Von Rudolf Walther
Die „UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ enthält nicht weniger als 17 Haupt- und 169 Nebenziele. Für deren Umsetzung bietet die Agenda ein einziges Rezept an – wirtschaftliches Wachstum. Der Bericht von Thomas Gebauer, langjähriger Geschäftsführer von medico international, und dem Schriftsteller Ilija Trojanow über ihre Reisen nach Pakistan, Kenia, Sierra Leone, Mexiko, Nicaragua, Brüssel und Genf lässt die UN-Agenda und ihr Umsetzungsrezept als hoffnungslos unterkomplex und tendenziell zynisch erscheinen. Für wirtschaftliches Wachstum nämlich fehlen diesen Ländern die elementarsten Voraussetzungen, vor allem aber eine politische Perspektive, die nicht nur eine notfallmäßige Versorgung von unterernährten Kindern vorsieht, sondern auch die Beseitigung von Hindernissen, die den Blick auf strukturelle Veränderungen erst ermöglichen würden. Denn der Mangel an Lebensmitteln hat direkt zu tun mit Steuerflucht, Verschuldung, Korruption der Eliten und jenen internationalen Handelsabkommen, die den Zugang der Armen zu den Märkten der Reichen erschweren oder ganz blockieren und die Binnenmärkte der armen Länder mit Ramschware aus dem Westen überfluten.
Die globale Hilfsindustrie schwankt zwischen Hoffnungslosigkeit angesichts der „unerträglichen Ungerechtigkeit der real herrschenden Verhältnisse“ und Goldgräberstimmung, denn „Hilfe“ ist auch zu einem lukrativen Geschäftsmodell geworden. Einige Zahlen illustrieren die Lage: Hilfsorganisationen in Deutschland nehmen jährlich über sieben Milliarden Euro an Spenden ein, in den USA sind es 300 Milliarden Dollar, die aus Charity-Events fließen.
Zwischen Frust und Business
Die Entwicklungshilfe aller westlichen Staaten beläuft sich pro Jahr auf 135 Milliarden Dollar. Das klingt gewaltig. Allerdings kosteten allein die Kriege in Afghanistan und im Irak rund fünf Billionen Dollar, und in der Bankenkrise 2007/08 wurden 50 Billionen Dollar verbrannt. Nach Zahlen der OECD verlieren die armen Staaten mehr als dreimal so viel durch Steuerhinterziehung von Konzernen als sie an Entwicklungshilfe erhalten. In Deutschland ist der Verteidigungsetat fast fünfmal größer als jener für Entwicklungshilfe. Solche Einsichten und Zahlen sind nicht neu, aber immer der Verbreitung würdig. Denn blanker Wohlstandschauvinismus ist bis ins grün-neoliberale Juste Milieu hinein salonfähig geworden: „Die Welt wird, sozial gesehen, objektiv besser. Und gleichzeitig ökologisch und politisch bedrohter“, schrieb Peter Unfried in der taz vom 28. Juli 2018. So richtig der zweite Satz ist, so borniert ist der erste.
Mit Hilfe und Almosen für rund 800 Millionen Hungernde und Unterernährte werden die herrschenden Verhältnisse nicht verändert, sondern zementiert. Gebauer und Trojanow plädieren nicht für die Abschaffung von Nothilfe, sondern für eine kritische Revision des Hilfebegriffs. Dazu gehört, dass die Stimme der Notleidenden und Hilfebedürftigen gehört wird, bevor man mit punktuellen Interventionen in strukturell höchst komplexe Notlagen eingreift. Sie belegen diese Diagnose mit zahlreichen Beispielen aus Ländern durch vier Kontinente.
Deals statt Rechte
In Karatschi in Pakistan kamen vor sechs Jahren 259 Arbeiterinnen und Arbeiter um, als eine große Textilfabrik mit rund 10.000 Beschäftigten drei Tage lang brannte. Weder war es ein Unfall noch waren „höhere Gewalten“ im Spiel, wohl aber kriminelle Sicherheits- und Produktionsbedingungen, unter denen täglich 70.000 Jeans und Röcke für die westlichen Märkte produziert wurden. Wer sich gewerkschaftlich organisierte und wehrte, riskierte eine Anklage wegen „Terrorismus“. Qualitätskontrollen gab es zwar für die hergestellten Produkte, nicht aber für die Arbeitsbedingungen.
