Tod durch Verhungern

Kommentar des libanesischen Journalisten Hussein Ibish zur Situation der Palästinenser in Syrien

14.01.2014   Lesezeit: 7 min

Palästinensische Flüchtlinge in Yarmouk werden durch das syrische Regime bis zum Tode ausgehungert. Interessiert das irgendwen?

Es gibt nicht viel, was das palästinensische Volk nicht erlitten hat. Aber der Einsatz des erzwungenen Hungerns durch den syrischen Herrscher Bashar al-Assad im Yarmouk-Flüchtlingslager beschreitet neue Wege der Grausamkeit. Mittlerweile soll Hunderten durch Hunger, Verdursten, Medikamentenmangel und einem fast einjährigen Ausfall von Heizung und Strom unmittelbar der Tod bevorstehen.

Letztes Wochenende, so wurde berichtet, sind 41 palästinensische Flüchtlinge an den Folgen von Nahrungs- und Medikamentenmangel gestorben, und alles deutet daraufhin, dass es sich bei dieser Darstellung um niedrige Schätzungen handelt. Die Zahlen steigen weiterhin täglich.

Menschenrechtsgruppen sagten, dass allein heute acht weitere Palästinenser in Syrien an Unterernährung gestorben sind, unter ihnen ein 80 Jähriger, Jamil al-Qurabi, ein 40-Jähriger, Hasan Shihabi, und eine 50-Jährige Frau, Namens Noor. In der Zwischenzeit wurde der 10-jährige Mahmoud al-Sabbagh und zwei 19-Jährige, Majid Imad Awad und Ziad al-Naji, getötet, als sie gegen die Blockade des Lagers demonstrierten. Muhammad Ibrahim Dhahi, so wurde berichtet, wurde von Regimekräften zu Tode gefoltert, während Hasan Younis Nofal von einer der nun berüchtigten (Barrel) Fassbomben des Regimes getötet wurde. Gestern geriet ein mit dringend benötigter Nahrung und Medizin beladener LKW-Konvoi der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) unter Beschuss durch pro-Assad-Milizen, vermutlich die sogenannte PFLP-GC, als die Lastwägen versuchten das Lager zu erreichen. Die Helfer konnten die Nothilfsgüter nicht aushändigen.

Die PLO sagt, dass sie noch immer versuche mit „syrischen Offiziellen und (pro-Assad) Kämpfern in den palästinensischen Lagern in Syrien zu verhandeln, um eine Lösung zu finden und einen sicheren Korridor für das Einführen von Hilfsgütern nach Yarmouk zu erreichen“. Im Prinzip bangt sie um die Leben unschuldiger Palästinenser, die unter einer Blockade leiden, die zwar bedeutend kleiner ist als jene, die Israel oder Ägypten über Gaza verhängten, die aber ohne Zweifel unweit grausamer und willkürlicher ist.

„Alles ist gerecht im Krieg und Hunger ist eine der Kriegswaffen“, beobachtete Chief Jeremiah Obafemi Awolowo, Nigerias ehemaligen Finanzminister, der beschuldigt wird, eine künstlichen Hungersnot als Unterdrückungsmethode der Biafra-Seperatistenbewegung (während des Nigerianischen Bürgerkrieges 1966-70, Anm.) zu verantworten. Und gemäß Berichten fügte er hinzu: „Ich sehe nicht, warum wir unsere Feinde fett füttern sollten, damit sie härter kämpfen können.“ Genau.

Hunger als Kriegswaffe

Während des 20. Jahrhunderts wurde Hunger in zahlreichen Konflikten rund um die Erde als Waffe benutzt, aber selten im Nahen Osten. Es gab eine fürchterliche Hungersnot, teilweise durch das Osmanische Reich verursacht, sowohl vor als auch während des Ersten Weltkriegs. Die sudanesische Regierung wird immer wieder beschuldigt diese Taktik in Darfur benutzt zu haben. Aber die Araber, Israelis und Iraner haben keine wirkliche Geschichte solcher Praktiken. Bis jetzt.

