Brasilien vor der Wahl

Schmutzige Hände

02.10.2018   Lesezeit: 14 min

Am Sonntag wird in Brasilien gewählt. Was ist zu erwarten und wie steht es um die Gesundheitsbewegung im Land? Ein Interview mit der Gesundheitsredakteurin Maíra Mathias.

medico: Es war einer der größten Erfolge der brasilianischen Demokratiebewegung, dass 1988 eine steuerfinanzierte öffentliche Gesundheitsversorgung mit freiem Zugang für die gesamte Bevölkerung in die Verfassung aufgenommen wurde. Wie steht es am Ende von zwei Jahren Regierung Michel Temer um das Recht auf Gesundheit?

Maíra Mathias: Schon vor der Zulassung des Amtsenthebungsverfahrens gegen Dilma Rousseff durch den Senat ließ die Interimsregierung unter Michel Temer erkennen, dass sie für große Rückschritte im staatlichen Gesundheitssystem SUS stehen würde. Zum Gesundheitsminister wurde ein Politiker der sogenannten Fortschrittspartei (Partido Progressista) ernannt, die ganz oben in den Korruptionsermittlungen der Operation „Lava Jato“ auftaucht: Ricardo Barros. Er hatte als Ingenieur keinerlei Vorkenntnisse im Gesundheitsbereich, aber ein Unternehmer aus dem Bereich der privaten Krankenversicherungen war 2014 der größte Einzelfinancier seines Wahlkampfs gewesen. Gleich nach Amtsübernahme erklärte Barros, dass das Land wirtschaftlich nicht auf dem „Entwicklungsstand“ sei, bestimmte Rechte wie das auf Gesundheitsversorgung staatlich zu garantieren: „Ab einem bestimmten Punkt werden wir neu verhandeln müssen, wie Griechenland.“
 

Barros vermittelte ein Treffen der privaten Krankenversicherer mit Michel Temer – nie zuvor seit der Re-Demokratisierung Brasiliens hat sich ein Präsident so offen mit diesen Unternehmen zusammengesetzt. Die Regierung arbeitet ganz offen im Sinne des Marktes.

Michel Temer wurde nach der Amtsenthebung von Dilma Rousseff eingesetzt, aber nie in Wahlen bestätigt. Im Oktober finden das erste Mal seit 2014 wieder Präsidentschaftswahlen statt. Temer darf nicht antreten, weil er gegen die Wahlgesetze verstoßen hat. Der ursprüngliche Kandidat der Arbeiterpartei (PT), Ex-Präsident Lula, lag in Umfragen immer vorn, wird nach seiner – für viele politisch motivierten – Verurteilung wegen Korruption aber nicht zur Wahl zugelassen. Sein Nachfolger ist der frühere Bürgermeister von São Paulo, Fernando Haddad. Aussichtsreichster Gegenkandidat ist Jair Bolsonaro, ein Rassist, Befürworter von Folter und Todesstrafe sowie ein Verteidiger der Diktatur. Spielt das Thema Gesundheit im Wahlkampf überhaupt eine Rolle?

Lass mich anders anfangen: Wir haben 30,3 Tötungsdelikte auf 100.000 Einwohner_innen, und am meisten von dieser sozialen Tragödie betroffen sind die ärmsten Bevölkerungsschichten, Bewohner_innen der Vorstädte und der Favelas, die schwarze Bevölkerung – also die Mehrheit Brasiliens. Zudem hat das Land eine autoritäre Tradition über die Militärdiktatur von 1964 bis 1985 hinaus, die bis weit in die Alte Republik, die Kolonisierung, die Sklaverei reicht.

Alles, was mit den Morden, mit Gewalt und mit Drogen ganz allgemein zu tun hat, wird also nicht unter aus rationaler Sicht beurteilt und schon gar nicht aus Sicht der Gesundheit. Gebrauch oder Missbrauch von Drogen werden in Brasilien nicht als ein gesundheitspolitisches Problem angesehen, sondern als ein politisches. Es ist ein gutes Beispiel für unsere Blindheit und ein Hinweis auf einige unserer größten Widersprüche. Denn gleichzeitig ist das Gesundheitswesen das, was den Wähler_innen in Brasilien am meisten Sorge bereitet. Es gibt eine ganze Reihe von Umfragen in Wahlkampfzeiten, denen zufolge die Gesundheitsversorgung an erster Stelle dessen steht, was die Menschen beschäftigt. Und wie reagieren die Präsidentschaftskandidat_innen im Wahlkampf darauf? Die Vorschläge in den Wahlprogrammen bleiben allesamt vage. Die Diagnosen genauso. Wir sehen einen bedeutenden Einfluss der Think Tanks der Privatwirtschaft und der Weltbank, deren Zahlen und „Lösungen“ von vielen Kandidaten der politischen Rechten übernommen werden.

