Die Hitze macht den Menschen in den provisorisch errichteten Flüchtlingscamps besonders zu schaffen. Ob Skorpionbisse, schlechte Wasserqualität oder Mangelernährung – die Situation für die etwa zehntausend Flüchtlinge aus Afrin ist in den drei provisorisch errichteten Camps schwer auszuhalten. Insgesamt halten sich etwa 100.000 Personen in der Region Tal Refaat - auch Sheba genannt - auf. Sie alle flohen im Frühjahr vor den türkischen Luftbombardements und unberechenbaren, islamistischen Milizen, die sich unter Duldung der türkischen Verwaltung bis heute frei in Afrin bewegen. Eine Rückkehr unter der türkischen Besatzung in Afrin ist für die meisten Flüchtlinge zurzeit keine Option. Berichte derjenigen die zurückgekehrt sind schrecken ab: Zerstörung und Verfolgung durch die Milizen und türkische Verwaltungsposten, die das Leben der Bevölkerung nun bestimmen und sie unter Druck setzen. Die meisten demokratischen Errungenschaften der letzten Jahre sind zunichte gemacht.
So bleibt als einzige Option das Warten in den Flüchtlingscamps. Bis nach nach Kobanê oder Aleppo haben es die meisten Familien nicht geschafft. Denn dafür hätten sie syrisches Regimegebiet durchqueren müssen. Sheba liegt eingeschlossen zwischen Gebieten die türkeinahe Milizen und syrische Regimetruppen kontrollieren. Eine direkten Zugang in die selbstverwalteten Gebiete von Rojava gibt es nicht. In den ersten Tagen erhoben Regimesoldaten Wegzoll für die weitere Flucht und auch jetzt werden Genehmigungen zur Passage nur selten erteilt. Und selbst wenn sie den Weg nehmen könnten – was wäre das Ziel? Also warten sie auf die Rückkehr nach Afrin, in ihre Häuser und ihre Höfe oder die Wohnungen in den Städten. Inzwischen warten sie seit einem halben Jahr. Drei Flüchtlingscamps sind seitdem entstanden. Viele Familien haben sich in verlassenen Gebäuden in Dörfern der Umgebung niedergelassen. Dort wütete vor etwa zwei Jahren noch der IS und vertrieb die Bewohner*innen. Viele Häuser und Felder waren daher bei Ankunft der Familien noch vermint.
Medikamente für Gesundheitsposten
Ohne die Nothelfer*innen vom Kurdischen Roten Halbmond und ehemalige Verwaltungsmitarbeiter*innen aus Afrin Stadt, wäre die Situation für die Menschen wohl kaum zu ertragen. Denn sie organisieren die Hilfe, auch wenn sie nur schwer durchkommt. medico unterstützte sie dabei von Beginn an und steht auch jetzt noch in regelmäßigem Austausch. „ Es braucht internationalen Druck. Die hilfsbedürftigen und kranken Menschen brauchen eine angemessene Behandlung. Und zur Vermeidung der Ausbreitung von weiteren Krankheiten braucht es dringend eine humanitäre Intervention von außen, internationale Hilfsorganisationen sind hier gefragt.“ sagt uns Amina Nour vom Kurdischen Roten Halbmond, die seit Wochen als Ärztin an dem Gesundheitsposten in Sherawa arbeitet. Die Nothelfer*innen sind non-stop im Einsatz, oft sind sie selber geflohen. Meist übernachten sie direkt in den Gesundheitsposten, da sie keine andere Unterkunft haben. Sie dokumentieren die Flüchtlinge und die Kranken, um den Überblick nicht zu verlieren. Sie berichten weiter von der notdürftigen Versorgungslage: Hilfe gelingt nur schwer zu ihnen. Es fehlt an vielem Grundlegendem und trotzdem versuchen sie die Gesundheitsversorgung so gut es eben geht aufrecht zu halten.
