In Syrien wird heute gewählt. 12.000 Kandidaten beworben sich, schlussendlich 3.500 kamen in die Schlussrunde, sprich: auf die Wahlzettel. Im Parlament gibt es 250 Plätze. Also eine ganz schöne Auswahl. Aber das täuscht. Eigentlich tritt niemand wirklich an, der nicht zu hundert Prozent dazu gehört. Selbst die zivile, unbewaffnete und von der Regierung geduldete Opposition im Land hat zum Verzicht aufgerufen. Zu durchsichtig ist das Manöver und zu absurd die Travestie eines demokratischen Referendums. Aber was passiert? Das syrische Staatsfernsehen zeigt seit dem Morgen Bilder aus den etwa 7.000 Wahlstationen, die überall dort aufgebaut sind, wo die syrische Armee das sagen hat. Man sieht Menschentrauben, Armeeangehörige, das Präsidentenpaar. Alle geben ihre Stimme ab, manche heben die Faust und erklären, wie glücklich sie sind, dabei sein zu können und das alles besser werden würde. Die Wahl steht unter besonderem Schutz. So erklärte Sadr Bulaghi, der Leiter der “Wahlhilfekommission“ aus dem Iran, dass die Parlamentswahlen in „voller Freiheit und Ruhe“ stattfinden würden. Und auch eine internationale zivilgesellschaftliche „Beobachtungsgruppe“ des australischen Social Justice Network mit Teilnehmern Großbritannien, Norwegen, Australien und dem Libanon sieht man durch die Wahlstationen laufen. Sie werden sicher bestätigen, wie geordnet und friedlich die Wahl von statten ging. Sie sind sicher keine besonderen Kritiker der regierenden Ordnung in Damaskus. Alles also unter Kontrolle.
Der Krieg der Parolen
Diese Wahl ist erst der dritte Urnengang, nachdem im Jahr 2012 erstmals seit der Machtübernahme der Baath-Partei im Jahr 1972 Parlamentswahlen und 2014 Präsidentenwahlen stattfanden. 2012 durften auch Kandidaten kandidieren, die nicht aus dem nationalen Block der Baath-Partei stammten, aber auch beileibe keine wirklichen Oppositionellen waren. Das ist diesmal anders. Eigentlich alle sog. „Oppositionsparteien“, die unter staatlichem Kuratel weiter im Assad-loyalen Syrien aktiv sein dürfen, haben diese Wahl boykottiert und als Farce bezeichnet. Zu Recht, wenn man sich überlegt, dass nur in den vom Regime kontrollierten Gebiet gewählt werden kann und zugleich Millionen von Syrer bereits aus dem Bürgerkriegsland geflüchtet sind. Dass dieser Krieg trotz aller Propaganda immer präsent ist, zeigt sich auch an den Wahlparolen, die sich von dem früheren Einheitsrufen „Voran mit Präsident Assad“ doch unterscheiden. Ein Kandidat wirbt mit dem Slogan „ Wir stehen für die Sicherheit“, ein anderer ließ plakatieren: „Im Gedenken unserer getöteten Kinder machen wir weiter“. Wieder andere sprechen im Namen der Armee, wenn sie sagen: „Ich bin die Stimme der Märtyrer und Verwundeten“. Denn der Krieg frisst nicht nur die Zivilisten und bewaffneten Rebellen, sondern auch die Angehörigen der „syrischen arabischen Armee“ (SAA), die mehr und mehr das eigentliche Rückgrat des syrischen Rumpfstaates bildet. Nach neuesten Zahlen sind mindestens 430.000 Syrerinnen und Syrer in dem seit fünf Jahren laufenden Bürgerkrieg ums Leben gekommen, davon alleine mindestens 60.000 Soldaten. Aber auch die Wirtschaft liegt in Trümmern. Und so werben Kandidaten mit dem Spruchbändern wie: „Lasst uns zusammen dafür sorgen, dass das syrische Pfund seinen alten Glanz zurückerobert!“. Über die letzten fünf Jahre des Krieges ist die syrische Währung so verfallen, dass sie mittlerweile auf dem Schwarzmarkt mit 1 zu 500 getauscht, früher war es lediglich 1 zu 50. Dazu ist der Krieg auch ein Turbobeschleuniger der allgegenwärtigen Korruption. Früher war die syrische Klientelwirtschaft schon berüchtigt, heute ist sie offen gepaart mit paramilitärischen Milizen, die vorgeben für die Sicherheit des Landes zu stehen, in Wahrheit aber eine Kriegswirtschaft mit enormen Profitraten etabliert haben. Dass hier ein Problem vorliegt, deuten Banner wie „Merzen wir die Korruption aus und bauen wir ein neues Syrien“ durchaus an.
