medico: Hier in Deutschland ist viel darüber diskutiert worden, warum der afrikanische Kontinent nicht so stark von der Covid-19-Pandemie betroffen sei wie erwartet. Wie beurteilst du diese Erzählung?
Dan Owalla: Es gibt einige Theorien dazu, warum Afrika – hinsichtlich des Infektionsgeschehens – nicht so hart getroffen wurde wie die ganze Welt es vorhergesagt hatte. Wenn die Menschen in Kenia mit uns darüber sprechen, dann betrachten sie es vom Standpunkt der Immunisierung – nennen wir es eine „systeminduzierte Immunität“. Wir leben hier nicht so „keimfrei“ wie die Menschen im Westen. Die Menschen hier sagen, die bloßen Lebensbedingungen würde sie immunisieren: Das Trinkwasser ist verunreinigt, die Luft ist verschmutzt und die Menschen sind an Atembeschwerden gewöhnt. Wenn sie von „Immunität“ sprechen, denken die Menschen hier an alle Arten von "Impfungen", die afrikanische Kinder aufgrund mit den bloßen Lebensbedingungen erhalten. Epidemien "passieren" einfach. Man erzählt sich, dass wir einfach an diese Art der Exposition gewöhnt sind, dass wir daran gewöhnt sind, "geimpft" zu werden: Mit diesen Konzepten versuchen die Menschen hier zu erklären, warum der afrikanische Kontinent möglicherweise nicht so viele Infektionen und Todesfälle erlebt hat. Doch jenseits all dieser Geschichten muss klar sein, dass Afrika von Covid-19 schwer in Mitleidenschaft gezogen worden ist.
Es ist irreführend zu sagen, unser Kontinent sei von der Pandemie kaum betroffen. Erstens sind die Fähigkeiten Afrikas, Menschen zu testen, Infizierte zu identifizieren und unter Quarantäne zu stellen, im Vergleich zu den Staaten des Globalen Nordens nach wie vor gering. Das erklärt die niedrigen Fallzahlen. Wenn die Testkapazität erhöht würde, würden die Infektionszahlen definitiv in die Höhe schnellen. Hinzu kommt, dass der Zugang zu Informationen verweigert wird: Obwohl Transparenz und Rechenschaftspflicht ein wichtiges Thema beim Umgang mit dem Virus sind, haben Länder wie Tansania sogar Gesetze erlassen, die es verbieten über die Auswirkungen von Covid-19 zu berichten.
Du hast angedeutet, dass unabhängig von der gesundheitlichen Situation insbesondere die wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Krise gravierend sind.
Die Einschränkungen haben unsere Wirtschaft hart getroffen, zumal die Regierung keinerlei Geld in die Rettung kleinerer Unternehmen gepumpt hat. Unzählige Menschen haben ihre Arbeit verloren, betroffen sind sowohl der informelle als auch der formelle Sektor. Als die erste Welle von Covid-19 kam, wurden wir in einen Lockdown versetzt. Vor allem die Menschen in Nairobi durften und konnten nicht aus ihrer Wohnung gehen, weshalb die formellen Arbeitsplätze verloren gingen. Die informellen Arbeitsplätze wurden wiederum in Mitleidenschaft gezogen, weil ihre Hauptabnehmer:innen die Menschen im formellen Beschäftigungssektor sind. Alle Menschen, die Familien haben, die aber nur gelegentlich in kleinen Unternehmen arbeiten, können die Bedürfnisse eines Haushalts damit nicht decken.
So schwer wie nie.
Wir haben gesehen, wie die Supermärkte ihre Türen geschlossen haben. Sie wurden zugemacht, weil die Menschen es sich nicht mehr leisten können, ihre Waren zu kaufen. Überhaupt ist auch für die Bezahlung von Warenlieferungen kein Geld da. Im Bereich des öffentlichen Transportwesens haben die Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie dazu geführt, dass die Menschen nicht einmal mehr die Fahrt von einem Ort zum anderen bezahlen können. Denn die Verkehrssysteme decken ihre Verluste damit, dass sie ihre Fahrpreise erhöhen.
Alles ist teurer geworden – und Reserven haben die Menschen nicht. Damit wird den Menschen keine andere Möglichkeit gelassen, als entweder in ihre ländliche Herkunftsregion zurückzukehren oder nach anderen Wegen zu suchen, um an Geld zu kommen.
Dazu kommt, dass viele Staaten des Kontinents seit langem systemische Korruptionsnetzwerke etabliert haben – und deren Korruption schließt auch die Misswirtschaft bei der Vergabe von Covid-19-Zuschüssen oder bei der Veruntreuung von Spendengeldern für medizinische Versorgung mit ein.
Wenn ihr mich jetzt gerade fragt: Noch nie war das Leben so schwierig wie jetzt.
