Inseln der Vernunft schaffen: Diesem Ziel hat sich die medico-Stiftung bei ihrer Gründung vor 20 Jahren verpflichtet. Seitdem ist ein großes Gemeinschafts-Projekt entstanden, das von mehr als 140 Stifter:innen getragen wird. Die Stiftung unterstützt die Arbeit von medico in aller Welt und sichert ihre Unabhängigkeit ab. Immer wieder schafft sie dabei auch Räume des Nachdenkens und der Debatte, so auch anlässlich ihres 20-jährigen Jubiläums: Im September erkundete das Stiftungssymposium angesichts der, so einer der Redner, „monströsen Normalität der Gegenwart“ Visionen einer anderen Globalität. Wie gut der Austausch mit Gleichgesinnten gerade in Zeiten wie diesen tut, war in jedem Vortrag, jeder Diskussion und jedem Pausengespräch spürbar.
Bei der Veranstaltung im – von der Stiftung finanzierten – medico-Haus stand zunächst „das Meer der kapitalistischen Unvernunft“ im Fokus. Die Kosten der imperialen Lebensweise des globalen Nordens würden weiterhin vor allem dem globalen Süden aufgebürdet, machte Ulrich Brand von der Universität Wien am Beispiel der grünen Energie klar. Windräder, E-Autos und Solaranlagen benötigen Kupfer, Lithium und seltene Erden, deren Förderung massive Umweltschäden verursacht und oft mit Menschenrechtsverletzungen einhergeht. Zur Verteidigung dieses Systems werden Scheinlösungen angeboten – je nach Kontext entweder in Gestalt von grünen Wachstumsversprechen oder einer Renationalisierung. „Katastrophenmanagement“ nannte die Journalistin Katrin Hartmann diese Symptombekämpfung.
Auf und mit dem Symposium wurde auch Thomas Gebauer verabschiedet. In rund 40 Jahren hat er medico international nicht nur als Geschäftsführer des Vereins maßgeblich geprägt, sondern auch die Gründung und Entwicklung der Stiftung mit erdacht und ermöglicht. Auf der von ihm inhaltlich konzipierten Veranstaltung verwies er auf einen zentralen Punkt: „Die Lebenswelten der Menschen, so unterschiedlich sie sein mögen, sind mittlerweile so vielfältig miteinander verschränkt, dass Krisenbewältigung nicht im nationalen Rahmen gelingen kann.“ Die Vorstellung, sich auf abgeschottete kleine Wohlstandsinseln zurückziehen zu können, führe geradewegs in den Abgrund. Dass die Menschen unterschiedlich nah am Abgrund stehen, machte die Philosophin Eva von Redeker deutlich: Kriege wie die in Gaza oder im Sudan stellten unbewohnbare Todeszonen her. Planetarisch betrachtet betrifft dies die Länder, in denen die Menschen bedingt durch die Klimakrise langfristig keine Überlebensmöglichkeiten haben.
Wo können in all dem überhaupt noch Visionen für eine andere Gesellschaftsordnung entstehen? Für eine grundsätzliche Neubetrachtung des Migrationsdiskurses sprach sich Manuela Bojadžijev von der Humboldt-Universität Berlin aus. Ihr zufolge müsse Migration als neue Möglichkeit, ein anderes Leben denkbar zu machen, betrachtet und entsprechend verteidigt werden: „Migration, das ist keine Minderheit, das ist Gesellschaft, das sind wir alle.“ Auch feministische Kämpfe geben Anlass zur Hoffnung und sind zudem vor rechten Vereinnahmungen besser gefeit als andere, betonte Uta Ruppert von der Universität Frankfurt. Das emanzipatorische Potenzial speist sich daraus, dass Feministinnen sich oft aus dem Alltag heraus und als Teil zum Beispiel von Klimakämpfen organisieren.
Eine internationalistische Strategie empfahl Jan van Aken, mittlerweile neuer Bundesvorsitzender der Linkspartei, den linken Bewegungen. Am Beispiel der Ausbeutungsstrukturen im globalen Kakaohandel forderte er: „Wir müssen unsere Konflikte mit den Milkas der Welt eskalieren.“ Augenzwinkernd verwies er auf den marxistischen Gehalt des Alten Testaments, in dem dieser Zusammenhang bereits genannt werde. So heißt es bei Jesaja 32,17: „Und der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein, und der Ertrag der Gerechtigkeit wird Ruhe und Sicherheit sein auf ewig.“ Die verbindenden Kämpfe für Befreiung kommen immer von unten, resümierte Thomas Gebauer die Debatten. Das brauche Räume, Denkräume und physische Räume. Die Stiftung medico wird auch in Zukunft dazu beitragen, Inseln der Vernunft an vielen Orten der Welt zu erhalten und neue mitzugestalten.
Anne Jung
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!