Was ist nach den Wahlen zu erwarten?

Brasilien ist schon länger ein Land, in dem alles vorstellbar ist. Bis jetzt gibt es vier mögliche Szenarien. Das erste und wohl unwahrscheinlichste ist ein Sieg von Geraldo Alckmin von der PSDB. Er liegt selbst in dem Bundesstaat, in dem er vier Amtsperioden lang regierte, hinter Bolsonaro und kann sich in einem politischen Klima, in dem sich die Polarisierung vom traditionellen „PT gegen PSDB“ zu „PT gegen Anti-PT“ verschoben hat, nicht profilieren.

Das zweite, weniger unwahrscheinliche Szenario ist ein Sieg aus dem sogenannten Mitte-Links-Spektrum. Wir beobachten jetzt schon, wie Marina Silva (REDE) in den jüngsten Umfragen verliert und Ciro Gomes (PDT) dagegen an Fahrt gewinnt. Es ist noch zu früh, etwas darüber zu sagen, denn beide konkurrieren um Stimmen, die sich vorher auf den in Umfragen führenden Lula vereinten.

Das führt uns zum dritten Szenario, in dem die Übertragung von Stimmen von Lula zum neuen Kandidaten der Arbeiterpartei, Fernando Haddad, tatsächlich gelingt und er gewählt wird. In diesem Fall – addiert man die Anti-PT-Stimmung in einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung noch zu dem selektiven Handeln der brasilianischen Justiz gegenüber der PT – ist die Befürchtung nicht abwegig, dass es nach den Wahlen zu einer neuen politischen Schlacht kommt. Der Kommandant der Streitkräfte sagte kürzlich in einem Interview, dass man die Wahlen auch anfechten könne. Wenn das tatsächlich auf Initiative der Streitkräfte hin geschieht, haben wir ein noch viel größeres Problem.

Das vierte Szenario wäre, dass Jair Bolsonaro gewählt wird, der in den Umfragen führt seit Lula nicht mehr im Rennen ist. Dass er in die Stichwahl kommt, stand bereits vor dem Attentat so gut wie fest, das Anfang September auf ihn verübt wurde. Ein Mann, der später aussagte, auf „Geheiß Gottes“ gehandelt zu haben, griff Bolsonaro mit einem Messer an und verletzte ihn schwer. Man fürchtete, diese Opferrolle könne zu einem Anstieg Bolsonaros in der Gunst der Wähler_innen führen. Doch in den zwei wichtigsten Umfragen nach dem Attentat gewann Bolsonaro nur 2% bzw. 4% hinzu. In den Prognosen für die Stichwahl liegt er je nach Institut hinten oder zumindest gleichauf mit seinem jeweiligen Gegner. Trotzdem kann ihm die Situation noch von Vorteil sein, da er weiter im Krankenhaus liegt und nicht an den weiterhin in Brasilien sehr einflussreichen Fernsehdebatten teilnehmen kann, wo er zuletzt keine gute Figur machte.

Was die Zukunft des staatlichen Gesundheitssystems angeht, denke ich, dass es entscheidend auf eine Wahlniederlage der Rechten – egal ob extrem oder moderat – ankommen wird, denn die Umsetzung des Verfassungszusatzes Nr. 95 von 2016 über das Einfrieren sämtlicher Sozialausgaben bis 2036, eine der radikalsten Austeritätsmaßnahmen, die ein Land je getroffen hat, wird das SUS nicht überleben. Schon jetzt verfällt die Nachhaltigkeit der bestehenden Gesundheitsmaßnahmen rapide.

Die privaten Krankenversicherungen sind auch von den PT-Regierungen subventioniert worden. Welchen Stellenwert hatte das Thema Gesundheit denn für die Regierungen Lula und Dilma?

