15 Jahre lang durchlebten die kurdischen Anfal-Witwen einen andauernden Ausnahmezustand. Ein Bericht über ihre Narrative und einen Neubeginn. Von Karin Mlodoch.
Ich möchte über die enge Wechselwirkung zwischen individueller Traumabearbeitung und gesellschaftlicher Aufarbeitung am Beispiel der kurdischen Anfal-Witwen berichten. Unter dem Codewort „Anfal” zerstörte die irakische Armee 1988 Hunderte kurdischer Dörfer. Damals „verschwanden” mehr als einhunderttausend Männer und junge Frauen. Bis heute ist das Schicksal der meisten von ihnen ungewiss. Alte Männer und Frauen mit Kindern wurden über Monate in Gefängnissen im Südirak inhaftiert, viele von ihnen starben dort.
Im Herbst 1988 wurden die Überlebenden amnestiert und in militärisch kontrollierte Umsiedlungslager angesiedelt. Das irakische Regime propagierte dies als Modernisierungsmaßnahme für die rückständige kurdische Landbevölkerung. D.h. die Opfer lebten bis 1991 unter direkter Kontrolle der Täter. Danach wurden in Kurdistan viele zerstörte Dörfer wieder aufgebaut, woran auch medico sehr aktiv beteiligt war. Aber viele Überlebende, insbesondere alleinstehende Frauen mit Kindern, verharrten in den Umsiedlungslagern und leben dort bis heute. In dem Lager, in dem ich arbeite, sind das fast 500 Frauen mit Kindern, die dort seither leben. Alle diese Frauen durchlebten extreme und multiple Gewalterfahrungen. Ihre Erzählungen spiegeln bis heute Schock, Entsetzen, Schuld und Scham. In einem dieser Gefängnisse wurden die Körper der im Sand verscharrten toten Kinder nachts von wilden Hunden ausgegraben: „Unsere Kinder wurden von schwarzen Hunden gefressen” - dieses Bild wurde zur kollektiven Metapher für die während Anfal erlittenen Grausamkeiten.
Leben in Ungewissheit
Nach Anfal lebten die Frauen 15 Jahre lang bis 2003 in Ungewissheit über den Verbleib ihrer Angehörigen, schwankten zwischen Verzweiflung und Hoffnung, erstarrt im Warten und unfähig Neues zu beginnen. Diese für Angehörige von „Verschwundenen” typische permanente Stresssituation wurde durch die politische Instabilität verstärkt - jederzeit konnte sich die Gewalt wiederholen –, durch extreme ökonomische Not in den 1990er Jahren und durch ein patriarchales traditionelles soziales Umfeld, das für alleinstehende Frauen ohne männlichen Versorger keinen Lebensentwurf vorsieht: Sie waren ohne Männer, aber keine Witwen. Sie mussten die Ehre ihrer verschwundenen Männer wahren, genossen aber nicht ihren Schutz. Arbeiteten sie als Tagelöhnerinnen oder Schmugglerinnen wurden sie von ihrem sozialen Umfeld der Prostitution verdächtigt. 15 Jahre durchlebten sie diesen fortdauernden Ausnahmezustand. Unterstützung seitens der kurdischen Parteien und Organisationen gab es nicht. Und wir, Hilfsorganisationen wie medico, waren ausgerichtet auf die „Hardware“: Lebensmittel, Infrastruktur und so weiter. Auch in unseren Ansätzen vor 20 Jahren war die psychosoziale Traumaarbeit noch keine Komponente.
Aber die Frauen haben überlebt. Sie haben ihre Kinder ohne männliche und gesellschaftliche Unterstützung groß gezogen. Ihre wichtigste Ressource waren ihr geteiltes Leid und ihre kollektiven Strukturen. Sie hatten starke informelle Netzwerke und haben sich gegenseitig vor sozialem Druck geschützt. Und sie haben im ständigen Austausch miteinander ein kollektives und auch protektives Anfal-Narrativ entwickelt, das ihnen half, sich gemeinsam mit ihrem Schmerz zu konfrontieren, ohne sich individuell mit den traumatischen Erfahrungen zu beschäftigen.
