Gewalttätig und kriminell – junge Schwarze haben einen schlechten Ruf in Südafrika. Nach dem Ende der Apartheid hat das Land ihnen viel versprochen, aber wenig geboten.Eine Reportage von Ulrich Ladurner (Die Zeit).
Justify ist ein in Südafrika völlig unbekannter Mann, und doch hat er im ganzen Land einen schlechten Ruf. Denn er ist jung, er ist schwarz, und er hat keine Arbeit. Allein die Tatsache, dass es Millionen anderer Justifys in Südafrika gibt, macht ihn verdächtig. Die Statistiken sprechen eine klare Sprache: Junge südafrikanische Männer sind häufig gewalttätig, kriminell und vergewaltigen Frauen in großer Zahl. Das Land hat laut Interpol die höchste Vergewaltigungsrate der Welt.
Woher kommt so viel männliche Gewalt? Eine Studie der Weltbank formuliert die Antwort so: "Sehr hohe Arbeitslosigkeit und hohes Bevölkerungwachstum schaffen eine riesige Masse beschäftigungsloser Männer, die nichts zu verlieren haben." Es ist die weit verbreitete Theorie des "Überschusses an jungen Männern" ("youth bulge"). Allein durch ihre hohe Zahl, durch ihre nicht gebrauchte und daher überschüssige Energie würden sie zu einer Gefahr für die Gesellschaft. Das ist die quasi naturgesetzliche Annahme. Männer wie Justify kommen dabei als Masse vor, nicht als Individuum.
Justify ist ein schlanker Mann von 22 Jahren. Er hat seine Schule abgeschlossen, wohnt bei seinen Eltern auf dem Land, rund zwei Autostunden von der Hafenmetropole Durban entfernt. Es ist eine hügelige Gegend, in der auf kleinen Flächen Landwirtschaft betrieben wird. Für junge Männer gibt es hier so gut wie keine Arbeit. Darum fährt Justify wie viele andere aus seinem Dorf alle paar Tage mit dem Kleinbus in die Stadt, um einen Job zu suchen. Auf dem Weg dorthin kommt er an großen Fabrikhallen vorbei. Der japanische Autoriese Toyota, der holländisch-britische Nahrungsmittelproduzent Unilever; das sind nur zwei der größten Unternehmen, die sich im Süden von Durban niedergelassen haben.
Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Firmen, die hier ihre Fabriken aufgebaut haben, angezogen vom Hafen, der auf den Indischen Ozean blickt und einer der größten Afrikas ist. Er soll in den kommenden Jahren mithilfe chinesischer Investoren ausgebaut werden und zum wichtigsten Eingangstor chinesischer Waren für den afrikanischen Markt werden. Durban hat Ambitionen, ein Umschlagplatz der Globalisierung zu werden. Da müsste es für Justify und die anderen jungen Männer, die aus ihren Dörfern in die Stadt fahren, auch Arbeit geben. Doch ihre Reisen bleiben in den allermeisten Fällen ohne Ergebnis.
Und so sieht man in den Straßen der südafrikanischen Metropolen junge Männer, die viel Zeit haben – so wie in vielen anderen afrikanischen Großstädten auch. Dabei ist Südafrika mehr als ein normaler afrikanischer Staat, der mit Kriminalität und Gewalt zu kämpfen hat. Südafrika ist auch ein Versprechen, und zwar eines an die eigenen Bürger, vor allem an die schwarze Mehrheitsbevölkerung: Nach jahrzehntelangem Kampf gelang hier 1994 die Befreiung vom Apartheidregime. Der damals zum Präsidenten gewählte Nelson Mandela verkörperte die Botschaft, dass eine bessere Welt möglich sei. Südafrika erfand für sich die glückliche Formel von der Regenbogennation – einer Heimat für alle Menschen, egal welche Hautfarbe sie haben.
Die Verfassung Südafrikas ist eine der liberalsten und offensten der Welt, auch sie ist ein hehres Versprechen, ebenso wie die Aussicht auf Wohlstand und Wachstum. Schließlich hat das Land ein enormes wirtschaftliches Potenzial, es verfügt über eine gute Infrastruktur und riesige Rohstoffvorkommen. Die Erwartungen waren nach 1994 himmelhoch, entsprechend groß ist heute bei vielen die Enttäuschung. Die soziale Ungleichheit ist in den letzten Jahren gewachsen, die Korruption grassiert, die Jugendarbeitslosigkeit ist extrem hoch. Südafrikas politisches System findet dafür nicht die richtigen Rezepte. "Vielleicht sind nicht zu viele junge Männer das Problem", heißt es in einer weiteren Studie der Weltbank zum Thema Gewalt, "sondern die Tatsache, dass wir auf ihre Bedürfnisse keine angemessene Antwort finden können."
