Salud Mental

Auf den Spuren Marie Langers

01.04.2000   Lesezeit: 7 min

Eine empfindsame Reise nach Mittelamerika

»Nicaragua liegt mir sehr am Herzen, es liegt uns allen in Lateinamerika, in der Dritten Weit im Herzen. Denn das »Verbrechen«, um dessentwillen Ronald Reagan das kleine Nicaragua so hartnäckig verfolgt, besteht in dem bisher erfolgreichen Versuch, aus dem Neokolonialismus auszubrechen und in Freiheit über die eigenen Rohstoffe und Kapazitäten zu verfügen. Die Menschen in Nicaragua maßen sich an, ›Herren ihrer eigenen Geschichte und Architekten ihrer Befreiung zu sein‹, wie es in der sandinistischen Hymne heißt. Wenn es ihnen gelingt, auf diesem Vorhaben zu bestehen und es fortzusetzen, werden sie Reagan zufolge ein gefährliches Beispiel für unseren ganzen Kontinent abgeben.« Das schreibt Marie Langer im Juli 1985, zwei Jahre vor ihrem Tod und 5 Jahre bevor die Nicaraguaner mit der Abwahl der Sandinisten dem revolutionären Experiment aber auch dem Contra-Krieg und den ökonomischen Erpressungen aus den USA ein Ende setzten. Marie Langer, die in Wien geborene Psychoanalytikerin, die als Kommunistin und Jüdin vor den Nazis nach Argentinien floh und vor der Diktatur in Argentinien nach Mexiko, war die Leiterin einer Ausbildungsgruppe von Psychoanalytikern, die nach der Revolution in Nicaragua arbeiteten. Zusammen mit nicaraguanischen Ärzten, Psychologen und Gesundheitsarbeitern reformierten sie die nicaraguanische Psychiatrie und integrierten ein Verständnis von psychischer Gesundheit und Krankheit in die Basisgesundheitsversorgung, das gemeindebezogen und kollektiv sein sollte, ohne die Bedeutung und den Respekt vor individuellen biographischen Erfahrungen zu negieren. Nicaragua lernte von ihnen und sie lernten von Nicaragua.