Gegen diese Misswirtschaft bei der Vergabe von Covid-19-Zuschüssen hat es lautstarke Proteste in Kenia gegeben. Was ist mit diesen Geldern passiert?
Das Gesundheitswesen in Kenia ist dezentral in Bezirken organisiert. Die Finanzierung wird jedoch von der nationalen Regierung entschieden. Die Bezirke und deren Gesundheitsministerien sind dadurch zwar in ihrer Prioritätensetzung autonom, aber das Gesetz verbietet es ihnen selbst zu entscheiden, von welchen Unternehmen sie Versorgungslieferungen beziehen wollen. Stattdessen hat die nationale Regierung die Kenya Medical Supplies Agency (KEMSA) als halbstaatliche Behörde eingerichtet: Alle Bezirksregierungen sind angewiesen, ihre Lieferungen von dieser Behörde zu beziehen. Kenia hat insgesamt 223 Milliarden kenianische Schilling – rund 1,7 Milliarden Euro – für die Bekämpfung von Covid-19 erhalten. Ein großer Teil des Geldes floss also an KEMSA, um beispielsweise Gesichtsmasken und Desinfektionsmittel zu kaufen.
Genau zu dem Zeitpunkt, nach dem eigentlich die materielle und ökonomische Unterstützung in Kraft getreten sein sollte, traten nun aber Ärzt:innen in den Streik: Es gab keine Schutzausrüstung für das Gesundheitspersonal, während gleichzeitige Mangel an Gesundheitspersonal selbst herrschte. Viele Ärzt:innen und andere Gesundheitsfachkräfte blieben sogar mehr als fünf Monate lang ohne Lohn, während sie jeden Tag arbeiten mussten und ihre Familien nicht sehen konnten. Und dann begannen Beschäftigte im Gesundheitswesen an Covid-19 zu sterben. Und die Frage, die wir uns alle stellten, war dann: Wohin waren die Covid-Gelder zur Bekämpfung der Pandemie geflossen?
Wie kam es dazu, dass die Covid-Gelder nicht der Bevölkerung zu Gute kamen?
Es stellte sich heraus, dass direkte Verwandte von Regierungsmitgliedern neue Unternehmen registriert hatten, die sich um die Lieferung von Handdesinfektionsmitteln und Gesichtsmasken an KEMSA bewarben. Und diese Unternehmen haben den Zuschlag bekommen: Sie erhielten Millionenzahlungen – aber sie haben nicht geliefert. Einige dieser Unternehmen waren gerade einmal zwei Monate alt: Sie wurden erst gegründet, als sich das Covid-19-Viraus ausbreitete. Es gibt also eine klar kriminelle Kartellstruktur zwischen der Regierung und dem Privatsektor.
Abgesehen von diesem schweren Korruptionsskandal floss ein Teil des für die Covid-19-Versorgung bestimmten Geldes zurück an die großen Volkswirtschaften des globalen Nordens: Da wir hier in Kenia nicht die Kapazität haben unsere eigenen Test-Kits herzustellen, wurde ein großer Teil des Geldes zu ihrem Kauf aufgewendet. Jegliche elaborierte medizinische Technik muss aus China und einigen Ländern der EU bestellt werden. Obwohl es für die Anmietung von medizinischen Versorgungstechnologien oft weder die nötige Infrastruktur noch die notwendigen Gesundheitsspezialist:innen gibt, zahlt Kenia die Leihgebühren.
Das ist auch bei anderen von der Weltbank finanzierten Programmen der Fall: Geld kommt – und geht zurück.
Zusätzlich zu alledem, wurden auch Spendengelder gestohlen Dazu gehörten auch Gesichtsmasken. Sie wurden gestohlen und die Menschen damit vermehrt gezwungen die Schutzmasken selbst zu kaufen – doch dafür sind sie zu teuer. Eine N95-Maske kostet etwa fünf Euro. Trotz eines regelmäßigen Einkommens ist das für viele arbeitende Menschen nicht erschwinglich.
Wie haben die Menschen darauf reagiert?
Am Anfang trugen die Menschen die Masken nicht etwa, weil sie Angst vor Infektionen hatten – sie trugen Masken, um der Brutalität der Polizei zu entgehen. Die Strategie der Regierung für den Umgang mit Corona setzte auf Militarisierung: Anstatt der Bevölkerung die Sicherheitsmaßnahmen zu erklären, konzentrierte sich alles auf die polizeiliche Durchsetzung der Richtlinien.
Und das Problem mit den zu teuren Schutzmasken bleibt bestehen. Inzwischen können wir auf dem Markt eine Reihe von Gesichtsmasken beobachten, die billiger sind. Die Menschen recyceln beispielsweise Masken, die entsorgt wurden. Sie waschen sie und bringen sie wieder auf den Markt. Doch wie wirksam sie sind, weiß niemand.
Welche Unterschiede bestehen in Kenia zwischen verschiedenen Regionen bezüglich des Versorgungszugangs?