Das viel größere Problem aber sind all die Regionen, wo nicht gewählt wird. Hier zeigt sich, dass diese Wahl allein die Bindung an den Präsidenten und die Institutionen stärken soll, dass sie aber nicht den Willen der gesamten Bevölkerung abbildet. Offiziell wird nur in der Provinz Raqqa und in Gebieten in Idlib nicht abgestimmt, also dort wo der IS oder die Nusra-Front ganze Gebiete halten und verwalten. Darüber hinaus gibt es Gegenden, wo aufgrund von „Sicherheitsproblemen“ nicht gewählt werden kann.
Der Kampf um nichts
Das palästinensische Flüchtlingslager Jarmuk, ein größeres Stadtteil im Süden von Damaskus, ist so eine „Problemzone“. Aber was heißt das eigentlich, was passiert dort in den Tagen des Wahlkampfs und der Wahl selbst? Wir haben bei unseren palästinensischen Partnern von Jafra nachgefragt. In Jarmuk, in dem zwischenzeitlich über 200.000 Menschen lebten, wohnen noch rund 10.000 Personen: all jene, die entweder zu arm zur Flucht waren – viele Frauen, Alte und Kinder – oder deren Leben jenseits ihres Viertels von bewaffneten Milizen jedweder Couleur bedroht ist. Im Lager patrouillieren islamistische Kämpfer, in den angrenzenden Vierteln regieren der IS oder Scharfschützen der syrischen Armee. Es gibt quasi kein Entkommen mehr. Also muss die Hilfe hineingelangen. Das tun wir zusammen mit Jafra und mit Hilfe des Auswärtigen Amtes. Aber auch das ist jetzt nicht mehr möglich. Denn in der Ruinenlandschaft von Jarmuk, nur etwa fünf Kilometer vom syrischen Präsidentenpalast entfernt - also dort, wo gewählt und die Einheit des Landes gepriesen wird - finden vielleicht die aktuell grausamsten Kämpfe im ohnehin grausamen syrischen Bürgerkrieg statt: Verbände des IS kämpfen gegen die gleichfalls dschihadistischen Milizen der Nusra-Front. Auf kleinstem Raum drängen IS-Selbstmordattentäter in Wohnungen und Stützpunkte der Nusra-Front und sprengen sich in die Luft. Gelingt es einer Fraktion einen Kämpfer der anderen lebendig zu fangen, wird ihm der Kopf abgeschnitten und auf die Straße geworfen. Da die Nusra-Front nur noch zwei Stellungen habe und ein Sieg des IS wahrscheinlich sei, bereiten sich die verbliebenen palästinensischen Milizen und Einheiten der sog. „Freien Syrischen Armee“ ebenfalls auf eine Art „letztes Gefecht“ vor. So sollen palästinensische Kämpfer ihren Frauen Sprengstoffgürtel umgebunden haben, damit diese sich vor einer möglichen Gefangennahme durch den IS selbst töten. Ein böses Gerücht? Mag sein, aber zugleich auch vorstellbar.
Nochmal zu Erinnerung: Jarmuk ist etwa 20 Minuten mit dem Fahrrad vom Präsidentenpalast entfernt. Und ansonsten wird in Syrien gerade gewählt. Noch bizarrer ist der Umstand, dass sich viele Kämpfer der aktuellen Todfeinde mit Namen kennen, manche haben waren sogar Klassenkameraden in den Schulen von Jarmuk. Jetzt rufen sich gegenseitig an der Frontlinie persönliche Verwünschungen zu oder telefonieren sogar miteinander. Das syrische Regime selbst ist in diesem Stadtviertel nur an den Rändern präsent. Nachts bombardiert es Jarmuk um zu verdeutlichen, dass es auch noch da ist. Es reicht ja wenn andere ihr Geschäft erledigen.
