Von Maja Hess
Obwohl in El Salvador ein 10-jähriger blutiger Bürgerkrieg zwischen der rechtsextremen ARENA-Partei und der linksgerichteten Guerillaorganisation FMLN 1992 mit den Friedensabkommen von Chapultepec zu Ende ging, sind die Toten, die auf El Salvadors Straßen und Gassen, in Häusern oder Abfallhalden auftauchen, nicht weniger geworden. Im Gegenteil ihre Zahl nimmt stetig zu. 2009 wurden in den ersten fünf Monaten 1.785 Menschen ermordet. Das sind 13 Morde pro Tag. Davon sind hunderte Frauen, Mädchen, Kleinkinder. Die Frauenorganisation Las Melidas spricht von einem „Femicid“, das heißt von gezielten Mordserien an Frauen. Die Morde werden den Maras, den Jugendbanden, in die Schuhe geschoben und die staatliche Antwort auf die zunehmende Gewalt ist Repression.
Bereits Jahre vor Ausbruch des Bürgerkrieges herrschte in El Salvador ein Klima von Angst und Gewalt. Wer sich der diktatorischen Macht und der Ausbeutung widersetzte, wer soziale Missstände anprangerte und sich organisierte, wurde systematisch bedroht, eingeschüchtert, verfolgt und nicht selten umgebracht. Dieser Terror war nicht nur eine Botschaft an die Betroffenen, sondern immer auch eine Drohung an die ganze Bevölkerung, die besagte: Wenn du aufmuckst, wird dir das Gleiche geschehen. Das gräbt sich in das Bewusstsein aller ein.
Der rechtsextreme Staatsapparat hatte schon vor dem Krieg unzählige paramilitärische Organisationen geschaffen, wie die Todesschwadronen, gegründet von dem ehemaligen Diktator Roberto d’Aubisson, die Patrulleros, Elitebataillons wie das berüchtigte Atlacatl, Geheimpolizei, geheime Kerker, Folterstätten etc. Mit diesem Erbe ging der Krieg zu Ende.
Nach dem Krieg hat die sog. adhoc- Kommission die Struktur der Todesschwadronen aufgedeckt und in der Folge aufgelöst. Viele der paramilitärischen Strukturen bestehen aber weiter. Mit der Generalamnestie wurde die „Impunidad“, die Straflosigkeit, für die Akteure besiegelt. Viele der ehemaligen Killer und Folterer schlossen sich Drogenringen und anderen kriminelle Banden an, sie fanden vorerst Unterschlupf in der nach dem Krieg gegründeten Policía Nacional Civil und später in den unzähligen privaten Sicherheitsunternehmen, die wie Pilze aus dem Boden schießen.
Woher kommen die Maras?
Eine der berüchtigten Jugendbanden, die Mara Salvatrucha, sei von Salvadorianern in Mexiko aufgebaut worden, um ihren Landsleuten den „Paso al Norte“, das „Durchschlüpfen“ von Mexiko in die USA zu erleichtern, heißt es. Das Wort „Mara“ ist dabei ein positiv besetzter Begriff und bedeutet: meine Kumpel, meine Szene. Ebenso verweist der Begriff Salvatrucha auf die Herkunft der MigrantInnen, die auf ihrer Reise gegen mexikanische Übergriffe verteidigt werden sollten. Über solche Schutzaufträge finanziert sich die Mara. Ein wichtiger, aber nicht der einzige Schauplatz der Entwicklung der Bandenaktivität scheint dabei das US-amerikanische Los Angeles zu sein.
Die andere bedeutende Bande nennt sich bezeichnenderweise Pandilla 18. „Pandilla“ ist der mexikanische Begriff für das Wort „Mara“. „18“ bezieht sich auf das 18. Stadtviertel von Los Angeles und dessen Schutzheilige, die Virgen de Guadelupe.
Zwischen den verschiedenen Banden herrscht Krieg, ein von Machismo geprägter Territorialkrieg. Das Viertel, die Strasse, die Bande wird mit dem eigenen Leben verteidigt. „Por mi madre nací, por mi barrio voy a morir...“ (Für meine Mutter wurde ich geboren, für meinen Stadtteil werde ich sterben), sagt ein Sprichwort der Maras. Die Bande bietet ihren Mitgliedern eine Identität, das Tattoo – ein Label, eine geheime Zeichensprache – schafft Vertrauen und mimt Einheit, Initiationsriten und andere Rituale binden die Angst und heben die Bereitschaft, für die Bande zu sterben.