Sagen wir mal so: Nur fünf Länder auf dem amerikanischen Kontinent geben weniger für Gesundheit aus als Brasilien, nämlich Barbados, Grenada, St. Kitts und Nevis, Haiti und Venezuela. Die Unterfinanzierung ist ein chronisches Problem des SUS. Zwar gab es immer wieder auch Gesundheitsminister_innen, die in der PT-Regierung mit Nachdruck mehr Mittel gefordert haben. Doch in einem Schlüsselmoment 2012 setzte sich die Wirtschaftsfraktion innerhalb der Regierung durch und in einer Demonstration politischer Einigkeit vertrat das Gesundheitsministerium plötzlich, dass es genügen würde, die vorhandenen Mittel nur effizienter zu verwalten. Genau das ist nun auch die Rede der Regierung Temer.

Doch es gab unter den Regierungen der PT auch wichtige Fortschritte. Die Partei veränderte, als sie 2003 an die Macht kam, die Struktur des Gesundheitsministeriums und schuf Raum für Debatten und Maßnahmen, die davor nicht in Gang kamen, wie über die Ausbildung, die partizipative Verwaltung und indigene Gesundheit, um nur einige zu erwähnen. Dank des Wirtschaftswachstums konnte das entsprechende Budget (in absoluten Zahlen) Jahr für Jahr ausgebaut werden. Gesundheit hatte höchste Priorität und heute erreicht der Strategieplan „Gesundheit und Familie“ 67% des ganzen Landes. Die Anti-Rauch-Politik war erfolgreich. Es gab eine Strukturierung der Notfallversorgung. Das Programm gegen HIV-Aids, Markenzeichen der Regierung Fernando Henrique Cardoso, wurde fortgeführt und erfolgreich ausgebaut. Dasselbe gilt für den nationalen Maßnahmenplan zur geistigen Gesundheit, mit Investitionen in den Aufbau eines Netzwerks von Anlaufstellen statt Einweisung in psychiatrische Anstalten, die zwar geringer ausfielen als notwendig, aber immerhin dieser Handlungslinie, der aus dem Medizinapparat immer noch Widerstand entgegengebracht wird, einigen Auftrieb gegeben hat.

Von Anfang an hatte das SUS mit der parallelen Subventionierung eines privaten Gesundheitssystems zu kämpfen. Brasilien ist nach den USA der zweitgrößte Markt der Welt für private Krankenversicherungen. Hat das SUS überhaupt noch Chancen?

Unser Land hat 208 Millionen Einwohner. Davon waren im Juli 47,2 Millionen auf die eine oder andere Weise privat versichert. Gut 162 Millionen Menschen, also ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung, sind ausschließlich auf die staatliche Gesundheitsversorgung angewiesen. Natürlich gibt es Probleme. Es gibt ewige Schlangen, um zum Beispiel bestimmte Untersuchungen, Behandlungen und Termine bei Fachärzten zu bekommen. Würden dies alle erleben, wären die Probleme vielleicht geringer. Doch da es die ärmere Bevölkerung betrifft, tut der Staat nichts dagegen. Im Gegensatz zum britischen National Health Service (NHS) ist es dem brasilianischen einheitlichen Gesundheitssystem nie wirklich gelungen, die Mittelklasse einzubeziehen.

Da Brasilien ein Land der extremen Ungleichheit ist, hat der arme Teil der Bevölkerung wesentlich weniger Macht, Druck auf politischer Ebene auszuüben, als die Minderheit, die eine private Krankenversicherung hat. Es gibt in der Medizin eine sehr große Ausrichtung auf die Eliten, eine Fokussierung auf Privatpraxen und besonders lukrative Fachrichtungen, auf Chirurgie und auf die urbanen Zentren, die die besten Bedingungen für diese Sparten bieten. Gleichzeitig sind aber auch fortschrittliche Bewegungen von Ärzt_innen entstanden, die sich in der medizinischen Erstversorgung im Sinne des SUS engagieren. Außerdem wurde die Spezialisierung auf Familien- und Gemeindemedizin eingeführt, was sehr wichtig war.

Wir sind ein Land von kontinentalen Ausmaßen, und darum ist die Macht auf lokaler Ebene stark. Aus Sicht der herrschenden Klasse ist es sogar ein Vorteil, wenn das SUS nicht so funktioniert, wie es sollte, denn Termine, Untersuchungen und Behandlungen werden gegen Gefälligkeiten vergeben, was die Macht bestimmter Gruppen zementiert. Das ist die klientelistische Logik, die sich nicht auf das Landesinnere beschränkt, sondern auch in den größeren Städten zu beobachten ist.