Brutalität wurde zumindest seit dem Zweiten Weltkrieg alltäglich, aber vorsätzlicher Hunger war viel weniger gewöhnlich als Schüsse, Bomben, Massaker und sogar der Gebrauch von chemischen Waffen gegen Zivilisten. Palästinenser wurden von ihrem Land vertrieben, waren gezwungen in armseligen Flüchtlingslagern zu leben, wurden massenhaft ermordet durch verschiedenste feindliche Truppen, litten unter Jahrzehnten der Besatzung und Belagerung. Für eine gewisse Zeit waren sie sogar von Israel „auf Diät gesetzt“, offenkundig kalkulierte Israel, wie viele Kalorien jedem Einwohner von Gaza auf dem Höhepunkt der Blockade zustünden. Außer einem offenen Völkermord hat dieses Volk wirklich schon alles durchlebt.

Aber all diesen Widrigkeiten zum Trotz hat die Wildheit Assads es geschafft, eine sogar für Palästinenser neue Form des Leidens zu entdecken: Hunger als Kriegswaffe. Ich nehme an, dass es für ein Volk, welches fast alles andere bereits durchleiden musste, nur eine Frage der Zeit war, dass Palästinenser zu Tode gehungert würden. Das entscheidende ist aber nicht nur, dass Assad und seine Verbündeten – Iran, Hisbollah und Russland für diese Gräueltaten voll und ganz verantwortlich gemacht werden müssen. Es muss auch zur Kenntnis genommen werden, dass die internationale Gemeinschaft und die arabische Welt nicht genug tun, um darauf praktisch oder politisch zu antworten. Sie haben praktisch nichts gemacht als Yarmouks Vorkriegsbevölkerung von 250.000 in den letzten drei Jahren auf 18.000 ausgehungerte, kauernde und schauernde Seelen geschrumpft ist. Die Palästinenser gehören, vorhersehbar, zu den verwundbarsten Opfern in einem erbarmungslosen Konflikt, in dem sich die Syrer - und besonders ihre eigene Regierung - mit atemberaubender Boshaftigkeit gegeneinander gewendet haben. Wenn wenig gemacht wird, um den Syrern zu helfen, wie könnten dann Palästinenser hoffen, verschont zu werden?

Der Glaube an die Achse des "Widerstands"

Es ist mehr als bloße Apathie und Gleichgültigkeit, den Palästinensern in Yarmouk nicht zu helfen. Denn einzelne arabische Diskurse und Teile der „arabischen Seele“ sind regelrecht krank. Um gerecht zu bleiben: die meisten Araber sind entsetzt angesichts des syrischen Kriegs und zeigen ein tiefes Mitgefühl für die Leiden der Yarmouk Flüchtlinge. Aber keinesfalls alle. Jene, die noch immer am Altar des falschen Idol des „Widerstands“ beten und Assad, Iran, Hisbollah und ihre Verbündeten als Verkörperung der arabischen Sache sehen, sind nicht einfach hinterlistige oder wahnhafte Propagandisten. Ihr Denken ist hochgradig gestört.

Diese geradezu demente Einstellung wurde jüngst von dem Hisbollah- und Iran-nahen libanesischen Redakteur der Zeitung Al-Akhbar, Ibrahim al-Amin, unter Beweis gestellt. Ohne jegliches Gespür für Anstand oder Scham schreibt Amin: „die sich entfaltenden Ereignisse [in Yarmouk] sind zu 100% im palästinensischen Verantwortungsbereich“. Er behauptet: „Die Palästinenser in Syrien genossen Vorteile, die ihnen in jeder anderen Ecke der Welt vorenthalten werden“; was sicherlich auf Jordanien und westliche Staaten bezogen, aber möglicherweise auch selbst für das israelische Kernland unwahr ist.