Männer wie Justify gehören zu der Generation der born frees, also derjenigen, die nach 1994 in Freiheit geboren wurden. Das ist ihr großes Glück, und doch hat diese Generation mit einer Leere zu kämpfen, die sich nach dem Ende der Apartheid ausgebreitet hat. Damit ist nicht nur der Mangel an Arbeit und Perspektiven gemeint. Es fehlt diesen Männern auch eine Vorstellung davon, welche Rolle sie in der Gesellschaft spielen können.
Die schwarzen Männer, die vor 1994 geboren wurden, gingen in Massen auf die Straße, wo sie von der Polizei des Apartheidregimes gedemütigt, geschlagen und beschossen wurden. Sie waren die Kampftruppen der Befreiungsbewegung, Helden der Freiheit. "Junge Männer, die sich gewaltsam wehrten, waren auch das Symbol für den politischen Kampf", sagt Simanga Sithebe von der NGO Sinani, die in Durban ihren Sitz hat. Mann sein hieß: nicht zurückweichen, mutig, stark und hart sein, mitunter auch gnadenlos mit den Gegnern. Das war für den Einzelnen gewiss schwer, doch es passte zu einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft wie jener in Südafrika. Der Krieger hatte seinen Platz.
Seit das Apartheidregime vor knapp zwanzig Jahren untergegangen ist, ist der Feind weg – die Gewalt aber ist geblieben. Sie hat keinen politischen Charakter mehr, sondern einen kriminellen. Sie hat sich tief im Inneren der Gesellschaft eingenistet. Sie spukt durch das Land wie ein böser Geist aus der Vergangenheit.
Enttäuschung wird größer, Selbstzweifel wachsen, es wächst die Wut
Die NGO Sinani versucht dem entgegenzuwirken, indem sie im Innersten ansetzt, an der Identität des Mannes, an seinem Selbstverständnis. Was heißt es heute in Südafrika, ein schwarzer Mann zu sein? Das klingt wie eine akademische Frage angesichts der Probleme, vor denen dieses Land steht, doch zielt sie auf das Praktische: Welche Fähigkeiten werden gebraucht? Wie kann man sich diese aneignen? Wie kann man Konflikte ohne Gewalt lösen? Wie sieht eine Gesellschaft aus, in der Männer wie Frauen ihren Platz finden?
Wenn man Justify zurück in sein Dorf folgt, dorthin, wo es viele wie ihn gibt, kann man ihn dabei beobachten, wie er in einem kleinen, einfachen Gebäude, das auch als Kirche dient, einen Workshop für junge Männer leitet. Sehr schnell wird sichtbar, dass seine Generation erst einmal eine Sprache für sich finden muss – irgendwann wird das die Sprache sein, welche das Land entscheidend mitbestimmen wird. Die Rhetorik der Befreiungsbewegung, die der regierende Afrikanische Nationalkongress immer noch pflegt, wirkt hier unter diesen born frees pompös und hohl.
Wo können diese jungen Männer also ansetzen? Bei einem männlichen Vorbild?
Keiner der Anwesenden ist mit einem Vater aufgewachsen. Die Väter sind entweder verstorben oder haben die Familie verlassen. Keiner hatte ein Vorbild in der Familie, der ihm den Weg hätte weisen können. Immerhin muss ein junger Mann in einer immer noch patriarchalisch geprägten Gesellschaft mit großen Erwartungen umgehen können: Er muss zum Beispiel in der Lage sein, eine Familie zu ernähren. Doch bevor ihm das überhaupt gelingen kann, muss er das Geld für eine Hochzeit aufbringen. Klingt einfach, ist es aber nicht. Unter den knapp Dutzend Teilnehmern des Workshops gibt es nur zwei, die verheiratet sind, alle anderen wären es gerne, doch fehlen ihnen die Mittel. Und die Jahre vergehen, sie werden älter und älter, die Enttäuschung wird größer, der Druck wird stärker, die Selbstzweifel wachsen, zugleich wächst die Wut.
