Selbstorganisation in Syrisch-Kurdistan

Das lokale Bürgerkomitee Hêwî (Kurdisch: „Hoffnung“)

06.02.2013   Lesezeit: 3 min

Das Bürgerkomitee Hêwî umfasst im Kern mindestens 10-15 Aktivisten, unter ihnen Rechtsanwälte, Journalisten und Handwerker. Nach den Angriffen auf Ras al Ain versuchen sie das Gemeinwesen in ihrer Stadt aufrecht zu erhalten, bzw. wieder aufzubauen.

Mitte November 2012 griffen die bewaffneten Auseinandersetzungen endgültig auch auf die vorwiegend von Kurden besiedelte Provinz Hasaka im Nordosten von Syrien über. Aus der Türkei und mit Billigung der türkischen Armee waren schwerbewaffnete Verbände der „Freien Syrischen Armee“, unter ihnen eine große Anzahl dschihadistische und radikalreligiöse Kämpfer aus verschiedenen arabischen Ländern, in die Grenzstadt Serê Kanîyê (arabisch: Ras al Ain) eingedrungen. In Folge kam es nicht nur zu heftigen Gefechten mit lokalen kurdischen Milizen, sondern auch zu massiven Bombardierungen durch die syrische Luftwaffe, in deren Folge 10.000 der insgesamt 40.000 Einwohner in benachbarte Dörfer oder über die Grenze in die Türkei flohen. Nach einer Phase eines Waffenstillstandes kam es im Januar erneut zu schweren Angriffen seitens der bewaffneten FSA-Gruppen. medico wurde glaubhaft berichtet, wie dschihadistische Einheiten mit zwei Panzern nicht nur erneut über die türkische Grenze in die Stadt eindrangen, sondern auch, dass sich ein Großsteil der arabisch- wie kurdischenstämmigen Bewohner von Ras Al Ain gegen die fortdauernde Präsenz dieser ortsfremden bewaffneten Gruppen in ihrer Region aussprachen. Viele fürchten zudem, dass durch die Präsenz offen religiöser Milizionäre das bislang herrschende Vertrauen und die gelebte Toleranz zwischen der arabischen und kurdischen Bevölkerung massiv gefährdet wird. So wird der syrische Bürgerkrieg in den kurdischen Gebieten durch die aggressive Präsenz arabischer Milizen bewusst „ethnifiziert“ und zusätzlich von der Türkei politisch instrumentalisiert.

Selbstorganisation für das Gemeinwesen mitten im Bürgerkrieg

Von Beginn der Kämpfe in Ras Al Ain versuchten lokale kurdische Aktivisten, die ihrerseits seit Beginn des Aufstands gegen das Assad-Regime demonstriert hatten, sich für ihre Stadt und ihre Mitbürger einzusetzen. Das von ihnen gegründete Bürgerkomitee Hêwî (Kurdisch: „Hoffnung“) umfasst im Kern mindestens 10-15 Aktivisten, unter ihnen Rechtsanwälte, Journalisten und Handwerker. Zu Anfang der Kämpfe registrierten und bestatteten das Komitee die Leichen getöteter FSA-Milizionäre und Mitglieder des staatlichen Sicherheitsapparates oder der „Shabbiha“-Milizen. Sie notierten die Personaldaten oder fotografierten die Gesichter der Toten damit zu einem späteren Zeitpunkt mögliche Angehörige informiert werden können. Sie kümmerten sich darum, dass die vor den Luftangriffen des Regimes geflohenen Mitarbeiter des städtischen Elektrizitätswerks zurückkehren und die Stadt wieder an das Stromnetz anschlossen. Später begann Hêwî die Schäden an geplünderten und bombardierten Häusern und Gebäuden zu dokumentieren, legte eine erste Datenbank über die Kriegsschäden an und sicherte auch die nichtdigitalisierten Akten des Stadtarchivs, um die Familien- und Grundbücher vor einer mutwilligen Zerstörung zu retten. Dann begannen sie eine Liste der zu versorgenden Familien in den verschiedenen Stadtteilen anzulegen. Dafür suchten sie gezielt den Kontakt zu anerkannten und respektierten Persönlichkeiten in den jeweiligen Wohnvierteln, um die Bedürftigkeit einzelner Familien beurteilen zu können und einen einigermaßen gerechten Verteilschlüssel zu gewährleisten. Darüber hinaus verhandelten sie mit Bäckereien im Umland, um über möglichst große Abnahmekontingente einen niedrigen Brotpreis für die zu verteilenden Nahrungsmittelkörbe zu erzielen.

Kurden bleiben für ein besseres Morgen

Warum all diese Mühe und mitunter auch lebensgefährliche Hilfe, warum nicht fliehen wie andere auch? Abdel Halim, Journalist und Mitbegründer des Hêwî-Bürgerkomitees, erklärte es unlängst im Gespräch mit medico: „Heute haben die Waffen das Sagen, aber es geht nicht nur um Heute, sondern auch um unsere Zukunft. Wir brauchen zivile Strukturen für ein besseres Morgen.“ Unlängst richtete Hêwî in Ras Al Ain ein erstes Koordinierungszentrum ein und hat mit der Unterstützung von medico begonnen 600 registrierte Familien mit dem Allerlebensnotwendigsten (Brotkörbe, Reis, Babymilch) zu versorgen.

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