70 Jahre WHO

Softdrinks statt Trinkwasser

26.06.2018   Lesezeit: 10 min

Die schleichende Privatisierung der Globalen Gesundheit kostet die Gesundheits-Gerechtigkeit – ein Interview mit der kanadischen Wissenschaftlerin Anne-Emanuelle Birn.

medico: Die globale Gesundheit steht vor zahlreichen Herausforderungen: Antibiotika-Resistenz wachsen weltweit, nicht übertragbarer Krankheiten wie Typ-2-Diabetes nehmen zu, zugleich sind immer mehr Menschen selbst von einer basalen Gesundheitsversorung ausgeschlossen. Wo liegen die Ursachen dafür?

Anne-Emanuelle Birn: Obwohl nicht jede Krise einen eindeutigen Verursacher hat, hängt letztlich doch jede mehr oder minder mit der herrschenden Weltordnung und dem neoliberalen Kapitalismus zusammen. Mächtige Interessensgruppen wie transnationale Konzerne, philanthrokapitalistische Stiftungen, die reichen Eliten und ihre politischen Partner und Allianzen haben „Spielregeln“ durchgesetzt, die ihnen nutzen, und gleichzeitig Wege gefunden, Regulierungen auszuhebeln, transparente Entscheidungsprozesse zu umgehen und Forderungen nach Umverteilung und sozialer Sicherheit abzuwehren.

Was hat Diabetes Typ 2 mit dem globalen Kapitalismus zu tun? 

Die Zunahme von Diabetes-Erkrankungen ist eng verknüpft mit veränderten Ernährungsformen in Folge des wachsenden Einflusses des Agrobusiness und der globalen Lebensmittelindustrie – sei es „Big Infant Food“, „Big Snack“ oder „Big Soda“. Die massenweise Vermarktung von ungesunden Produkten geht Hand in Hand mit der Verdrängung von Kleinbauern und einer lokalen Nahrungsproduktion. Ermöglicht wurden diese Entwicklungen wiederum durch veränderte Handel- und Investitionsregeln, die transnationalen Konzerne weltweit Märkte öffneten und Länder des globalen Südens zwangen, Maßnahmen zum Schutz der heimischen Märkte wie Einfuhrzölle abzubauen – all das zulasten von Kleinbauern und der breiten Bevölkerung. Verstärkt wird das Ganze durch Regierungen, die sich um die grundlegenden und langfristigen Bedürfnisse der Menschen nicht kümmern.

Wenn zum Beispiel kein sauberes Trinkwasser aus der Leitung kommt, werden zuckersüße Softdrinks zur Alternative. Die wachsende Krankheitslast wiederum gibt „Big Pharma“, also der pharmazeutischen Industrie, Gelegenheit, massenhaft Medikamente zu vermarkten. Das Geschäftsfeld wird immer weiter ausgedehnt, etwa durch die Etablierung neuer Diagnosen wie Prä-Diabetes. Insofern wird die Gesundheit auf vielen verschlungenen Wegen geschädigt, alle aber sind aufs engste mit dem globalisierten Kapitalismus verknüpft. Ähnliche Bedingungen und Kräfte haben in den vergangenen Jahrzehnten auch zur Rückkehr zu reduktionistischen Ansätzen der vertikalen Bekämpfung bestimmter Krankheiten geführt. Man beschränkt sich auf einzelne Krankheiten statt horizontal in den Auf- und Ausbau umfassender, öffentlicher und allgemein zugänglicher Gesundheitssysteme und in Verhältnisse, die Gesundheit zuträglich sind, zu investieren.

Im 70. Jahr ihres Bestehens hat die Weltgesundheitsorganisation – so scheint es – an Glaubwürdigkeit verloren. Auf dem Spiel stehen ihre Unabhängigkeit und Legitimität, aber auch ihre Fähigkeit, die ihr zugedachte Rolle als führende Institution für globale Gesundheit auszufüllen. Wie konnte die WHO so in die Krise geraten?