Auf unserer Reise wollten wir wissen, welche Spuren dieser Arbeit in Mittelamerika noch zu finden sind, wie die ehemaligen Protagonisten ihr Tun heute, mit einem Abstand von 10 Jahren einschätzen. Ob denn in Nicaragua noch ein Bewußtsein dieses Prozesses, dieser Erfahrungen da ist, die zum Beispiel für die Verarbeitung der Hurrikan-Katastrophe genutzt werden könnten? Unsere erste Station ist Mexiko: das ehemalige »Equipo Internationalista Marie Langer«. Dort treffen wir Leticia Cufre und ihr Team. – Wie seht Ihr Eure Arbeit in Nicaragua aus der heutigen Sicht? Was macht ihr jetzt? »Wir haben damals mit einer Regierung zusammengearbeitet, im Rahmen eines Gesundheitssystems, das uns unterstützt hat, das Reformen wollte und das es jetzt nicht mehr gibt. Weil wir in diesem gesamtgesellschaftlichen Rahmen gearbeitet haben, hatten wir Zugang zu allen Schichten und allen Institutionen. Das war sehr gut und sehr wichtig. Heute findet die Arbeit in einem ganz anderen Kontext statt und das verändert das Konzept.« Wie würdet Ihr zum Beispiel ein Konzept entwickeln in einer Situation wie nach dem Hurrikan Mitch in Nicaragua? »Das Subjekt der Salud Mental ist die Gemeinde. Wenn man das soziale Umfeld negiert und nicht miteinbezieht, verhindert man psychologische Arbeit. Salud Mental Comunitaria ist nicht ein Massentherapieprogramm, so wie manche dieser psychosozialen Katastrophenprogramme, sondern es geht vor allem darum, soziale Unterstützungsnetze zu stabilisieren und Solidarität zu stärken. In einem zweiten Schritt muß vermieden werden, daß Verelendung chronisch wird, daß Menschen nicht völlig passiv werden. In Gruppen muß das Thema Passivität/Aktivität aufgegriffen werden, Leute sollen wieder Protagonisten ihrer Entscheidungen werden. Erst ganz zuletzt, wenn Menschen von diesen Strukturen nicht mehr aufgefangen werden können, kann es sinnvoll sein, sie im engeren Sinne therapeutisch zu behandeln. Auch auf der ersten Ebene kann man über Trauma reden, aber nicht als therapeutische Gruppe. Es ist wichtig, sich ganz klar darüber zu sein, daß es keine mechanische Übersetzung von sozialer Gewalt in psychisches Trauma gibt. Und Salud Mental ist keine Methode, die das Trauma wie Seife abwäscht.« Genau darüber haben wir bei medico einen Reader namens »Schnelle Eingreiftruppe Seele« erstellt. Leider überholt die Realität unseren Zynismus oft noch, wenn man zum Beispiel an den ›posttraumatischen Zirkus‹ nach dem Mitch denkt. »Ja, viele dieser Aktionen sind inhaltlich völlig entleert. Das sind zweierlei Sachen. Freud sagt, damit sich bei einer sozialen Katastrophe etwas ›einschreibt‹, muß es schon eine Spur in der Psyche geben, die diese ›Einschreibung‹ erlaubt. Unsere Hypothese ist, daß in unseren Ländern der dritten Weit und jetzt auch des Neoliberalismus die Gewalt in der Struktur des Systems liegt. Wenn dann die Katastrophe kommt, schreibt sie sich über diese Spuren ein. Die schnelle psychosoziale Arbeit behandelt nur die zweite Spur und negiert die erste.« Geht es also im Nachhinein mehr um eine politische Evaluierung? Welche Rolle hat eine Person wie Marie Langer gespielt? Welche Spuren hat diese Arbeit hinterlassen? »Um konkret auf eure Frage zu antworten: es hätte das Equipo nicht so gegeben, wenn das sandinistische Nicaragua nicht existiert hätte – aber Achtung, es hätte sicher nicht existiert, wenn Argentinien nicht existiert hätte, oder was in Mexiko passierte, das dazu führte, daß wir uns treffen konnten, mit einem Ziel: Nicaragua. Ich glaube die Person Mimi (Marie Langer) war sehr wichtig. Ihre Bedeutung hatte mit der Fortbildung der Gruppe in Mexiko zu tun. Damals machten wir eine Entdeckung: die Kapazität des politischen Systems, alles zu absorbieren und die spezielle Rolle, die in dieser Situation die NGOs spielen. Ich glaube die Funktion der NGOs waren in einem bestimmten Moment entscheidend progressiv, emanzipatorisch, die Italiener, wir, medico, Brot für die Welt, Redda Barnen, etc. In dieser Zeit haben wir von den Alternativen gesprochen. Danach gab es eine sehr intelligente Art, wie das formale System – das Gesundheitssystem sowie das politische System – die Alternativen technisch absorbiert hat, unter der Bedingung, daß sie ideologisch entleert wurden. Sie sagen uns heute, wir sollen Nicaragua vergessen. Wir sind als gute Professionelle sehr gefragt, sie engagieren uns gern, wenn wir versprechen uns politisch gut zu betragen. Das passiert mit den ›Alternativen‹ in der Salud Mental Arbeit. All die emanzipatorischen Ansätze: sie wurden in der traditionellen Form absorbiert, weil sie von ihrer politischen Seite ›gereinigt‹ wurden. Darum denken wir in diesem Moment, daß es nicht nur um die Alternativen geht, sondern um Vorschläge gegen die Hegemonie – man muß fähig sein, die hegemoniale Ideologie von psychosozialer Arbeit vom professionellen Standort heraus zu diskutieren. Fast überall hat man die emanzipatorischen Bewegungen, wenn man sie nicht zerstörte, ›entleert‹. Die Friedensverhandlungen stimulierten Morde der Anführer, die Bewegungen wurden inhaltlich ausgetrocknet, Korruption, es gab alle möglichen Methoden, um sich unserer zu entledigen nach Nicaragua, El Salvador, Chiapas. Aber es bleibt die Möglichkeit, in speziellen Arbeitsgebieten die politischen Ideen mit den professionellen Aspekten zusammenzubringen, in professionellen Projekten, an verschiedenen Orten, weil der Neoliberalismus leider viel mehr homogenisierend wirkt. Das haben wir mit dem Workshop in Mosambik gesehen, wir haben uns schnell mit den Afrikanern verstanden, abgesehen von der großen kulturellen Verschiedenheit, diese Sache des Neoliberalismus, die Gewalt des Systems.« Kann man also Konzepte übertragen? »Ja, man kann sie anpassen, da sind die kulturellen Unterschiede, die gibt es innerhalb Lateinamerikas und Afrikas. Aber was wir gesagt haben und ich glaube, was mit der Globalisierung passiert, ist, daß der Nationalstaat zerbrochen ist und damit auch dessen Idee und Kultur.« Jorgen ergänzt: »Salud Mental Arbeit, wenn sie ›erfolgreich‹ ist, gerät immer in Konflikt mit dem herrschenden System. Irgendwann wird sie zerstört. Wenn zum Beispiel die Gruppenarbeit gut ist, wenn die Gruppen und Gemeindeorganisationen stark werden. In Guatemala mußte die Salud Mental Arbeit 15 Jahre klandestin arbeiten. Aber es hat sie gegeben.« Zum Schluß reden wir über ihre jetzige Arbeit. In vielen Ländern werden sie um Fortbildung gebeten, machen Kurse, Seminare. Die Erfahrung in Mosambik hat sie zuletzt dazu bewogen zu überlegen, ob sie ein systematisches Fortbildungsprogramm entwickeln können, das als eine Art Fernstudium betrieben werden kann. Als Angebot für Personal aus sozialen und medizinischen Berufen, aber auch für Praktiker, die mindestens 3 Jahre Erfahrung in der Gemeindearbeit haben. Inzwischen haben sie ein dickes Curriculum entwickelt, das aus verschiedenen Bausteinen besteht: 2-wöchige Seminare, Gruppenarbeit unter den Lernenden, Selbststudium von Lehrmaterial, Handbüchern, Lehrfilmen, Beratung und fachlichen Austausch mit den Ausbildern. Jetzt suchen sie einen Träger der Ausbildung, der Abschluß und finanzielle Unterstützung bieten kann. Und fragen, ob wir ihnen bei der Suche behilflich sein können. »Wir sind nämlich nicht gut im ›Verkaufen‹ unserer Konzepte«.

Usche Merk

Unsere Salud mental Arbeit in Mittelamerika und im südlichen Afrika möchte medico gerne fortsetzen. Die in diesem Heft vorgestellte Internationale Tagung unterstreicht die Vitalität der Sache. Unterstützen Sie uns bitte dabei unter dem Stichwort: »Salud mental«.


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