Doch um auf die Frage zurückzukommen: 162 Millionen Menschen sind ausschließlich auf die Gesundheitsversorgung im Rahmen des SUS angewiesen. Und diese bietet eine Reihe von Leistungen, die ausnahmslos allen Brasilianer_innen zu Gute kommen, etwa Vorsorge und Impfungen. Fast 100% aller Transplantationen werden im Rahmen des SUS durchgeführt und bei einem Verkehrsunfall werden die Opfer mit öffentlichen Rettungswagen in öffentliche Notaufnahmen gebracht. Selbst das Attentat auf Jair Bolsonaro zeigte diesen Widerspruch: Das Leben von Bolsonaro, der für harte Einschnitte beim staatliche Gesundheitssystem eintritt wurde durch eben dieses SUS gerettet. Die Gesundheitsindizes in Brasilien haben sich verbessert, die Ausweitung der medizinischen Erstversorgung ist eine greifbare Realität. Es gibt also viel zu verteidigen. Das SUS ist eine Errungenschaft der Re-Demokratisierung, die nicht preisgegeben werden darf.

Viele Regionen in Brasilien sind noch immer geprägt vom Mangel an Ärzt_innen. Gibt es Ansätze, das zu ändern?

Ärzt_innen sind hierzulande noch immer gut bezahlt. Je mehr es von ihnen gibt, desto mehr Wettbewerb – in der Folge sinkt das Durchschnittseinkommen. Anfang des Jahres hat die Regierung deshalb auf Druck der Ärzt_innenverbände ein Moratorium verfügt: In den kommenden fünf Jahren werden keine neuen Medizin-Studienplätze mehr eingerichtet. Eine extreme Maßnahme, die meiner Meinung nach falsch ist.

Das Programm „Mais Médicos“, mit dem seit inzwischen fünf Jahren kubanische Ärzt_innen vor allem in ländlichen Regionen Brasiliens eingesetzt werden, beinhaltet eine Komponente der Fachkräfteausbildung. Eine der Initiativen der PT-Regierung war es, Medizinstudienplätze vor allem im Landesinneren anzustoßen. Allerdings wurden die meisten neuen Studiengänge von privaten Institutionen eröffnet. Brasilien besitzt mit „Kroton“ das größte Hochschulausbildungsunternehmen weltweit. Ein Markt, der durch öffentliche Mittel über einen unter der Regierung Lula geschaffenen Studienfonds angeheizt wurde. Das Programm hat aber in jedem Falle gezeigt, dass für die ärmsten Bevölkerungsschichten vor allem eine Ärzt_innenausbildung vonnöten ist, die von einer anderen Logik ausgeht, in der das Wichtigste nicht mehr der Markt ist, sondern die Menschen.

Wofür steht der Kampf um Gesundheit in Brasilien noch?

Man muss den Zusammenhang sehen. Das SUS wurde als ein Gesundheitssystem auf breiter Grundlage erdacht. Das heißt: Es nutzt nichts, ein Gesundheitssystem nach der Logik der Krankheit zu denken, die diagnostiziert und behandelt wird, sondern man muss einen Schritt weiter zurückgehen und sehen, was die Bevölkerung krank macht. Oder warum in einem Land wie unserem Wirtschaftswachstum nicht zugleich Wohlstand für alle bedeutet.

Im sogenannten Wirtschaftswunder der Militärdiktatur nahm die Kindersterblichkeit zu, um nur ein Beispiel zu nennen. War es die mangelhafte Wasserversorgung und Kanalisation? Sicherlich. Aber vor allem sind es in einem peripheren Land wie Brasilien die Arbeitsbedingungen. Es ist die Ungleichverteilung des Einkommens, die eine Kluft zwischen den Reicheren und dem Rest der Bevölkerung darstellt. Und das äußert sich klar in den Machtstrukturen: Es gibt eine Überrepräsentanz der Großgrundbesitzer, der so genannten Ruralisten, die im Nationalkongress letztlich die größte Fraktion bilden. Das überträgt sich auf die Exekutive und das Justizsystem auf Bundesebene, aber auch in den einzelnen Bundesstaaten und Landkreisen.

