Fonds für Bewegungsfreiheit

Wider die Freizügigkeit

26.08.2024   Lesezeit: 5 min

Kriminalisierung entlang der Sahel-Sahara-Route bis ans Mittelmeer. Von Leonie Jantzer.

Mobilität wird im Alltag in Westafrika als normal empfunden. Dabei sind die Gründe, die zum Aufbrechen der Menschen führen vielfältig: Seien es die Pastoralist:innen, die als nomadisches Volk über Grenze hinweg mit ihrer Karawane ziehen; seien es die Landwirt:innen, die in der Trockenzeit aus den Sahelstaaten Richtung westafrikanische Küstenländer temporär migrieren; seien es die Frauen oder Männer, die zeitweise in die Maghrebstaaten migrieren, um dort im Baugewerbe oder in der Hauswirtschaft zu arbeiten. Dank des Freizügigkeitsabkommens, das von den meisten Staaten Westafrikas (1979) verabschiedet wurde, ist der Großteil der Migration im Sahel interregional und legal abgesichert. Dennoch ist die Sahelzone zu einem wichtigen Korridor und Ausgangspunkt für Menschen geworden, die versuchen Europa zu erreichen – oft unter großem persönlichem Risiko.

Genau diese zirkuläre Migration, die kulturell und historisch in das Leben westafrikanischer Gesellschaften verankert ist, ökonomische Stabilitäten mit sich bringt und juristisch legitimiert ist, wird durch die Bestrebungen der Europäischen Union, Migration auf dem afrikanischen Kontinent zu kontrollieren und zu steuern, zerstört. Ziel der EU Migrationspolitik ist es, gegen sogenannte kriminelle Schleuser:innen vorzugehen. Durch die Interventionen der EU werden Migrationsrouten, die ursprünglich legal waren, gefährlicher, teurer und verlagern sich räumlich.

Die Spuren der Kriminalisierung der Mobilität im Niger

Dass durch diese Politik Personen und Handlungen kriminalisiert werden, die zuvor völlig legitim und normal waren, wurde mit der Einführung des Anti-Migrationsgesetzes 036-2015 auf Druck und mit Geldern der EU und Deutschland im Niger möglich. Mit der Implementierung des Gesetzes im Jahr 2016 wurde der Transport von nicht-nigrischen Staatsbürger:innen von Agadez im Niger nach Libyen und Algerien zu einer Straftat. Zudem sind die Kosten für die Reise von Agadez nach Libyen seit 2016 um das Vierfache angestiegen. Damit wurde Migration, die eigentlich im Freizügigkeitsprotokoll von 1979 geregelt ist, von einem Tag auf den anderen kriminalisiert. Zugleich verloren die Pick-Up-Fahrer ihre Arbeit und wurden über Nacht zu Schleusern.

Entlang dieses Anti-Migrationsgesetzes zeichnet sich anschaulich ab, dass harte Sicherheitskonzepte und höhere Migrationshürden Menschen nicht davon abhalten können, zu migrieren. Stattdessen treiben solche Maßnahmen sie auf gefährliche irreguläre Routen, bereichern den Menschenhandel und gefährden vulnerable Bevölkerungsgruppen. Die EU hatte also mit diesem Deal in ihrem angeblichen Kampf gegen Schlepperei solche Netzwerke vielmehr gefördert.

Das Gesetz zur Kriminalisierung von Migration ist im November 2023 von der Militärjunta gekippt worden, allerdings endet damit nicht die Kriminalisierung von Migration. Zwar ist es für alle Menschen wieder möglich, auf legalem Weg nach Libyen, Algerien oder in den Nordniger zu reisen. Dennoch werden weiterhin Migrant:innen kriminalisiert und inhaftiert. Seitdem ist es jedoch schwieriger geworden, die Gründe dafür ausfindig zu machen. Zudem nutzen Migrant:innen die irregulären Routen weiterhin, um nicht ständig an Checkpoints angehalten zu werden und unverhältnismäßig hohe Gebühren zahlen zu müssen. Die Kriminalisierung der Migration innerhalb des Nigers hat also seine Spuren hinterlassen.