Das Überleben im Elend
Für Jafra ist das alles, was hier wie das Skript zu einem drittklassigen Splatter-Film klingt, ein zutiefst ermüdender Alltag. Aufregen tut sich bei unserem Partner in der Zentrale in Beirut ohnehin keiner mehr über solche Geschichten. Die Mitarbeiter müssen ja nur an sich selbst denken. Da ist etwa B., der Finanzchef der Organisation. Als er noch in Jarmuk lebte, wurde er vom Regime gesucht und stellte sich nicht. Der Geheimdienst erschoss seinen Bruder. Er stellte sich immer noch nicht. Dann wurde sein Vater erschossen. Er flüchtete nach Beirut und arbeitete weiter. Zuvor aber machte er noch seine Büroräume unbrauchbar, indem er die Kanalisationsrohre zerschlug und das Erdgeschoss mit Fäkalien flutete: „Ich wollte um alles in der Welt verhindern, dass die Islamisten hier einen Checkpoint einrichten“. Zur Wahl wollen sich Jafra nicht weiter äußern. Sie weisen eher auf die katastrophale Lage in Jarmuk hin. Auf die Tatsache, dass der IS eine der wenigen noch funktionierenden Wasserpumpen zerstört hat. Das es hunderte Fälle von Typhus, Hepatitis und Gelbsucht wegen kontaminierten Wasser gäbe und das ihre Verteilaktionen der Essenspaketen in denen letzten Monate die einzige verlässliche Nahrungsmittelversorgung im Lager war. Das es seit 2013 keinen Strom mehr gibt, kaum noch Kochgas oder Diesel. Das die Krankenhäuser entweder mutwillig abgebrannt wurden oder keinerlei Medikamente mehr hätten. Das man in Jarmuk eigentlich nicht mehr leben könne, höchsten vegetieren. Besonders gelte das für die Kinder.
Eine Frage, so die Partner von Jafra, stelle sich aber schon: Wie kann es eigentlich sein, dass es in einem seit vier Jahren abgeriegelten Gebiet, in dem es über 150 Hungertote gab, in dem noch nicht einmal mehr ein Schwarzmarkt für Lebensmittel existiert, tagelange Kämpfe stattfinden können und offenbar keiner Fraktion der Nachschub ausgeht? Alle Ausgänge aus Jarmuk heraus, soviel steht fest, werden von Paramilitärs des Regimes und der syrischen Armee kontrolliert. Jarmuk selbst kommt nicht zur Ruhe und die verbliebenen etwa 10.000 Menschen haben überhaupt keine Wahl mehr. Egal wer im syrischen Parlament sitzt, sind sie einem furchterregenden Abnützungskrieg von Straße zu Straße, von Haus zu Haus ausgesetzt, der niemanden zu verschonen verspricht. Hier weg kann niemand mehr. Die Mehrheit der 10.000 verbliebenen Bewohner von Jarmuk sind Palästinenser. Sie sind zu arm zum Fliehen oder werden von den Häschern des Regimes gesucht.
Die doppelte Farce
Unterdessen zeigt das syrische Staatsfernsehen Bilder von jungen Studenten, die sich an der medizinischen Fakultät um die Wahlurne drängen. Es sind freundlich aussehende junge Leute, westlich gekleidet, darunter auch junge Frauen, einige mit Kopftuch, viele aber auch ohne. Sie sagen, dass sie ihre Stimme „gegen den Terror“ und für ein „unabhängiges Syrien“ abgeben wollen. Das tragische dieser Wahl ist ja nicht nur, dass sie eine Inszenierung bleibt, sondern das in Jarmuk oder anderen von Rebellen „befreiten Gebieten“ sich diese jungen Leute kaum so versammeln könnten, zumindest nicht Frauen und Männer zusammen. Die syrische Opposition hat es bislang nicht geschafft, einen tatsächlich demokratischen Gegenentwurf zum republikanischen Monarchismus der Assad-Familie und den autoritären Institutionen des syrischen Staates zu schaffen. Vielleicht ist dies in Ansätzen in den kurdischen Gebieten gelungen. Entsprechend kommentierte heute Morgen auch Idriss Nassan, Sprecher des Kantons von Kobane, die Wahlen im Assad-Syrien mit den Worten: „Es ist eine Wahl ohne Wähler, sie ist nicht demokratisch und für uns nichtig“.
Für unsere Kollegen von Jafra geht es jetzt darum die Grundversorgung in Jarmuk irgendwie wieder in Gang zu bringen. Es geht um Zugang zum Lager und ein Ende der Kämpfe. Sie sehen ihre Aufgabe jetzt darin die verbliebene palästinensische Bevölkerung zu schützen und sie irgendwie durch die Wirren dieses Krieges zu bringen. Denn eins wissen sie sehr genau, als syrischer Flüchtling zählst du in den Anrainerstaaten nicht viel, als palästinensischer Flüchtling aus Syrien zählst du aber in den arabischen Nachbarstaaten noch weniger, weniger als nichts. Du bist nur ein verachteter Staatenloser, der Paria unter den Geflüchteten.
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Martin Glasenapp