Von Usche Merk
Als der erste Bus mit den Delegierten aus der Provinz KwaZulu-Natal nach zehnstündiger Fahrt in Bloemfontein eintrifft, bricht Jubel bei den Gesundheitsarbeiterinnen aus. Singend und tanzend steigen sie aus und schauen das große Auditorium im Tagungszentrum an, in dem am nächsten Tag ein historisches Treffen stattfinden wird: Aus allen neun Provinzen Südafrikas werden je rund zwanzig Vertreterinnen von Community-Health-Worker-Organisationen zum ersten Mal zusammenkommen, sich über ihre Situation austauschen und darüber diskutieren, wie sie ihren Kampf um menschenwürdige Arbeitsbedingungen und eine bessere Gemeindegesundheitsarbeit koordinieren können.
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Was sich so einfach anhört, ist ein riesiger Schritt für die rund 200 Vertreterinnen der 70.000 Community Health Workers (CHW) in Südafrika. Unter schwierigsten Bedingungen sind diese Gemeindegesundheitshelferinnen – neun von zehn sind Frauen – jeden Tag zu Fuß in Townships und informellen Siedlungen zu Hausbesuchen unterwegs. Sie betreuen schwer Kranke, darunter viele Aids- und Tuberkulose-Patienten, bei der Medikamentenversorgung und Pflege, begleiten Schwangere und überwachen die Vorsorge von Kindern. Außerdem kümmern sie sich um Gewaltopfer und sind erste Anlaufstelle, wenn ein Krankenwagen gerufen werden muss. Die oft leidenschaftlich engagierte Fürsorge ist für die Kranken überlebenswichtig, denn im südafrikanischen Gesundheitswesen werden sie kaum mehr wahrgenommen, weil sie zuhause versorgt werden.
Prekär und gefährlich
Gesundheitswesen und Öffentlichkeit erkennen die wertvolle Arbeit gleichwohl nicht an. Die Arbeitsbedingungen sind unwürdig und verachtend. Die meisten werden über Kurzzeitverträge als „Freiwillige“ außerhalb der Mindestlohnbedingungen beschäftigt, ohne Arbeitnehmerrechte. Vom Klinikpersonal, das sie als billiges Fußvolk benutzt, werden sie oft schikaniert. Noch dazu ist die Arbeit höchstgefährlich: Zum einen aufgrund der hohen Gewaltkriminalität in den Gemeinden, in denen die Gesundheitsarbeiterinnen zu Fuß unterwegs sind, zum anderen aufgrund der Infektionsgefahr angesichts mangelnder Ausrüstung mit Schutzkleidung wie Handschuhen und Masken. Hinzu kommt, dass die Arbeitszeiten oft entgrenzt und die Frauen mitunter emotional überfordert werden. Die meisten leben in den Gemeinden, in denen sie arbeiten, und leiden unter denselben Problemen wie ihre Patientenfamilien.
Vor fünf Jahren begann medico mithilfe eines BMZ -Zuschusses ein Netzwerk von fünf Partnerorganisationen zu unterstützen, bei denen Gesundheitsarbeiterinnen eine wichtige Rolle in der praktischen Arbeit spielen, die aber in unterschiedlichen Provinzen und mit unterschiedlichen Ansätzen tätig sind. Nach einer Phase des gegenseitigen Abtastens und Abgrenzens entstand allmählich eine organisch gewachsene Zusammenarbeit, die die unterschiedlichen Stärken und Kompetenzen der einzelnen Organisationen schätzen lernte: Khanya College hat viel Erfahrung mit Organisationsprozessen von sozialen Bewegungen, section27 kann die Lobbyarbeit mit gesundheitspolitischen Entscheidungsträgern, Sinani weiß, wie man gemeindeorientierte Strukturen und Selbstvertrauen im komplizierten politischen Umfeld von KwaZulu-Natal fördert, People’s Health Movement kennt gesundheitspolitische Konzepte zur Integration von Gesundheitsarbeiterinnen und Wellness Foundation verbindet deren psychosoziale Unterstützung mit der Förderung von Selbstorganisationsforen.
Über das Netzwerk der NGOs wurde auch der Austausch der Kolleginnen selbst möglich – zunächst zwischen verschiedenen Regionen, dann auch zwischen benachbarten Provinzen. Eine große Frage war dabei immer – wie legitimiert ist eine Selbstorganisationsstruktur? Wen vertritt sie, in wessen Namen spricht sie? Verschiedene Modelle wurden ausprobiert – in der Provinz Gauteng organisierten sich die Gesundheitsarbeiterinnen als klinikbezogene Komitees, aus dessen Vertreterinnen dann das Gauteng Community Health Worker Forum entstand. Jede Entscheidung brauchte ein Mandat der Klinikkomitees, alle Diskussionen mussten vom Forum an die Komitees zurückkommuniziert werden. In den Provinzen Northern Cape und Eastern Cape bildeten die Frauen regionalbezogene „area comittees“, aus denen heraus Distrikt- und dann Provinzvertreter gewählt wurden.