Die jungen Männer sehen, dass es Altersgenossen gibt, die es scheinbar geschafft haben: Ein kleiner Diebstahl, und schon hast du eine Menge deiner Probleme gelöst; ein größerer Diebstahl, und du bist alle deine Probleme los. Stehlen die da oben nicht etwa auch, und zwar viel mehr, als wir je stehlen könnten? Sitzen die größten Räuber nicht an der Spitze, in den Ämtern des Staates und der Parteien?
Thami Langa kennt diese Gedanken. Er hat sie sich selbst gemacht, ja sie wurden ihm in der Township an den Rändern von Durban, wo er aufgewachsen ist, eingeflüstert von denen, die ihre kriminelle Karriere schon begonnen hatten. Warum nicht ihnen folgen? Es schien alles so einfach.
Thami war 17 Jahre alt, als das Apartheidregime fiel. Er gehört nicht zu den born frees, er hat die Gewalt des Regimes noch am eigenen Leib erfahren. Zahllose schwarze Familien wurden damals auseinandergerissen, weil die Angehörigen nicht dorthin ziehen konnten, wo der Mann oder die Frau Arbeit fanden. Thamis Mutter arbeitete weit weg, der Vater war verschwunden, die Großmutter versuchte zwar, ihm positive Werte einzutrichtern, doch sie stand in Konkurrenz mit den kleinen und größeren Kriminellen, die mit ihrem schnell erworbenen Reichtum prahlten. Da konnte die Großmutter nur verlieren. Thami drohte in die Kleinkriminalität abzurutschen, langsam, aber stetig. "Ich habe nichts allzu Schlimmes gemacht. Ich habe niemandem wehgetan", sagt er. Sein Glück war es, dass er irgendwann in Kontakt mit der Organisation Sinani und ihren "Young Men’s Project" kam. Dort erst lernte er, "dass ich auch etwas zustande bringen kann!" Es begann ein Weg, der ihn bis zu diesem Workshop führte, in dem er versucht, den anderen jungen Männern zu vermitteln, wie sie sich in dieser Welt bewegen können, die viel von ihnen erwartet und ihnen gleichzeitig sehr wenig bietet.
Thami hat gelernt, dass sein Schicksal nicht vorbestimmt ist, sondern dass er es auch selbst gestalten kann. Männlichkeit, das ist seine Erfahrung, ist nichts Statisches oder Gegebenes, sondern etwas, das immer wieder neu bestimmt und erworben werden muss – von jedem Einzelnen. Darum entpuppen sich demografische Prophezeiungen auf Basis des angeblichen Überschusses an jungen Männern "als rassistische und sexistische Vereinfachung, die junge afrikanische Männer aus unteren Einkommensschichten enthumanisiert", wie die Sozialforscher Gary Barker und Christine Ricardo in ihrer Studie zur Männlichkeit in den Ländern der Subsahara schreiben.
Wo also beginnen?
Mit dem, was da ist, so lautet die einfache Antwort. Justify malt gemeinsam mit den Workshop-Teilnehmern eine Landkarte der eigenen Umgebung auf ein großes, weißes Blatt Papier. Es ist eine seltsam anmutende Übung, denn alle diese Männer stammen von hier, sie müssen doch jede Straße, jedes Haus, jeden Platz kennen. Doch während die Landkarte nach und nach entsteht, gemalt mit roten, blauen, grünen Stiften, bemerkt man, dass es um etwas anderes geht. Diese jungen Männer machen sich die Landschaft erst einmal zu eigen. Sie geben der Leere der Post-Apartheid-Gesellschaft, die sie da draußen erwartet, eine Form und eine Struktur. Dann verorten sie sich selbst darin.
"Wo treffen wir andere junge Männer, die wir für uns gewinnen können?", fragt Justify in die Runde.
"Hier!"
"Und hier!"
"Und hier!"
Justify trägt die Orte ein, an denen junge Männer, die viel Zeit haben, herumlungern und mitunter auf dumme Ideen kommen. Diese Orte, welche die Polizei mit Argwohn betrachtet und Ältere mit Misstrauen ansehen, sind für Justify und seine Mitstreiter Orte der unbändigen Energie der Jugend. Ob diese Energie konstruktiv umgeleitet werden kann, ist eine entscheidende Zukunftsfrage für Südafrika.
Diese Reportage wurde zuerst veröffentlicht in derZeit.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Ladurner.
Spendenstichwort:
Seit 2001 unterstützt medico international SINANI – KwaZulu-Natal Programme for Survivors of Violence.