In Los Angeles herrscht Krieg zwischen den Banden und wem Straftaten nachgewiesen werden, der wird nach Verbüßung der Haft aus den USA ausgewiesen. Täglich landen Flugzeuge voller deportierter Salvadorianer in San Salvador und nicht wenige davon sind in den USA brutalisiert worden, haben erst dort richtig gelernt, was Bandenkriminalität ist. Dank der Rückkehrenden haben die Maras in El Salvador großen Zulauf. Die Mitglieder sind jung, haben eine hohe Bereitschaft und Kapazität sich zu organisieren, vernetzen sich über ganz Zentralamerika, formieren eine Gesellschaft in der Gesellschaft und fordern die Gesellschaft heraus.
Woher kommt die Gewalt?
Die Gewalt haben die Banden-Kids nicht allein in Los Angeles gelernt. Vor 9 Jahren zählte man in El Salvador etwa 500.000 Jugendliche ohne Ausbildung, ohne Job und ohne Perspektive. Geboren und groß geworden in marginalisierten Vierteln haben sie die strukturelle wie auch die sog. innerfamiliäre Gewalt fast schon mit der Muttermilch aufgesogen, falls sie solche überhaupt je bekamen. Sie sind geprägt von engen und ärmlichen Wohnverhältnissen, ohne Intimität und Privatsphäre und von einer entwertenden und gewalttätigen Kommunikation. Ein Großteil verfügt über keinen oder einen dysfunktionalen Kontakt mit einer Vaterfigur. Hunger und Verwahrlosung sind Alltag.
Gleichzeitig wird die Migration in Richtung Norden zunehmend schwieriger und gefährlicher. Hunderte von MigrantInnen werden auf ihrem Weg durch Mexiko entführt und ihre Angehörigen in den USA um hohe Lösegeldsummen erpresst, ein Riesengeschäft. Wer hingegen in einer Mara mitmacht, findet dort Identität, Schutz vor Übergriffen und eine Art von Perspektive.
Maras gab es in El Salvdor allerdings auch schon vor dem Kriegsende. Bereits 1989, während der so genannten Schlussoffensive der FMLN in San Salvador, haben sich Maramitglieder in die Offensive integriert und ihre nicht gerade sehr funktionsfähigen „Pistolitos“ aus den Verstecken gezogen. Sie haben Schützengräben ausgehoben und Kurierdienste geleistet. Viele von ihnen konnten sich vorerst gut mit dem Kampf der Guerilla identifizieren, die meisten hauten aber nach zwei Wochen wieder ab.
Die Maras hatten seit jeher auch etwas sozial Rebellisches und sie ließen sich mobilisieren. In Los Angeles nahmen sie etwa an den Rodney King Riots teil, nachdem, ob der brutalen Polizeigewalt gegen den jungen Afroamerikaner Rodney King, Straßenschlachten ausbrachen und Kaufhäuser geplündert wurden. Neben den begehrten Sportschuhen ließen sie dabei notwendige Überlebensartikel für die Familie, Lebensmittel oder Windeln für die Kleinen mitgehen. Dies ist ein Grund, weshalb die Maras in den Elendsvierteln San Salvadors von der lokalen Bevölkerung geschützt werden. Sie bewegen sich dort wie Fische im Wasser, denn sie sind nicht nur brutal, sondern versorgen viele Familien mit Lebensmitteln, Kleidern und anderen überlebensnotwendigen Dingen. Neben dem informellen Sektor ist die Mitgliedschaft in einer Mara, eine der raren Möglichkeiten für junge Männer ein Einkommen zu erwirtschaften.
Stigmatisierung der jungen Männer
Untersuchungen zweier anerkannter Menschenrechtsorganisationen in San Salvador – „Tutela legal“ und FESPAD – haben ergeben, dass in den 1990er Jahren nur etwa 30 % der Morde auf das Konto der Maras gingen. Für die übrigen 70% waren außer der „üblichen“ Kriminalität Todesschwadronen, ehemalige Mitglieder des Elitebataillons Atlacatl und die Polizei verantwortlich. Opfer gezielter Folterung und Ermordung wurden linke AktivistInnen und Persönlichkeiten, aber ebenso Mitglieder der Maras. Mehr als die Hälfte aller Morde sind Teil gezielter staatlicher Repression und kommen einer eigentlichen sozialen Säuberung gleich.
