In einem gemeinsamen Brief an den Generalsekretär der Vereinten Nationen (UN) warnen 60 zivilgesellschaftliche Organisationen die UN davor, die umstrittene Arbeitsdefinition zu Antisemitismus der Internationalen Allianz für Holocaustgedenken (IHRA) anzunehmen und zur Richtschnur ihres Aktionsplans gegen Antisemitismus zu erheben.
In dem Schreiben heißt es u. a.:
„Die Annahme der Definition durch Regierungen und Institutionen wird oft als wesentlicher Schritt im Kampf gegen Antisemitismus dargestellt. In der Praxis wurde die IHRA-Definition jedoch oft von anderen benutzt, um gewaltfreien Protest, Aktivismus und kritische Äußerungen bzgl. Israels und/oder des Zionismus fälschlicherweise als antisemitisch zu bezeichnen und damit zu unterdrücken, auch in den USA und Europa.
Ken Stern, der Hauptverfasser der IHRA-Definition, bekräftigte kürzlich seine Bedenken hinsichtlich der institutionellen Übernahme der Definition angesichts ihrer vorgeschlagenen Aufnahme in einen Resolutionsentwurf der American Bar Association (ABA) über Antisemitismus. Sterns Besorgnis rührt von der wiederholten Anwendung der IHRA-Definition als ‚ein stumpfes Instrument, um jede beliebige Person als Antisemiten zu bezeichnen‘. Schließlich verabschiedeten die ABA-Mitglieder eine Entschließung zu Antisemitismus, die sich nicht auf die IHRA-Definition bezieht.“
Schwachstellen der IHRA-Definition
Der Antisemitismusforscher Peter Ullrich hat 2019 in einem gemeinsam von der Rosa Luxemburg Stiftung und medico international in Auftrag gegebenen Gutachten die Schwachstellen der IHRA-Definition analysiert. Über die reelle Gefahr des Antisemitismus und die Notwendigkeit seiner Bekämpfung, den Umgang mit dem Thema in Deutschland und die IHRA-Definition sprach er im selben Jahr in einem ausführlichen Interview mit der Journalistin Inge Günther. Die Lektüre ist auch heute noch erhellend.
Die dringende Notwendigkeit der Bekämpfung von Antisemitismus steht völlig außer Frage. Die Mängel der vorherrschenden IHRA-Arbeitsdefinition geben dabei jedoch schon seit Längerem Anlass zur Sorge. Negative Konsequenzen des vagen Charakters der Definition sind in den vergangenen Jahren immer wieder zutage getreten, etwa wenn unter direkter oder impliziter Bezugnahme darauf politische Beschlüsse gefasst wurden, die in der Folge zu einer Verwaltungspraxis führten, die gesetzlich garantierte Grundrechte verletzt hat. Gruppen und Einzelpersonen, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte und des Völkerrechts auch in den besetzten palästinensischen Gebieten einsetzen, wurde beispielsweise die Nutzung öffentlicher Räumlichkeiten unmöglich gemacht. Einer Palästina-solidarischen Gruppe wurde die Teilnahme an einem öffentlich ausgerichteten Kulturfestival verweigert, obwohl diese früher nie ein Problem gewesen war. Künstler:innen, Musiker:innen, Schriftsteller:innen und Akademiker:innen wurden Preise aberkannt, sie wurden von Konferenzen, Konzerten und anderen Veranstaltungen ausgeladen usw., alles im Namen der Antisemitismusbekämpfung.
Die diversen Urteile gerichtlicher Instanzen bis auf die Ebene des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig hinsichtlich der diskriminierenden Vergabepraxis bei öffentlichen Räumen sollten politischen Mandatsträger:innen und Administrationen eines klar machen: Die viel zu oft reflexhaft vorgenommene Ineinssetzung des Engagements für palästinensische Menschenrechte mit israelbezogenem Antisemitismus, der die IHRA-Definition und insbesondere die ihr beigefügten Beispiele Vorschub leisten, haben einer repressiven und – wie Gerichte mehrfach festgestellt haben – rechtswidrigen Verwaltungspraxis den Weg geebnet.
Menschenrechte im Falle der Palästinenser:innen als Verhandlungsmasse
Dass Politiker:innen an ihr festhalten, obwohl es auch klarere Antisemitismusdefinitionen wie die „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ gibt, lässt sich vor dem Hintergrund verstehen, dass es „in Deutschland eine eigentümliche Beschäftigung mit Antisemitismus auf einer staatstragenden, proklamatorischen Ebene [gibt], aber es bleibt in vielen Bereichen bei symbolischen Interventionen, beispielsweise, wenn daraus Solidarität mit Israel als Teil der deutschen Staatsräson abgeleitet wird“, wie der Antisemitismusforscher Ullrich feststellte.
Bei den deutschen Prioritäten wirkt es bisweilen wie ein vernachlässigbarer Nebeneffekt, dass derartige Symbolpolitik dann doch handfeste Konsequenzen zeitigt, indem die Unteilbarkeit der Menschenrechte im palästinensischen Fall zu einer Verhandlungsmasse degradiert wird, um das Verhältnis zum Staat Israel nicht zu belasten: Ob es die deutsche Infragestellung der Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofs für potentielle Verbrechen beider Seiten in dem Konflikt ist oder die Ablehnung des Gutachtens durch den Internationalen Gerichtshof in der Frage nach der (Il-) Legalität der israelischen Besatzung selbst. Wie der israelische Historiker und Holocaustforscher Alon Confino im Januar in einer Rede vor dem Römischen Senat sagte: „Das Thema Antisemitismus ist heute untrennbar mit Israel-Palästina verwoben.“
Das ist auch in Deutschland so und die kontroverse IHRA-Arbeitsdefinition ist dafür nicht der einzige Grund; sie wird aber immer wieder dazu herangezogen, Menschenrechtsaktivismus zugunsten von Palästinenser:innen und Kritik an israelischem Regierungshandeln in die Nähe von Antisemitismus zu rücken oder als solchen zu diffamieren. Confino sieht darin vor allem das Ziel, „uns in nicht endende Diskussionen darüber zu verwickeln, ob spezifische Wörter oder Ausdrucksformen antisemitisch sind, beziehungsweise ob sie in antisemitischer Absicht formuliert wurden, um dadurch eine grundlegende Diskussion zu vermeiden, was vor Ort, in Israel-Palästina, tagtäglich geschieht. Anstatt darüber zu sprechen, wie Israel die Rechte von Palästinenser:innen einschränkt.“
Dieser Ansatz hilft weder Palästinenserinnen noch Israelis vor Ort noch leistet er einen klar ersichtlichen konstruktiven Beitrag zur Regelung dieses Konflikts. Es bleibt auch schleierhaft, wie damit effektiv Antisemitismus bekämpft wird und welche Unterstützung daraus für Betroffene folgt. Deutschland aber – und das ist vielleicht dann doch am wichtigsten – kann seiner Staatsräson treu bleiben.