Seit in den 1970er Jahren erstmals über das SUS nachgedacht wurde, war das alles auch Thema in der Gesundheitsbewegung; dass also Brasiliens Gesundheitsprobleme nicht lösbar oder zu lindern sind, wenn man sie nur nach Bereichen angeht und erst recht nicht aus einem ausschließlich auf Krankheit, Krankenhäuser und Ärzt_innen zentrierten Blick. Für die Linke ist also auch Austeritätspolitik ein Thema, die Steuerpolitik Brasiliens, die Konsum und Arbeit weit stärker zu Abgaben zwingt als Kapital. Historisch gesehen ist Demokratie also ein zentrales Thema der Gesundheitsbewegung. Das SUS war als ein zivilisatorisches Projekt der Erweiterung von demokratischen Freiräumen im brasilianischen Staatswesen angelegt.

Gibt es denn noch eine nennenswerte gesundheitspolitische Bewegung, die das so gedachte Recht auf Gesundheit in Brasilien verteidigt?

Im Sommer war der fünfte Jahrestag des Juni 2013, als Millionen Menschen im ganzen Land auf die Straße gegangen sind, um zu protestieren – zunächst mit dem Ziel, die Erhöhung der Fahrpreise zu verhindern, dann für weitere Forderungen. Wir haben für Outra Saúde eine Reportage gemacht, die zeigt, dass in den Meinungsumfragen auch damals eine der Hauptforderungen Gesundheit war. Dieser Ruf nach Qualität in der Gesundheitsversorgung spiegelt sich, wie vorhin gesagt, auch jetzt vor den Wahlen. Gleichzeitig folgt aus dem Verlangen keineswegs automatisch ein tatsächlicher Einsatz der Bevölkerung für das SUS. Es gibt einen Mangel an Klassenbewusstsein und einen Mangel an konzertierter Organisation, was nicht nur für das SUS ein Problem ist, sondern auch für den Erhalt und die Verteidigung anderer Bereiche der Sozialpolitik.

Gibt es noch eine gesundheitspolitische Bewegung? Gewiss. Aber es gibt auch ein Problem, damit aus den Universitäten hinauszukommen. In Situationen der Krise, wie 2017 in Rio de Janeiro, als Mitarbeiter_innen des Gesundheitswesens fast zwei Monate lang kein Gehalt mehr bekamen und die Verwaltung die Schließung von medizinischen Grundversorgungseinrichtungen probte, war ein gemeinsamer Kampf von Arbeiter_innen, SUS-Patient_innen und Aktivist_innen möglich. Es gab Demonstrationen, Streiks, Kundgebungen und Blockaden der wichtigsten Hauptstraßen. Doch das alles hatte natürlich nur einen begrenzten Atem.

In der Reportage über den Juni 2013 haben wir Interviews mit der Selbstorganisation der Arbeitenden ohne Dach, MTST, geführt, die etwas Unglaubliches geschafft haben, nämlich die Ärmsten der Bevölkerung in den urbanen Zentren zu organisieren. Bei der Bewertung der Bewegungen im Gesundheitsbereich muss man feststellen, dass mehr Arbeit an der Basis gebraucht wird. Sich die Hände schmutzig machen, wie man so schön sagt, aus den Hörsälen, Büros und Sprechzimmern nach draußen gehen.

Ein möglicher Weg könnte sein, die Diskussion über das SUS in den bereits bestehenden Massenbewegungen zu verstärken, dem MTST und der Bewegung der Landlosen MST, die sich ebenfalls für den Erhalt des SUS einsetzen und großen Anteil haben an Diskussionen über Gesundheit und Umwelt, wie etwa die Verwendung von Pflanzenschutzgiften. Man muss aber auch fairerweise anerkennen, dass die politische Situation in Brasilien nicht einfach ist und der Fokus das große Problem ist. Es geschehen so viele Dinge gleichzeitig, und das verlangt von allen, die sich für etwas einsetzen, unglaubliche Energie.

Vielen Dank, Maíra!

Das Interview führte Moritz Krawinkel.

Übersetzung: Michael Kegler
 

Das Menschenrecht auf Gesundheit ist in der brasilianischen Verfassung verankert, von der Verwirklichung ist es weit entfernt - auch weil das staatliche Gesundheitssystem SUS immer weiter ausgehöhlt wurde. Das Portal Outra Saúde bereitet Gesundheitsthemen journalistisch auf und zielt mit seinen Beiträgen zur Verteidigung des SUS auf ein breites Publikum.

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