Viele Leute werfen der WHO ihre Bürokratie vor. Aber jede große Institution bildet Regeln aus, im Idealfall, um Ansprüche an Transparenz und Rechtschaffenheit zu erfüllen. Natürlich könnte die WHO wie nahezu jede andere Institution schneller und schlanker werden. Aber ihre eigentlichen Probleme liegen anderswo. Die Schwächung ihrer Unabhängigkeit begann in den 1980er-Jahren und hat sich seitdem verschärft: Indem die Beitragszahlungen der Mitgliedsstaaten stagnierten oder sogar gekürzt wurden, wanderten mehr und mehr gesundheitsbezogene Maßnahmen zu anderen Institutionen, zunächst zu anderen UN-Organisationen wie UNICEF und seit 1996 zu UNAIDS, später zu öffentlich-privaten Partnerschaften (PPPs) wie dem Global Fund oder der Globalen Allianz für Impfstoffe Gavi und zuletzt zu Multi-Stakeholder-Initiativen. In diesen kommen – unter Ausblendung inhaltlicher Gegensätze und Widersprüche – ganz unterschiedliche öffentliche, zivilgesellschaftliche und private Akteure zusammen.Solche Arrangements, unterstützt vom Weltwirtschaftsforum und sogar von der UN, sorgen dafür, dass die WHO nur ein Partner unter vielen ist und nicht mehr – wie es ihrem Mandat entspricht – die koordinierende Autorität zur Förderung globaler Gesundheit und zum Schutz von Gesundheit als einem „fundamentalen Recht“.

Wie kann die WHO in dem Gedränge in der Global-Health-Arena verlorenes Terrain zurückgewinnen? Und was sollte im Zentrum ihrer Arbeit stehen?

Ein Anfang wäre gemacht, wenn die WHO zu einem System fairer und angemessener Pflichtbeiträge der Mitgliedsstaaten zurückkehren könnte – anstelle von freiwilligen, zweckgebundenen und interessengeleiteten Zahlungen verschiedenster Geber. Die Verwendung ihrer Mittel muss Gegenstand demokratischer Aushandlungsprozesse sein und einer Rechenschaftspflicht gegenüber einer breiten Öffentlichkeit unterliegen. Wie in ihrer Verfassung verankert, sollte die WHO die Verbesserung der Lebensverhältnisse ins Zentrum ihrer Arbeit stellen: Ernährungs-, Wohn-, Sanitär-, Arbeitsbedingungen und Umweltbedingungen – all das auf fundierter und unvoreingenommener wissenschaftlicher Basis. Gleichzeitig sollte sie die Gesundheit schädigende kommerzielle Einflüsse einhegen – all das auf Basis von fundierten und unabhängigen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wirksamkeit und Erfolg von Maßnahmen sollte sich danach bemessen, ob sie zu mehr gesundheitlicher Gerechtigkeit beitragen.

Aktuell durchzieht ein Interessenskonflikt die WHO: Um ihrem Führungsanspruch aufrechterhalten zu können, hat sie erfolgreich „innovative“ Finanzierungsformen etabliert und Geldgeber ins Boot geholt. Doch das hat seinen Preis. Indem sie sich dem Einfluss der Privatwirtschaft in Form von philanthrokapitalistischen Stiftungen und multinationalen Konzernen ausgeliefert hat, hat sie sich von ihrer Aufgabe, Gesundheit als ein fundamentales Recht zu verteidigen und durchzusetzen, entfernt und undemokratischen Entscheidungsprozesse unterworfen. Inwiefern die WHO ihrer Verantwortung gerecht werden kann, hängt natürlich auch davon ab, wie verantwortlich die Regierungen der Mitgliedsstaaten handeln. Sich für Gesundheitsgerechtigkeit einzusetzen, bedeutet, die politischen, wirtschaftliche und sozialen Determinanten von Gesundheit in den Blick zu nehmen.

Bill & Melinda Gates sind keineswegs aus dem Nichts aufgetaucht. Welche Bedingungen und politischen Weichenstellungen haben philanthrokapitalistischen Stiftungen wie die Gates Foundation den Weg geebnet?

Die Reagan-Administration war die erste, die die Beiträge der USA an die WHO zurückhielt. Das sollte Schule machen. Hinzukommt, dass die Beitragssätze der Mitglieder seit Jahrzehnten nicht angepasst worden sind. Tatsächlich liegt die letzte Netto-Zunahme der Mittel der WHO fast 40 Jahre zurück. In Kombination hat dies zu dramatischen Haushaltslöchern geführt. Unterfinanzierung und politischer Druck sorgen dafür, dass die WHO die zentralen Themen nicht anpackt. In die Lücke zwischen den Aufgaben und verfügbaren Mitteln der WHO sind die privaten Akteure hineingesprungen – wobei die WHO dies durchaus begrüßt hat.

