Rana Plaza: Ein Jahr danach

Betroffene warten weiter auf Entschädigung

08.04.2014   Lesezeit: 5 min

Nach der Katastrophe in der Textilfabrik in Bangladesch spielen die verantwortlichen Modeunternehmen auf Zeit. (Artikel aus dem Rundschreiben 1/2014)

Zu Beginn des Jahres erhöhte sich die Opferzahl der Rana-Plaza-Tragödie um einen weiteren Menschen. Anders als über 1.100 ihrer Kolleginnen und Kollegen hatte die 27-jährige Näherin Salma den Zusammenbruch der Textilfabrik am 24. April 2013 überlebt. Im Gegensatz zu über 1.500 anderen trug sie keine bleibenden körperlichen Schäden davon. Doch war ihr Weltvertrauen aufgezehrt: Sie hatte, wie man so sagt, den Boden unter den Füßen verloren, fürchtete fortwährend, dass der sie umgebende Raum zusammenstürzen würde. Ihr Mann Babu, ein Rikschafahrer, erzählte Aktivisten des medico-Partners RISE, dass sich Salma Tag für Tag mit Schuhen oder einem großen Holzlöffel auf den Kopf schlug, unaufhörlich schluchzend, manchmal laut aufschreiend. In der Nacht zum 31. Januar 2014 setzte sie dem Schrecken ein Ende und erhängte sich.

Unzureichende Entschädigung

Das Schicksal der Näherin erinnert auf drastische Weise daran, dass den Opfern des Unglücks weder Anerkennung noch die benötigte Unterstützung gewährt wurde. Es fehlt an materieller, an medizinischer, an psychosozialer Hilfe. Auch die Verhandlungen um die Entschädigung der Opfer der drei großen Industriekatastrophen der letzten zwei Jahre stehen noch immer am Anfang. Zwar haben die Überlebenden der Brände bei Ali Enterprises (Karatschi/Pakistan) und Tazreen Fashion (Ashulia/Bangladesch) sowie des Zusammenbruchs des Rana-Plaza-Gebäudes (Savar/Bangladesch) von verschiedenen Seiten Zahlungen erhalten. Doch die Summen reichen für nichts und niemanden aus. Der deutsche Discounter KiK trägt in allen drei Fällen Mitverantwortung, ist aber nur in Karatschi verhandlungswillig, weil er dort der einzige Auftraggeber war. Wie fast alle anderen internationalen Unternehmen spielt auch KiK auf Zeit – und könnte damit durchkommen.

Tatsächlich haben die Vertreter der Opfer wenig Einfluss auf die Gespräche. Pakistans und Bangladeschs Zugänge zum Weltmarkt hängen an der Textilindustrie, was die Regierungen beider Länder und ihre Unternehmerverbände wissen. Um die gnadenlose Abhängigkeit von Aufträgen aus den USA, der EU und damit auch Deutschland wissen aber auch die Arbeiterinnen und Arbeiter: die hart umkämpfte Chance, einen neuen Job zu bekommen, ist ihnen allemal überlebenswichtiger als der wenig aussichtsreiche Kampf um Gerechtigkeit. Deshalb wird dieser Kampf an ihrer statt von wenig mitgliederstarken Gewerkschaften und ein paar NGOs geführt: in Pakistan von den medico-Partnern NTUF und PILER, einer Gewerkschaftsförderation und einer Arbeitsrechts-NGO, in Bangladesch von einer Allianz von Gewerkschaften, deren stärkste Kraft der medico-Partner NGWF ist. Unterstützt werden sie außerdem vom internationalen Gewerkschaftsdachverband IndustriALL und von der Clean Clothes Campaign. Ausreichend ist das bei weitem nicht. Der Organisierungsgrad im Textilsektor Pakistans und Bangladeschs liegt bei nur einem Prozent.

Wie sollen lokale Gewerkschaftsführer die amerikanischen oder europäischen Konzerndirektoren zu Zahlungen zwingen, die über das hinausgehen, was diese ohnehin einkalkuliert haben? Wie sollen sie ihre „Verhandlungspartner“ dazu bringen, die Entschädigungszahlungen in Anerkennung ihrer Verantwortung und nicht als freiwillige Gabe zu erbringen?