Dennoch antwortete der Staat unter der Führung von Flores und später von Saca mit dem Konzept der „Mano dura“, der harten Hand. Wer jung war, wurde verdächtig. Wer ein Tatoo trug, gehörte zu den Mara. Ein paar Jugendliche, die zusammenstanden, bildeten eine Bande. Alle wanderten ins Gefängnis, wurden dort eingesperrt und gefoltert. Hätten sie wirklich Waffen getragen, hätten sie sich womöglich verteidigen können. Tausende junger Männer wurden so auf grausame Art stigmatisiert. Selbst Richter brüskierte ein solches Vorgehen und sie wehrten sich dagegen, junge Menschen allein wegen ein paar Tatoos für Jahre ins Gefängnis zu schicken. Derweil wurden eine Verschärfung des Waffengesetzes oder striktere Waffenkontrollen vom Staat strikt abgelehnt, denn der Waffenhandel lag in den Händen von Avila, dem Präsidentschaftskandidaten 2009 für die rechtsextreme Partei ARENA. Die Regierungskreise hatten kein wirkliches Interesse an einer Verbesserung der Sicherheitslage. Die Verunsicherung der Mittel- und Oberschicht ist sehr profitabel, besitzt doch Avila das größte Sicherheitsunternehmen des Landes.
Sind die Akteure Täter, Opfer oder beides?
Die Situation ist nicht ganz einfach zu verstehen. Nach einer Analyse der Frauenorganisation „Las Melidas“ über die gezielten Ermordungen von Frauen und Mädchen werden viele Verbrechen vorschnell den Bandenmitgliedern in die Schuhe geschoben. Viele Morde an Frauen wurden nicht von Maras begangen, einige hingegen schon. Erschreckend ist insgesamt das Ausmaß an Straflosigkeit. Bei Polizei und Justiz scheint niemand Interesse an der Aufklärung der Morde zu haben. Nur in 10% der Fälle wurde ein Täter identifiziert. Dabei bleibt oft unklar, ob die Angeklagten auch wirklich die Täter sind. Der grosse Rest der unaufgedeckten Fälle spricht eine klare Sprache – für die Täter wie auch für die Angehörigen der Opfer.
Die Entstehung und Stärkung der Maras birgt große gesellschaftliche Gefahren. Als nicht legitime Gewaltinstitutionen sind sie oft mit staatlichen Strukturen vernetzt und beteiligen sich im großen Stil am Drogen- und Waffenhandel. Auf machistische Art verteidigen sie ihr Territorium und töten, wer diese Grenze übertritt. Auf den Märkten und in den armen Stadtvierteln treiben sie Schutzgelder ein und finanzieren damit ihre Kumpel im Gefängnis sowie ihre Familien. Gleichzeitig sind sie Opfer brutaler Repression, von Folter und Mord sowie von einer eigentlichen sozialen Säuberung. Insgesamt dienen sie als Vorwand für eine zunehmende Militarisierung der Gesellschaft, wobei unklar bleibt, wer die Kontrolle über die staatlichen Zwangsmittel behält.
Die Gewalt hat verschiedene Gesichter. Sie wird von kriminellen Banden, ehemaligen Killern, Folterern und mafiösen Strukturen ausgeübt, in die auch die Nationalistische Allianz (ARENA) verwikkelt ist. Auch Polizei und Armee tragen zur Gewalteskalation bei, nicht nur die Maras. Die Gewalt ist strukturell verankert und eine Folge des Ausschlusses einer grossen Gesellschaftsgruppe von jeder sozialen und ökonomischen Perspektive und Partizipation. Diese Form von Gewalt frisst sich in die Seele der Menschen ein wie eine ätzende Säure und erhöht die Gewaltbereitschaft im Überlebenskampf, v.a. bei den Männern. Überleben in der Peripherie Für eine Veränderung braucht es womöglich vor allem eine klare Perspektive mit sozialen und ökonomischen Entwicklungsmöglichkeiten. Diese müssen erkämpft werden, dazu braucht es tragende soziale Netze, klare Visionen und eine reale Hoffnung auf soziale Veränderungen. Diesem Weg dienen auch die psychosozialen Projekte, die von medico international Deutschland und Schweiz unterstützt werden.
Es braucht eine neue Moral. Eine neue Form sozialer Verbindlichkeit, eine andere als die, welche in den Maras herrscht. Es braucht klare Grenzen, Tabus und neue Rituale. Die FMLN nannte dies: „La Mística Revolucionaria“ – die revolutionäre Mystik. Wir könnten es heute vielleicht Aufbruch nennen, eine neue Vision und Hoffnung. Schließlich braucht es auch eine gewisse Repression, um der massiven Gewalt Grenzen zu setzen. Aber es braucht keine Militarisierung der Armutszonen.
Maja Hess ist Oberärztin und Präsidentin von medico international Schweiz