Die Tatsache, dass heute fast 80 Prozent ihres Budgets zweckgebunden sind (die Gates-Stiftung war in den vergangenen Jahren immer eine der größten Geber), führt dazu, dass die Festlegung von Prioritäten und Strategien höchst undemokratisch zustande kommt und oft die Interessen des privaten Sektors bedienen – etwa der Aufbau von Beständen gänzlich unnötiger Pharmazeutika. Die Gates-Stiftung gibt Gelder für die Ausrottung der Kinderlähmung. Die Folge: In den vergangenen Jahren sind 20 Prozent des gesamten WHO-Budgets allein für dieses Ziel aufgewendet worden. Das ist aber nicht von der World Health Assembly der WHO entschieden, sondern von der Gates-Stiftung durchgesetzt worden. Diese hatte auch bei der Ausbreitung von gesundheitsbezogenen Private Public Partnerships, die die WHO zunehmend an den Rand gedrängt hat, ihre mächtigen Finger im Spiel.

Die meisten der großen PPPs sind von der Gates-Stiftung auf den Weg gebracht worden oder erhalten Gelder von ihr, etwa der Global Fund oder Gavi. Die Impfallianz lässt neue und, weil es noch keine entsprechenden Generika gibt, sehr teure Impfstoffe in nationalen Impfplänen verankern, statt dafür zu sorgen, dass bewährte Stoffe für einen umfassenden Basisschutz eingesetzt werden. Unter dem Motto „das Leben von Kindern zu retten“, sponsert Gavi so ohnehin hochprofitable Pharma-Unternehmen. Die Gates-Stiftung agiert aber keineswegs im luftleeren Raum. Die Multi-Stakeholder-Partnerschaften haben den Einfluss privater und philantrophischer Unternehmen auf das Agenda-Setting gestärkt. Und natürlich wäre das nicht möglich, wären die großen Geberstaaten nicht auf den Zug aufgesprungen.

Wie ordnen Sie die Rolle Deutschland ein?

Deutschland war lange ein eher stiller Akteur auf der gesundheitspolitischen Bühne. Vor allem das heutige Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat sich gemeinsam mit vergleichbaren Akteuren wie Kanada an einigen entwicklungsorientierten Projekten beteiligt, bei denen es um Handelsfragen und nachhaltige Entwicklungsmodelle ging. Allerdings arbeitet Deutschland in wachsendem Maße mit dem privaten Sektor zusammen, darunter die Gates-Stiftung.

2017 haben das BMZ und die Stiftung auf höchster Ebene eine gemeinsame Absichtserklärung unterzeichnet, zusammen die 2030 Sustainable Development Goals (SDGs) der UN durch eine Stärkung von „globalen Partnerschaften“ voranbringen zu wollen. Diese Übereinkunft gibt der Gates-Stiftung Zugang zu dem großen Netzwerk an Kontakten des Ministeriums und ermöglicht zudem einen gegenseitigen Austausch von Mitarbeiter – was die demokratische Verantwortung des Ministeriums gegenüber der deutschen Öffentlichkeit unterläuft. Diese Vertrautheit zwischen der deutschen Regierung und der Gates-Stiftung ist nun auch in dem neuen Beratergremium des Gesundheitsministeriums zu Globaler Gesundheit verankert, in das ein Vertreter der Stiftung aufgenommen wurde. Solche Machtstrukturen und politischen Verstrickungen, die Global-Health-Initiativen inzwischen prägen, müssen hinterfragt werden. Wie ist das gegenseitige Memorandum of Understanding überhaupt zustande gekommen? Was legitimiert solche Arrangements? Solche Fragen dürfen nicht nur aus der kritischen Zivilgesellschaft kommen, sie müssen auch von Politikern und Wissenschaftlerinnen gestellt werden.

Man könnte der Gates-Stiftung und anderen privaten Akteuren für ihr Engagement für die WHO ja auch dankbar sein. Wo liegt das Problem?