Mit dem Sturz des Baath-Regimes änderte sich ihre Situation radikal. Endlich gab es physische Sicherheit vor dem Aggressor. Die Hauptverantwortlichen für die Massaker wurden verurteilt und hingerichtet. Die Hoffnung auf die Rückkehr der Verschwundenen flammte erneut auf, aber mit 300 im Irak gefundenen Massengräbern wurde auch gewiss, dass sie ermordet wurden. Bis heute wurde nur ein Bruchteil der Gräber geöffnet und viele Frauen sind ohne Nachricht über das Schicksal ihrer Angehörigen. Sie verlangen von der irakischen Regierung eine schnellere Öffnung der Massengräber; es ist dies die wichtigste Forderung, die sie haben.
Neue soziale Rollen
Nach 2003 hat sich die konkrete Lebenssituation der Frauen erheblich verbessert. Anfal-Überlebende erhielten Land und Häuser von der kurdischen Regierung, die Pensionen wurden erhöht. Kurdistan erlebt eine Phase ökonomischen Aufschwungs. Die inzwischen erwachsen gewordenen Kinder der Anfal-Frauen gründen eigene Familien und haben selbst Kinder. Sie geben ihren Müttern neue soziale Rollen als Großmütter, als Schwiegermütter und ein lebendiges familiäres Umfeld. So rekonstruieren Anfal-Frauen heute ihre soziale Realität. Das Ende des Wartens und die ökonomische und soziale Stabilisierung haben eine unglaubliche Wirkung auf die psychische Situation der Frauen, ihre Erinnerungen und ihre Perspektiven auf die Anfal-Erfahrung. Selbst für mich, die ich einen kontextualisierten Trauma-Begriff vertrete, war sehr überraschend, wie stark die gesellschaftlichen Veränderungen die Frauen befähigt haben, sich endlich mit sich selbst zu beschäftigen und wie sie ihre Narrative und Erinnerung beeinflusst haben.
Zwar bestimmen die traumatischen Erinnerungen noch immer die Erzählung der Frauen. Viele von ihnen leiden unter starken psychosomatischen Symptomen und würden sicherlich mit jeder PTSD-Diagnose belegt werden. Allerdings definieren sie diese Symptome nie als traumatisch. Für sie sind das normale Reaktionen auf das Erlebte. Wie soll man keine Alpträume haben, wenn man drei Kinder in den eigenen Armen hat sterben sehen?
Aber während sie jahrelang wie eingeschlossen waren, sind ihre Erfahrungen nun wie eine Folie, von der aus sie ihren Bezug zu einer neuen Realität herstellen. Der Schwerpunkt verschiebt sich von den Verschwundenen auf die eigene Situation, von den Opfern auf die Überlebenden. Sie besinnen sich auf ihre Stärken, ihren Überlebensstolz, ihren Stolz darauf, ihre Kinder groß gezogen zu haben und auf ihren Beitrag zum kurdischen Widerstand. Sie drücken ihre Wut über die jahrelange Vernachlässigung durch die kurdischen Parteien aus und artikulieren heute ganz klar ihre Forderungen nach Gewissheit, Gerechtigkeit, Entschädigung, aber vor allem auch: der politischen und sozialen Anerkennung ihrer Erfahrung.
Karin Mlodoch ist Psychologin und arbeitet seit vielen Jahren als Vertreterin von Haukari e.V. unter anderem mit den Anfal-Witwen.
Projektstichwort
Seit über 20 Jahren beschäftigt sich medico mit der Frage, wie eine psychosoziale Unterstützung aussehen kann, die individuelles Leid in den Blick nimmt und den politischen, sozialen und kulturellen Kontext nicht vernachlässigt. In Zeiten struktureller Entmächtigung des Individuums ist das ein schwieriges Unterfangen. 2011 hat medico fast 30 Projekte im Rahmen der psychosozialen Arbeit unterstützt, darunter auch die Arbeit von Haukari im kurdischen Teil Iraks, die sich vor allen Dingen mit Gewalt gegen Frauen beschäftigt. Das Spendenstichwort lautet: Salud Mental/Psychosoziales.