Im Laufe der Jahre wurden die Stimmen der Gesundheitsarbeiterinnen lauter und ihre Forderungen klarer: Anerkennung ihrer Tätigkeit als Arbeit, einheitliche Arbeitsbedingungen in allen Provinzen und die Beschäftigung als Festangestellte im Gesundheitssystem mit angemessenen Weiterbildungs- und Arbeitsschutzmaßnahmen. In Gauteng gingen sie vors Arbeitsgericht und erreichten, dass sie nicht als Freiwillige, sondern als Angestellte betrachtet werden und dauerhafte Arbeitsverträge haben müssen. Die Umsetzung dieser Gerichtsentscheidung steht allerdings noch aus. In Northern Cape gelang es den CHW, in das Basisgesundheitsprogramm des Ministeriums integriert zu werden und damit mehr Arbeitssicherheit,Anerkennung und Weiterbildung zu erhalten. In anderen Provinzen hingegen wurden sie schon beim kleinsten Versuch, sich zu organisieren, unter Druck gesetzt, manchmal wurden sie auch von politischen Parteien instrumentalisiert.
Nachdem die Gewerkschaften die Frauen über Jahre ignoriert hatten, wurden sie durch deren wachsende Kämpfe allmählich aufmerksam. Einige reagierten mit Mitgliederwerbung, um Beträge zu kassieren, andere begannen tatsächlich die Arbeitsbedingungen der Gesundheitsarbeiterinnen in Tarifgesprächen zu thematisieren, allerdings ohne vorige Absprachen mit den Selbstorganisationsstrukturen der Frauen. Immerhin entstand daraus eine erste Vereinbarung mit der Regierung, die Arbeitsbedingungen zu vereinheitlichen und das Entgelt zu erhöhen. Doch ihr Status als prekäre Kräfte mit befristeten Verträgen und die Anerkennung ihrer Arbeit für das Gesundheitswesen änderten sich nicht.
Vor diesem Hintergrund beschlossen die CHW-Organisationen, sich endlich auf einem großen nationalen Gipfel mit Vertreterinnen aus allen Provinzen auszutauschen. Um eine gemeinsame Strategie zu entwickeln und sich weder auseinanderdividieren noch manipulieren zu lassen, wollten sie einen Überblick ge winnen, wie die Situation in den verschiedenen Regionen ist, wie sich die staatlichen Gesundheitsstrukturen verhalten und wie die Gewerkschaften.
Eine gemeinsame Stimme finden
Nach und nach treffen Busse aus allen Landesteilen ein. Im großen Auditorium versammeln sich über 200 Gesundheitsarbeiterinnen. Aufgeregt berichten sie aus jeder einzelnen Provinz – über ihre Arbeitssituation und die Selbstorganisationsstrukturen, welche Auseinandersetzungen und Kämpfe sie führen, welche Erfolge sie erzielt haben und welchen Problemen und Herausforderungen sie gegenüberstehen. Immer wieder stehen einzelne auf, rufen „Amandla“, den legendären Gruß aus der Antiapartheidbewegung, recken die Fäuste und singen kämpferische Lieder, in denen sie ihre Forderungen vortragen. Manche tanzen zwischen den Reihen. Begeisterung, Stolz, Kraft, aber auch Wut und Schmerz – Gefühle vieler Art verdichten sich zu unglaublicher Stimmung. Als ob sie alle ausgebildete Rednerinnen wären, ergreifen die Frauen das Mikrofon und sprechen leidenschaftlich über ihre Situation und ihre Forderungen – alte und junge Frauen, denen man das harte Leben ansieht, die Armut, Gewalt und Demütigungen, denen sie ausgesetzt sind. Jahrelang haben sie geschwiegen. Nun fangen sie an, ihre Stimme zu erheben.
Auch Regierungsvertreter aus allen Provinzen und dem nationalen Gesundheitsministerium waren eingeladen, doch nur eine Provinz hat reagiert. Immerhin kamen zwei Verantwortliche für das Basisgesundheitsprogramm des nationalen Gesundheitsministeriums und stellten sich den kritischen Fragen der Frauen. Im Ergebnis gestanden sie deren enorm wichtige Rolle für die staatliche Gesundheitsversorgung ein und versprachen bessere, einheitliche Bedingungen – verwiesen allerdings zugleich auf die Defizite im Haushalt. Das war der letzte Anstoß für die Gesundheitsarbeiterinnen zu beschließen, dass sie eine nationale Struktur brauchen, in der sie alle repräsentiert sind, um für ihre Forderungen und Rechte zu kämpfen. Als läge eine neue Energie in der Luft: Überall standen und saßen kleine Gruppen und besprachen konzentriert die Lage, was nun zu tun war, wie sie vorgehen wollten, wie sie in Verbindung bleiben können. Noch auf dem Weg zu den Bussen, mit denen sie sich wieder in alle Richtungen zerstreuten, gab es leidenschaftliche Diskussionen, Gespräche und stolze Gesichter. Sie wussten, sie haben Geschichte geschrieben und werden nicht mehr als dieselben zurückfahren.
Fünf Partnerorganisationen, die in einem medico-Projekt über Jahre zusammenarbeiten und die Entstehung einer landesweiten Bewegung unterstützen – das ist auch für medico eine Herausforderung. Denn es geht dabei um nichts weniger als um einen basisdemokratisch legitimierten Organisationsprozess der prekär beschäftigten Gesundheitsarbeiterinnen. Die daraus entstandene Selbstorganisation hat politisches Potential.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2019. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!