Inzwischen konnten sie in der Sheba-Region sieben Gesundheitsposten aufbauen. In kleine Zelten findet die Erstversorgung der Kranken stattfinden, zwischen 60 und 150 Patienten werden am Tag behandelt. Die Menschen kommen mit Atemwegs- oder Darmerkrankungen zu den Helfer*innen. Masern, Krätze oder Leishmaniose sind ebenfalls häufige Krankheitsbilder, in der Regel verursacht durch die schlechten hygienischen Bedingungen, die Hitze und Mangelernährung. Aktuell unterstützt medico die Ausstattung dieser Gesundheitspunkte mit Medikamenten. In dem Ort Fafin ist in den letzten Wochen ein kleines Krankenhaus eröffnet worden, um Patienten längerfristig zu versorgen. Aber auch hier fehlt es an Personal und Ausstattung. Schwerverletzte Unfallopfer oder KrebspaptientInnen finden dort keine Hilfe, sondern müssen Wege in das nächstgelegene Krankenhaus nach Aleppo finden. Der Weg führt durch syrisches Regimegebiet, für das Passieren braucht es Genehmigungen, die oft lange dauern oder willkürlich nicht erteilt werden. Wie lange die Nothelfer*innen diese prekäre Versorgungslage aufrechterhalten können ist nicht klar. Sie sind dafür auf Hilfe und Aufmerksamkeit von außen angewiesen, internationale Hilfe gelangt jedoch kaum zu ihnen.
Bis zur Rückkehr: Warten und Selbstorgansierung
In den Flüchtlingscamps fangen Bewohner*innen und Verwaltungsmitarbeiter*innen an das Camp-Leben selber in die Hand zu nehmen. Es gibt inzwischen eine Kinderbetreuung, Schulen, Kulturprogramm und verschiedene Workshops. Dabei geht es auch darum Erlebtes zu verarbeiten. Die Bombenangriffe aus der Luft, Übergriffen der islamistischen Milizen und die Flucht aus Afrin lassen sich unter diesen Lebensumstände schwer vergessen. Besonders die Kinder schlafen schlecht und werden immer wieder von den Kriegserinnerungen eingeholt. Eine Normalität und ein Alltag scheint zurzeit in weiter Ferne. Eine Rückkehr in das besetzte Afrin ist für die meisten keine Option. Diejenigen, die zurückgegangen sind berichten von Zerstörung und Verfolgung unter türkischer Herrschaft. Auch können sich die Milizen weiter frei bewegen und setzen die zurückgebliebene Bevölkerung unter Druck.
Wie es für die knapp 100.000 Menschen in Afrin weitergehen wird mag niemand vorhersehen. Die Auseinandersetzungen um Idlib stehen zurzeit im Fokus dieses schon längst entgrenzten Stellvertreterkrieges. Die türkische Verantwortung für den Rückzug der islamistischen Milizen aus Idlib, bietet eine eher düstere Perspektive für eine Rückkehr nach Afrin. Die geplanten Demilitarisierungszonen grenzen direkt an Afrin und Sheba. Ein Rückzug der Türkei ist nicht in Sicht.
In der diesem fragilen Gefüge dürfen die Menschen in Sheba nicht vergessen werden. Es ist die Pflicht der internationalen Gemeinschaft für den Schutz der zivilen Bevölkerung in Syrien einzutreten. In Idlib und in Afrin. Dies bedeutet für die wartenden Menschen in Sheba die Rückkehr nach Afrin zu organisieren und eine humanitäre Versorgung für die Flüchtlinge in Sheba zu garantieren. Während die Bundesregierung die Normalisierung der Beziehungen zur Türkei sucht und Erdogan in Berlin empfängt, bleibt die Situation der Menschen, die unter der türkischen Besatzung leiden weiter ungeklärt. Der völkerrechtswidrige Militäreinsatz der Türkei in Afrin fand unter zur Hilfenahme des deutschen Leopard-II-Panzer statt. Eine indirekte Verantwortung der deutschen Bundesregierung ist nicht von der Hand zu weisen. Die Reduzierung der Rüstungsexporte beruhigt vielleicht kurzzeitig die Gemüter, eine klare Absage an Aufrüstung und Waffenexporte ist dies jedoch noch lange nicht.
medico unterstützt weiter die humanitäre Hilfe in Nordsyrien - besonders für die Geflüchteten aus Afrin. Während sich die Bundesregierung für die Normalisierung der Beziehung mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan einsetzt, setzt sich medico für den endgültigen Stopp der Rüstungsexporte ein.
<link jetzt-spenden>Spendenstichwort: Syrien