 5.000 bewaffneten Kämpfer. Die einziehenden militärischen Formationen beginnen sich nach beschwichtigenden Begrüßungsritualen aufzulösen und die Kämpfer vermengen sich. Shembe-Priester benetzen sie mit geweihtem Wasser, die anfängliche Spannung löst sich allmählich auf und macht ausgelassener Festtagsfreude Platz.

Eine derart große Reinigungszeremonie hatte es bislang noch nie gegeben – selbst die Abendnachrichten berichten davon. Noch Monate danach erzählen Bewohner von den Veränderungen, die es seither gab: Die Busse fahren wieder durch alle Gemeinden, zahlreiche Familien, die die Gewalt getrennt hatte, besuchen einander, ein Gefühl von Erleichterung und Sicherheit ist eingetreten.

Die stillen Helferinnen

Community Health Workers – GesundheitsarbeiterInnen –, was sich so geschlechtsneutral hinter dem Namen verbirgt, sind zu 98% Frauen und ein paar Männer. Für ein Taschengeld machen sie eine besondere HIV-Beratung: Nicht Aufklärung oder Kondombenutzung, sondern das allererste Gespräch mit denen, die gerade erfahren haben, dass sie HIV-positiv sind. Diese "Freiwilligen" versuchen den betroffenen Menschen Mut zu machen 'positiv' weiterzuleben. Weil sie das nicht immer schaffen, besprechen sie sich mit den Sinani-Mitarbeitern und fangen in der Beratung selbst an zu weinen. Durch eine spezielle Stress- und Trauma-Therapie schaffen es die Sinani-KollegInnen, Vertrauen und eine Atmosphäre aufzubauen, in der die Health Workers ihre eigenen Konflikte bearbeiten können. Es sind Geschichten voller Gewalterfahrungen: Missbrauch in der Familie, frühe Schwangerschaften ohne verantwortliche Väter, Verlust und Tod durch politische Gewalt, Brüder im Gefängnis, Angehörige mit AIDS, Waisenkinder und verrückt gewordene Verwandte.

Die dreitägigen Workshops wirken wie Balsam auf diese Frauen und Männer, die, obgleich sie ihre eigenen unerträglichen Geschichten kaum verarbeitet haben, immer wieder versuchen anderen Mut zuzusprechen. Ihnen müsste man ein Denkmal setzen, und dem Kollektiv von Sinani dazu. Besser vielleicht: ihnen ein ordentliches Gehalt zahlen und eine professionelle Beratung anbieten. Damit dies auch Wirklichkeit werden kann, haben die Health Workers mit Hilfe von Sinani einen Verein gegründet, mit dem sie ihre Interessen vertreten und Zuschussanträge bei der Regierung stellen können.

Projektstichwort

medico unterstützt seit vielen Jahren die Arbeit von Sinani. Zur Zeit fördern wir die Arbeit mit den Gesundheitsarbeiterinnen, die sich unter anderem um HIV betroffene und vernachlässigte Kinder kümmern. Außerdem unterstützen wir die Arbeit mit jungen Männern zur Gewaltprävention, über die wir in der nächsten Ausgabe des Rundschreibens ausführlich berichten werden. Ihre Spenden erbitten wir unter dem Stichwort: Südafrika.

 


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