Weil es konkurrierende Interessen in der Verteilung von Ressourcen im Kampf gegen Covid-19 gibt, ist insbesondere die Unterstützung für Flüchtlinge und für die Bezirke im Nordosten, die hauptsächlich von Kenianer:innen somalischer Herkunft und Flüchtlingen in Dadaab-Lagern bewohnt werden deutlich zurückgegangen. Dies hat sich stark negativ auf ihre psychische Gesundheit ausgewirkt, Gefühle von Frustration haben sich verstetigt.
Wir müssen bedenken, dass die internationale Gebergemeinschaft die Mittel für Flüchtlinge im Besonderen und viele andere Bereiche im Allgemeinen gekürzt hat. Deshalb müssen wir uns auf Strategien konzentrieren, die offensichtlich Hoffnungszeichen gesetzt haben. Verbindende Partnerschaften und globale Solidarität haben sich als wirkungsvolle Unterstützungsinstrumente erwiesen. Gemeinsam können wir die korrupten Strukturen und den Missbrauch durch multinationale Unternehmen aufdecken. Als People’s Health Movement (PHM) sind wir eine Grasroots-Bewegung. Unsere Arbeit besteht darin, Plattformen für die soziale Verantwortung im Gesundheitsbereich zu schaffen.
Das PHM kämpft seit langem für ein wegweisendes Programm, nämlich für Universal Health Coverage (UHC) – eine allgemein zugängliche Gesundheitsversorgung. In den vergangenen Jahren hat Kenia von internationalen Entwicklungspartnern und der Weltbank Mittel für die Einführung einer UHC bekommen. Die Regierung hat eine flächendeckende Versorgung bis 2022 zugesagt. Wie steht es darum?
Ein Meilenstein in unserem Kampf für UHC war eigentlich die Durchführung einer Pilotphase. UHC war ein gutes Programm und ich glaube immer noch daran – wenn es so umgesetzt wird, wie es ursprünglich geplant war, nämlich mit dem Ziel einer allgemein zugänglichen Gesundheitsversorgung für alle. Unser Anliegen ist es, mit UHC den Zugang zu gemeindenahen Gesundheitsdiensten zu verbessern und auch einen gewissen Schutz vor finanziellen Risiken zu gewährleisten. Eine Umsetzung muss sich daher auf die Ebene der primären Gesundheitsversorgung konzentrieren, d.h. sie muss einen leichten Zugang und eine gerechte Versorgung der Menschen auf Community-Ebene zu konzentrieren. Für ebendiesen Ansatz wurde Kenia von der internationalen Gemeinschaft gelobt Aber als dieses Pilotprojekt kam, trat sie erst auf der Bezirksebene in Kraft. Kliniken, die in Gemeinden eingerichtet werden sollten, und lokale Apotheken und Gesundheitszentren Versorgung gingen damit leer aus.
Dabei wäre genau dies eine wichtige Waffe gegen das Corona-Virus gewesen...
Ja, denn UHC ist der beste Weg für den Umgang mit Epidemien – bzw. nun der Pandemie – aber eben dann, wenn es auf Gemeindeebene angelegt ist, die für alle zugänglich ist. Nun aber bleibt die riesige Lücke zwischen der Gemeindeebene und der Bezirksebene der Gesundheitsversorgung in Form einer kurativen Medizin in Krankenhäusern aber bestehen. Es bringt jedoch wenig, das Niveau der Versorgung auf Bezirksebene zu verbessern, wenn diese für einen Großteil der Menschen erst gar nicht zugänglich ist. Und genau auf die Bezirksebene müssten sich die Menschen im Falle einer schweren Infektion mit dem Corona-Virus aber begeben, sogar die Isolationsstationen wurden auf Bezirksebene errichtet. Und das ist von den Menschen, die in den Gemeinden leben, weit entfernt – zu weit, um überhaupt erreichbar zu sein.
Einige der Ungerechtigkeiten, die in unseren Gesundheitssystemen vorherrschen, wurden durch das Geld, das Kenia zur Unterstützung des UHC-Programms erhielt, überhaupt nicht adressiert. Wir sind daher entschieden gegen die Einführung der derzeitigen Form der UHC. Denn der Zugang zur Gesundheitsversorgung für den ärmsten Teil der Bevölkerung ist mehr denn je erforderlich, um die Pandemie zu bekämpfen. Weltweit.
Die Fragen stellte Julia Manek.
Die medico-Partner SODECA und KAPLET kämpfen dafür, dass das in der Verfassung verankerte Recht auf Gesundheit kein leeres Versprechen bleibt. Trotz staatlicher Repression arbeiten sie unermüdlich daran, die ärmsten Menschen in Nairobis überfüllten Slums vor COVID-19 zu schützen. In Kenias Grenzgebieten leisten sie auch dort Nothilfe, wo andere weder hinschauen noch hinkommen.