Letztlich sind private Gelder immer an Bedingungen geknüpft. Die Geber legen mit fest, wofür sie verwendet werden. Hinzu kommt, dass sie für gewöhnlich in gemischte private- und öffentliche Ansätze fließen. Die Interessen privater Akteure lenken also in wachsendem Maße auch die Verwendung von öffentlichen Geldern. Außerdem sind philanthropische Spenden in den meisten Ländern steuerbefreit. In diesem Sinne finanziert die Allgemeinheit diese Einflussnahme mit, ohne selbst Mitsprache zu haben. Privaten Akteure mögen von Gerechtigkeit und Menschenrechten sprechen. Letztlich verfolgen sie jedoch eigene, interessengeleitete Interessen. Der wichtigste Punkt ist aber ihre Einflussnahme auf die politische Agenda. Sie setzen die Prioritäten, wodurch grundlegende Probleme wie Privatisierung, Deregulierung und der Transfer von Ressourcen vom öffentliche zum privaten Sektor nicht adressiert geschweige denn angegangen werden. Das ist gesundheitsgefährdend. Die Machtverhältnisse sind inzwischen so verzerrt, dass Wirtschaftsinteressen über dem Wohlergehen der Menschen stehen.

Vor 40 Jahren haben sich die Mitgliedstaaten der WHO in der Erklärung von Alma Ata zum Menschenrecht Gesundheit bekannt und dieses mit Fragen von gleichem Zugang, Gerechtigkeit und Partizipation verbunden. Was ist von dieser wegweisenden Erklärung noch gültig?

Die in Alma Ata formulierten Absichten und Strategien prägen bis heute den Einsatz von Aktivisten und Gesundheitsexpertinnen weltweit. Sie genießen weiterhin breite Unterstützung. Der Appell von Alma Ata für eine neue Weltordnung bleibt, auch vier Jahrzehnte später, das stärkste Plädoyer für die Verbindung von Gesundheit und Gerechtigkeit. Aber heute muss man sehr aufpassen, dass dieser Ansatz nicht kooptiert wird. So hat aktuell die Bewegung für eine Universal Health Coverage (UHC), also eine allgemeine Gesundheitsabsicherung”, sich zwar die Parole von Alma Ata – „Gesundheit für alle“ – angeeignet. Die herrschenden Ansätze für eine Gesundheitsabsicherung aber öffnen nicht nur die Türen für privaten Profit, sie geben auch ein umfassendes Verständnis von Gesundheit als Folge gerechter und gleicher Lebensverhältnisse auf. Man kann durchaus bezweifeln, dass die favorisierten UHC-Konzepte Fragen von Armut und ungesunden Lebensverhältnissen so grundlegend angehen wie es die Erklärung von Alma Ata getan hat.

Welchen Herausforderungen muss sich eine globale Gesundheitsbewegung von unten aktuell stellen?

Der Macht der Wirtschaft; dem Mangel an Demokratie und Verantwortlichkeit bei der Bestimmung gesundheitspolitischer Ziele; den begrenzten Möglichkeiten von sozialen Bewegungen und der am Gemeinwohl orientierten Zivilgesellschaft, Einfluss auf die Entscheidungsprozesse in Fragen der globalen Gesundheit zu nehmen.

Das Interview führte Anne Jung.

Weiterführende Literatur:

Birn, Anne-Emanuelle. “WHOse health agenda? 70 years of struggle over WHO's mandate”, The Lancet, 391, 10128: 1350-51.

https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(18)30734-7/fulltext

https://saudeglobal.org/2018/04/06/whose-health-agenda-70-years-of-struggle-over-whos-mandate-by-anne-emanuelle-birn/

Birn, Anne-Emanuelle and Richter, Judith. „US Philanthrocapitalism and the Global Health Agenda: The Rockefeller and Gates Foundations, past and present”, in Howard Waitzkin and the Working Group for Health Beyond Capitalism, eds. Health Care Under the Knife: Moving Beyond Capitalism for Our Health, Monthly Review Press, 2018. https://monthlyreview.org/product/health_care_under_the_knife/

Richter, J. (2015). "Time to debate WHO’s understanding of conflicts of interest." BMJ RR (22 October)

http://www.bmj.com/content/348/bmj.g3351/rr


Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2018. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!


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