Die Zahlen hatten es in sich. Im Januar veröffentlichte der medico-Partner El Nadeem Center for the Rehabilitation of Victims of Torture and Violence, das einzige seiner Art in Ägypten, einen Bericht über das Jahr 2015. Die Bilanz des Schreckens: 465 Todesfälle durch Polizeigewalt, davon 137 in Polizeigewahrsam oder Gefängnissen, 640 Fälle individueller und 36 Fälle kollektiver Folter, medizinische Vernachlässigung von Gefangenen in 356 Fällen, 464 Fälle von „staatlichem Verschwindenlassen“ – vielleicht eine der schlimmsten Formen staatlicher Gewalt, weil sie auch die Angehörigen mit der Ungewissheit über das Schicksal ihrer Verwandten und Freunde dauerhaft quält. Es war eine Anklageschrift mit nur einer Schlussfolgerung: Wo die Polizei ist, gibt es die Möglichkeit der Folter, in Polizeistationen, den Gefängnissen, an der Universität und U-Bahnstationen, vor allem aber in den unzugänglichen Zentren der ägyptischen Staatssicherheit.
Das Besondere an dem Bericht ist, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von El Nadeem keine geheimen Informationen aus verborgenen Quellen des Staatsapparates zusammengetragen haben, sondern nur das, was die Medien berichtet hatten. Jeder der Fälle war bereits öffentlich. Das lässt vermuten, dass die wahren Zahlen noch monströser sind. Trotzdem war die Botschaft so brisant, dass sich die Regierung zum Eingreifen entschloss: Mitte Februar 2016 wurde dem Zentrum der Entzug der Arbeitserlaubnis vom Gesundheitsministerium zugestellt, bei dem es als Behandlungs- und Rehabilitationseinrichtung registriert ist. Versuchte das Ministerium zunächst, formale Gründe wie eine Verletzung der Lizenzgrundlagen durch „unzulässige Menschenrechtsarbeit“ vorzubringen, wurde in den folgenden Gesprächen der Leiterinnen mit der Behörde deutlich, dass es sich um eine politische Entscheidung „von höchster Stelle“ handelte: Das Zentrum sollte schließen.
Nadeem gab allerdings nicht klein bei und reichte bei dem „Verwaltungsgericht für dringliche Angelegenheiten“ eine Klage gegen das Ministerium und den Gouverneur der Stadt ein. Auch die Arbeit geht weiter. „Wir werden jeden Tag während der Öffnungszeiten im Zentrum sein und unsere Arbeit tun, bis sie kommen und uns schließen“, sagt Aida Seif al Dawla, Mitgründerin und aktuelle Leiterin des Zentrums. „Solange es Folteropfer gibt, werden wir Mittel und Wege finden, ihnen beizustehen und unsere Berichte zu veröffentlichen. Der einzige Weg, das zu verhindern, ist mit dem Foltern aufzuhören.“ Dabei ist sie sich der Risiken bewusst. Schon wegen geringerer Vergehen müssen Menschenrechtsaktivisten lange Haftstraßen verbüßen.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Behörden versuchen, das Nadeem Center zu schließen. Bereits 2004 wurde den Aktivisten vorgeworfen, nicht nur eine Klinik zu betreiben, sondern auch „illegale“ Menschenrechtsarbeit. Damals wehrten sie sich erfolgreich. Diesmal könnte sich die Staatsgewalt durchsetzen. Denn die Rücksichtslosigkeit gegenüber jeder Form der Kritik hat dramatisch zugenommen: Und solange andere Regierungen – so auch die Bundesregierung – beide Augen zudrücken, gibt es wenig Aussicht auf Änderung. Das zeigt sich auch daran, dass 2015 für die ägyptische Armee das Jahr mit den größten Waffenimporten seit langem war. Für fast 1,5 Mrd. USD lieferten Frankreich und die USA Kampfflugzeuge und sind in Deutschland U-Boote bestellt. Auch Kanada, die Niederlande, Russland und Italien stehen auf der Lieferantenliste. Als „Garant der Stabilität“ wird Präsident Abd al-Fattah as-Sisi wie sein Vorgänger im Amt und im Geiste, Hosni Mubarak, geschätzt. Über die Menschenrechtsverbrechen wird bei Staatsbesuchen geschwiegen.
Das Nadeem Center aber wird nicht schweigen, alle Mitarbeiter wollen weitermachen. In einer öffentlichen Erklärung werfen sie dem Gesundheitsministerium vor, sich zum Büttel des Innenministeriums zu machen, das die Reste einer kritischen Zivilgesellschaft verfolgt: „Unser Arbeitsverbot ist unzweifelhaft ein weiterer Schritt in der fortwährenden Unterdrückung von Menschenrechtsverteidigern in Ägypten.“ Die Psychiatrie-Professorin Magda Aly, ebenfalls Gründerin des Zentrums, sagt es so: „Unser Engagement gegen Folter in all ihren Formen wird weitergehen. Ideen brauchen keine Lizenz.“
Andreas Wulf
An der Frage der Menschenrechte bemisst sich der Gehalt jeder Demokratie. Solange ägyptische Sicherheitskräfte dazu da sind, das Regime zu schützen und nicht die Bürger, solange braucht es unerschrockene Partner wie das Nadeem Center in Kairo. Seit 2013 unterstützt medico diese mutige Arbeit. Spendenstichwort: Ägypten
Dieser Artikel erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2016. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!