Der Menschenrechtsanwalt Faisal Siddiqi und der Gewerkschaftsverband klagten und erstritten nach Jahren harten Ringens fünf Millionen Euro Entschädigung vom deutschen Textil-Discounter kik für die Hinterbliebenen der Opfer. Das ist einerseits viel, andererseits lächerlich wenig Geld. Schlimmer aber ist, dass sich mit dem Vergleich an den katastrophalen sozialen Zuständen gar nichts ändert. Der Menschenrechtsanwalt hält den Deal für einen Fehler und zieht eine negative Bilanz: „Sie wollen das Problem mit Geld lösen, nicht durch Änderungen der Gesetze und Vorschriften.“
Auch ein anderer Fall belegt, dass der zur Normalität gewordenen Krise mit juristischen Mitteln allein nicht beizukommen ist. Der französische Konzern Veolia betreibt in der Millionenstadt Kairo die Müllabfuhr. In einem Schiedsgerichtsprozess gewann der Konzern gegen die Vertretung der Arbeiterinnen und Arbeiter, die für eine Erhöhung des monatlichen Mindestlohns von 41 auf 72 Euro kämpften. Daran zeigt sich, dass die Menschenrechte in vielen Regionen ein leeres Versprechen geblieben sind. Der installierte UN-Wirtschafts- und Sozialrat ist eine Chimäre. Die Schere zwischen Armut und Reichtum spreizt sich mit der Globalisierung immer stärker, und Ungleichheit ist zum größten Risiko geworden. Dem kann, wie Gebauer und Trojanow anhand zahlreicher Beispiele belegen, nicht mit der „Stärkung von Marktkräften“ begegnet werden, sondern nur durch eine Neujustierung der Handelsabkommen zugunsten der armen Länder und eine Mobilisierung der Bevölkerungen von unten („Graswurzelmobilisierung“).
Am Beispiel Bangladeschs lässt sich nachvollziehen, wie fragwürdig das vom Nobelpreisträger Muhammad Yunus propagierte Instrument der Mikrokredite ist. Oft dienen diese nicht dem kleingewerblichen Betrieb, sondern der Deckung von Grundbedürfnissen wie Arztkosten oder Schulgebühren. Und statt die Solidarität unter den Armen und ihre Kraft zu genossenschaftlichem und kooperativem Handeln zu stärken, fördern sie Vereinzelung und Kommerzialisierung sozialer Beziehungen. In Kenia arbeitet die Gruppe KAPLET im größten Slum für Menschenrechte und gegen Polizeiwillkür. In Nicaragua kämpfen ehemalige sandinistische Soldaten heute für Umweltstandards und gegen Privatisierungen unter der Devise: „Helfen? Nein. Gemeinsam kämpfen? Ja!“.
Das NGO-Dilemma
Die Autoren widmen ein ganzes Kapitel den falschen Strategien von Entwicklungshilfe, die auf der Entpolitisierung von Hilfe zur Wohltätigkeit und auf der Privatisierung von staatlichen Sozialleistungen verbriefter Existenzsicherung beruhen. So stecken viele NGOs in einem Dilemma: Sie können Herrschaftsverhältnisse unterminieren, aber auch stabilisieren, wenn sie etwa Defizite staatlichen Handelns kompensieren. Im letzten Kapitel des informativen Buches zeigen Gebauer und Trojanow, dass es auch „anders geht“, wenn sich nämlich die Politik von populären Vorurteilen verabschiedet: vom Vorrang der Konkurrenz vor Kooperation, privat vor öffentlich und groß vor klein. Sie plädieren für einen „radikalen Reformismus“ (Joachim Hirsch), der auf kooperative, solidarische und genossenschaftliche Lösungen setzt und Lernprozesse initiiert, die nicht nur auf „Spenden hier“ und „Helfen dort“ beruhen, sondern auf der Einsicht, dass die Veränderung von Denk- und Lebensweisen für die Veränderung von sozialen Beziehungen und Strukturen wichtiger ist als die Orientierung an machtpolitischen Perspektiven. Die Kampagne zum Verbot von Landminen, an der weltweit über 1.000 Initiativen beteiligt waren und der 1997 der Friedensnobelpreis verliehen wurde, ist ebenso ein Bespiel für die „Globalisierung von unten“ wie das People’s Health Movement in Bangladesch. Das Buch formuliert eine Alternative zum grün lackierten Neoliberalismus – eine solidarische und ökologische Ökonomie jenseits von Profit und blindem Wachstum.
Rudolf Walther ist freier Autor und Publizist und schreibt regelmäßig für diverse Medien.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2018. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!