Als Libanese glaubt Amin vielleicht sogar daran, dass die Palästinenser in Syrien im Vergleich zu jenen, die unter der regelrechten Apartheidpolitik im Libanon oder im Griff der israelischen Besatzung litten, historisch tatsächlich gut behandelt wurden. Amin beschuldigt die Hamas für die Krise verantwortlich zu sein, da es weder unter Dieben noch unter offiziell verbündeten Extremisten Ehre gäbe und bringt ein unverhohlen konfessionelles Argument gegen sunnitische, aber nicht schiitische Islamisten. Noch schlimmer, er beschuldigt die Palästinenser der „Beteiligung am Krieg in Syrien“, gerade jene Bevölkerungsgruppe in Syrien, die abgesehen von einer brutalen und kleinen pro-Assad-Miliz, jede Anstrengung unternahm, sich aus dem Konflikt rauszuhalten. Das ist vielleicht das erste Mal seit einem Jahrzehnt, dass ich die Hamas verteidige, aber in diesem Fall sind sie tatsächlich einfach nicht schuldig.

Amin behauptet, dass entweder 27 oder vielleicht 70 palästinensische Salafisten aus Gaza (er zitiert beide Zahlen) an den Kämpfen in Syrien teilnahmen. Man beachte: keine Mitglieder der Hamas. Angenommen dies ist wahr - und es wäre eine kleine Zahl verglichen mit den sunnitischen Kämpfern aus anderen Teilen der arabischen Welt und winzig im Vergleich zu schiitischen Kämpfern, besonders Amins Hisbollah-Kumpanen welche sich sammelten, um Assad zu helfen sein eigenes Volk zu ermorden - wer ist dann tatsächlich Schuld?

Für Amin sind es die Palästinenser selbst, die in Yarmouk schuldig sind. „Was tun diese Palästinenser? Warum tun sie das? Wer kann sie aufhalten, oder sie davon überzeugen, ihren Kampf woanders hinzutragen? Die palästinensischen Flüchtlinge sind diejenigen, die sich hinterfragen sollten.“ […]

Aber die schlimmste Krankheit ist nicht Amin, der nur ein ideologischer Schmierfink und bezahlter Handlanger ist. Sein Zynismus hat ein Preisschild. Das tiefer liegende Problem sind die Araber, die gewillt sind, sich mit seinen Erkläungsversuchen der extremen Grausamkeiten abzufinden. Und das noch größere Problem sind jene, die in der Vergangenheit von der durchsichtigen Lüge getäuscht wurden – egal ob sie begonnen haben, sie anzuzweifeln oder nicht – es gebe eine „Achse des Widerstands“, welche die syrische Diktatur, die iranische Theokratie und die Hisbollah beinhalte. Jene, inklusive manche Palästinenser, die entweder jetzt oder in der Vergangenheit alles stehen und liegen lassen würden, um das wirre Gerede von „Sayyed Hassan“ (Hassan Nassrallah, Generalsekretär der Hisbollah, Anm.) zu hören. […]

Selbst wenn wir annehmen, dass all jene Anhänger der angeblichen „Widerstandsachse“ das, was in Yarmouk passiert, ablehnen und zugleich von den Beschuldigungen Amins gegen die Opfer angewidert sind: Wenn die Ereignisse der letzten drei Jahre bei ihnen nicht zu tiefer Selbstreflektion führten und sie nicht dazu veranlassten ihr politisches Weltbild zu überdenken, bleiben sie in der Ideologie gefangen, welche direkt zur syrischen Tragödie und besonders zur Katastrophe der wehrlosen und ausgehungerten Flüchtlinge im Yarmouk Camp führte. Daher, selbst wenn sich ihre Symptome heute anders zeigen, bleibt dennoch die tieferliegende Krankheit undiagnostiziert und folglich unbeachtet - und unbehandelt.

Zusammenfassende Übersetzung von Christian Weber

Hussein Ibish ist Literaturwissenschaftler, Berater der „American Task Force on Palestine“ und Kolumnist bei NOW. Dieser Kommentar erschien im libanesischen Onlinejournal NOW, am 14. Januar 2014.


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