Kriminalisierung von Migration innerhalb und Beihilfe zur Migration ausgehend von Marokko

Doch auch angekommen in den Maghreb-Staaten – Libyen, Algerien, Marokko und Tunesien – sind Migrant:innen mit weiteren Repressionen und Schwierigkeiten konfrontiert. In Libyen laufen sie Gefahr, von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren festgehalten zu werden und zu Zwangsarbeit verpflichtet oder sexuell ausgebeutet, entführt, gefoltert oder gar ermordet zu werden. In Marokko und Tunesien kommt es zu willkürlichen und illegitimen Inhaftierung von Migrant:innen durch staatliche Polizeien. Jeden Tag werden Migrant:innen durch Razzien inhaftiert, in abgelegenen Städten oder Wüstengebieten ausgesetzt oder müssen sich abends freikaufen. Es ist also zu einem lukrativen Geschäft geworden, die Personen zu inhaftieren und sich von ihnen auszahlen zu lassen.

Unter den unzulässig inhaftierten Migrant:innen befinden sich häufig auch solche, die fälschlicherweise der Schlepperei beschuldigt werden. Sie statten sich angesichts der geschlossenen Grenzen mit prekären Mitteln wie Schlauchbooten und Schwimmwesten aus, um anderen Migrant:innen gegen Geld bei der Überfahrt zu helfen. Andere wiederum erhalten eine kostenlose Überfahrt nach Europa, wenn sie das Boot steuern. Sofern sie dafür inhaftiert werden, droht ihnen eine Verurteilung zu fünf oder zehn Jahren Haft. Das Urteil wird durch eine willkürliche Gerichtsbarkeit in Marokko getroffen. Zugang zu Anwält:innen oder Übersetzer:innen haben sie keine. Einige Migrant:innen sitzen ohne Prozess in den Gefängnissen fest und wissen nicht einmal, warum sie dort sind.

Weitere Instrumente, um sogenannte irreguläre Migration zu reduzieren und gegen Schleppernetzwerke außerhalb der EU vorzugehen, sind Migrationsabkommen mit den Maghreb-Staaten. Zuletzt hat die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen verkündet, dass das mit Tunesien unterzeichnete Abkommen vom 16. Juli 2023 als Vorbild für die Kooperation der EU mit den Ländern der Region dienen solle. Weitere Aufgriffe von Booten mit Flüchtenden an den nordafrikanischen Küsten und Rückschiebungen auf dem Land in Wüstengebiete sind zu erwarten. Zeitgleich wirkt die Widerstandskraft und Autonomie der Migration weiter gegen jegliche Abschottungspläne. So kamen im September 2023 über 10.000 Menschen per Boot in Lampedusa an.

Migration setzt sich wider jeder Kriminalisierung fort

In der Konsequenz lässt sich beobachten, dass nachdem das Gesetz 2015-036 im November 2023 gekippt wurde, Bewegungsfreiheit im Niger zwar wieder möglich ist, aber diese in den Maghreb-Staaten endet. Darin zeigt sich primär eine Kriminalisierung und Politik gegen Schwarze Menschen und damit gegen Menschen aus Subsahara-Afrika. Das haben nicht zuletzt die Border Forensic-Studien zur Kriminalisierung von Migration durch den Niger und zum Melilla-Massaker nachgewiesen. Inmitten all dem wird vergessen, dass Migration schlichtweg eine Antwort auf schmerzlich erlebte Perspektivlosigkeit ist, die sich nicht durch Zäune steuern lässt.

Leonie Jantzer ist Kultur- und Migrationswissenschaftlerin. Als Aktivistin des Alarme Phone Sahara und des transnationalen Netzwerks Afrique-Europe-Interact verfolgt die Migrationsbewegungen innerhalb der Sahel-Sahara-Zone. Sie promoviert zu Sicherheitsdeutungen und -praktiken von Geflüchteten und Polizist:innen in Deutschland vor dem Hintergrund des Versicherheitlichungsdiskurses von Migration.

Mit dem Fonds für Bewegungsfreiheit unterstützen wir Menschen, die an den Rändern Europas unrechtmäßig in Gefängnissen sitzen oder sich verteidigen müssen. Wir finanzieren Prozess- und Anwaltskosten, unterstützen im Alltag und schaffen mit öffentlichen Kampagnen Aufmerksamkeit – weil Flucht kein Verbrechen ist. Helfen Sie uns dabei!


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