Rojava

Stoische Hoffnung

12.04.2021   Lesezeit: 3 min

Nordostsyrien: Aufbauarbeit trotz existentieller Bedrohung.

Von Anita Starosta

Von vielen Seiten her wird die Region der autonomen Selbstverwaltung Nordostsyriens (kurdisch: Rojava) bedrängt. Aus den besetzten Gebieten nahe der nordsyrisch-türkischen Grenze werden vermehrt Raketen auf Kleinstädte wie Ain Issa oder Tel Tamer abgefeuert. In Kurdistan-Irak verbündet sich Präsident Barzani mit Erdogan, während von Ankara aus der türkische Außenminister mit einem erneuten Angriff droht und ein landesweites Verbot der prokurdischen Linkspartei HDP befürchtet wird. Für die medico-Partner:innen vom Kurdischen Roten Halbmond in Rojava ist all das bedrohlich, aber auch nichts Neues. Die allmonatlichen Nachfragen von medico beantworten sie in einer Art trauriger Gelassenheit. Ja, soweit alles okay. Sie seien für den Ernstfall vorbereitet, könnten mit mobilen medizinischen Teams jederzeit in Kriegsgebiete fahren, Menschen vor Bombardierungen retten oder neue Flüchtlingslager aufbauen.

Seit der letzten türkischen Offensive im Oktober 2019 ist der Landstrich zwischen Tall Abyad und Serêkaniyê, der einen Keil zwischen der Haupstadt Kobane und Qamişlo schlägt, von islamistischen Söldnertruppen besetzt. Ähnlich wie Afrin steht das Gebiet unter ziviler und militärischer Verwaltung der Türkei. Man zahlt mit türkischer Lira, an den Schulen wird Türkisch unterrichtet. In beiden Gebieten wurden Flüchtlinge und Familien islamistischer Milizen gezielt angesiedelt. All das soll eine Rück- kehr der Vertriebenen, vorwiegend kurdische Bevölkerung auch langfristig verhindern. Zugleich leben Zehntausende aus diesen besetzten Regionen Vertriebene in Rojava in provisorischen Flüchtlingslagern. Nennenswerten internationalen Protest gegen den mit Gewalt vorangetriebenen Bevölkerungsaustausch hat Erdogan nicht zu befürchten. Anlässlich des zehnten Jahrestages des Aufstandes in Syrien hat das Europäische Parlament immerhin eine Resolution veröffentlicht, in der sie diese Politik Ankaras als völkerrechtswidrig erklärt. Doch das hat keine politischen Konsequenzen.

Krieg, Terror, Corona-Welle

Die Selbstverwaltung ist auch von anderer Seite bedroht. Der Ausgang der Verhandlungen mit dem Assad-Regime über den Autonomiestatus bleibt ungewiss. Daran erinnern russische Panzer, die weiterhin im Nordosten Patrouille fahren. Hoffnung wird von kurdischer Seite in den neuen US-Präsidenten gesetzt, dass die Biden- Administration weitere Okkupationsversuche durch die Türkei nicht hinnehmen wird.

So trägt die kurdische Region weiterhin nahezu alleine die Bürde des Umgangs mit Tausenden (ausländischen) inhaftierten IS-Kämpfern sowie ihren Frauen und Kindern in den Flüchtlingslagern. Zwar ist es gelungen, Tribunale für syrische IS-Täter und Wiedereingliederungsversuche auf die Beine zu stellen. Wie aber mit der großen Zahl an Menschen, wie mit Anführern und internationalen Straftätern umzugehen ist – dafür gibt noch keine Lösung.

Unterdessen nimmt die Radikalisierung weiter zu: In dem berüchtigten Camp al Hol kommt es inzwischen zu regelmäßigen Morden von IS-Frauen an mutmaßlichen Abweichlerinnen, es häufen sich Anschläge durch IS-Schläferzellen auf kurdische und arabische Politiker:innen sowie Stammesführer, auch wird von Angriffen auf die christliche Gemeinde in Qamişlo berichtet. Terror und Gewalt zielen darauf, Misstrauen zu säen. Der kurdischen Selbstverwaltung soll es so schwer wie möglich gemacht werden, Unterstützung für ein friedliches Miteinander zu finden.

Inmitten und ungeachtet dieser vielschichtigen Notlagen und Herausforderungen setzen medico-Partnerorganisationen die Arbeit fort. So steht in Qamişlo inzwischen der Rohbau einer – auch mit medico-Unterstützung – errichteten Prothesenwerkstatt. In Rojava sind, so die Schätzungen des Kurdischen Roten Halbmonds, in Folge der Kriege der letzten Jahre rund 5.000 Menschen auf eine Prothese angewiesen. Anti-Personen-Minen, Spreng- und Brandfallen bleiben allgegenwärtig, insbesondere der IS hat Tausende hinterlassen. In dem neuen Prothesen- und Gesundheitszentrum sollen Versehrte auch Physiotherapie und psychosoziale Betreuung erhalten.

Die neue medico-Partnerorganisation Rights Defense Initiative (RDI), bestehend aus Jurist: innen und Menschenrechtsaktivist:innen, organisiert die Beweisaufnahme und Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen durch islamistische Milizen in den völkerrechtwidrig von der Türkei besetzten Gebieten. Die Verbrechen sollen auf internationaler Ebene verfolgt, Entschädigung der Opfer erstritten werden. Es ist ein langwieriges Unterfangen, ohne das aber eine demokratische Zukunft in der Region nicht denkbar ist.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Kommunikation zur Türkei, zu Nordsyrien und dem Irak zuständig. 

Twitter: @StarostaAnita


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