Rechtliche Fortschritte in Bangladesch?

Man könnte auf den „Bangladesh Accord“ verweisen, dem mittlerweile 150 internationale Unternehmen beigetreten sind. Diesem zufolge soll alles besser werden in Sachen Brandschutz und Gebäudesicherheit, und wo dies nicht geschieht, haben die Arbeiterinnen und Arbeiter jetzt das Recht, die Arbeit zu verweigern. So steht es geschrieben, so wurde es unterzeichnet. Während des ganzen Jahres 2014 wird es Inspektionen geben, in immerhin 2.000 der geschätzt 6.000 Textilfabriken Bangladeschs. Man wird Untersuchungsausschüsse bilden und Arbeiter schulen, an ihnen teilzunehmen. Ihre Einsprüche werden rechtsverbindlich sein, beanstandete Mängel sollen umgehend beseitigt werden. Die Fabrikbesitzer werden also Umbauten vornehmen, werden Fluchttreppen und Notausgänge einrichten. Befragt vom medico-Partner RISE geben viele allerdings an, dass Preiserhöhungen, die sie zum Ausgleich für geplante Umbauten einfordern, von den Auftraggebern abgelehnt oder nur zu einem Bruchteil anerkannt wurden. Für nicht wenige Unternehmer bedeutet das schlicht das Aus: Ihnen fehlt das Kapital zum Umbau ihrer Anlagen. In den meisten Fällen wird das zu „Kompromissen“ führen, deren Lasten die Arbeiter tragen werden. Das Recht zur Verweigerung der Arbeit aber – politisch der weitreichendste Artikel des „Accord“ – wird ein bloß papiernes Recht bleiben: Das Risiko, acht Wochen später aus vorgeschobenem Anlass gefeuert zu werden, wird fast niemand eingehen. Sicher: Das Abkommen sieht das so nicht vor.

Doch wer, das ist die entscheidende Frage, wird auf der Umsetzung der getroffenen Vereinbarungen bestehen, wer hat die Kraft, sie durchzusetzen? Wenn nicht die Regierungen, Unternehmerverbände und Gewerkschaften, dann vielleicht die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die den Prozess moderiert? In Europa und den USA hat sie die Schließung der Textilfabriken und den Wegzug des Kapitals nach Südasien nicht verhindern können. Wie gering die Chancen des Widerstand sind, war am 11. März der Frankfurter Rundschau zu entnehmen. Auf zwei Seiten wurde dokumentiert, dass sich die gnadenlosen Jäger des Wettbewerbsvorteils längst in Bewegung gesetzt haben.

Erst nach Kambodscha und Vietnam, dann nach Myanmar. Zugleich boomen Textilfabriken in Afrika: für den Discounthandel in Äthiopien, für gehobene Ansprüche in Tunesien. Für den pakistanischen Gewerkschafter Nasir Mansoor, dessen Organisation den Kampf um die Arbeiterrechte und Entschädigung unterstützt, ist all das kein Grund zur Resignation. „Noch fehlt uns die Kraft zu einer weltweit wirksamen, gegenseitigen Solidarität. Doch solange wir unsere Arbeit tun, wird ihr wenigstens der Platz freigehalten, den sie braucht, um zu wachsen.“ Mit diesen Worten beschloss Nasir seinen Beitrag zur medico- Konferenz Beyond Aid, in einem Forum, das die Möglichkeit erkundete, KiK in Deutschland für das zu verklagen, was der Discounter in Südasien anrichtet. Globale Gleichzeitigkeit: Parallel zur Konferenz in Frankfurt fand in Nepal ein Strategietreffen von Gewerkschaften aus ganz Südasien statt. Auch hier wurde die Möglichkeit einer Klage in Deutschland diskutiert. Für die Näherin Salma, von eigener Hand gestorben im Slum Bamnartek in Dhaka, wird diese Solidarität unwiderruflich zu spät gekommen sein.

Unterstützung für die Opfer von Rana Plaza

medico unterstützt pakistanische und bangladeschische Organisationen im Kampf um Entschädigung. Darunter die erwähnte Organisation RISE, die Ansprüche der Überlebenden und Angehörigen der Opfer dokumentiert sowie den Kontakt zu den Betroffenen hält. Spendenstichwort: Textil


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