Die Nachricht schlug in EU-Kreisen ein wie eine Bombe. Am 25. November 2023 ist das nigrische Militär als neuer Machthaber des Landes aus dem Migrationsdeal mit Europa ausgestiegen und hat das Gesetz 2015-036 aufgehoben. Dieses stellte die Grundlage für die Kriminalisierung von Geflüchteten und Migrant:innen dar, die das Land Richtung Norden durchquerten. Transporteure durften nicht mehr transportieren, Verkäuferinnen nicht mehr verkaufen. Alles was die Menschen bei ihrem Weg durch den Niger hätte unterstützen können, wurde potentiell kriminalisiert. Der medico-Partner Alarme Phone Sahara (APS) schickte Bilder von dutzenden beschlagnahmten Pick-Ups, die sonst für Fahrdienste durch die Wüste genutzt wurden. Fahrer, die ihre Dienste dennoch anboten, wurden als Schmuggler verhaftet und eingesperrt.
Dass das Gesetz die Migration nicht wirklich stoppte, sondern viel tödlicher machte, ist mittlerweile eine Binsenweisheit. Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen verdursteten in der Sahara-Wüste, weil Fahrer aus Angst vor Verhaftung nicht mehr die regulären Pisten nehmen konnten und bei Pannen keine Hilfe holten. Die Kolleg:innen von Alarmphone Sahara fanden auf vielen Einsätzen in der Wüste die Leichen von Menschen, oft schon halb von Sand begraben. Offizielle Statistiken gibt es dazu nicht. Die medico-Partnerorganisation Border Forensics hat erst im Sommer 2023 eindrücklich analysiert, wie die Routen durch das Gesetz und den Einfluss der EU immer tödlicher wurden. Auch die lokale Wirtschaft war davon schwer betroffen.
Die EU hat sich das Gesetz einiges kosten lassen: Allein in den Jahren 2015 bis 2020 wurden mehr als eine Milliarde Euro an Entwicklungszusammenarbeitsgeldern gezahlt. Und auch die beiden Militäreinsätze „EUCAP Sahel Niger“ und die „EU Partnership Mission Niger“ waren Teil dieser Umarmungsstrategie, in der das nigrische Militär auch zum „Kampf gegen die illegale Migration“ ausgebildet wurde. Beide Einsätze wurden mittlerweile ebenfalls von der Militärregierung gestoppt. Nicht umsonst titelte die Süddeutsche Zeitung nach der Entscheidung der Militärjunta: „Der Stoff, aus dem Europas Albträume sind“.
Die Menschen in Agadez, dem Tor zur Wüste gen Norden, sind jedoch glücklich, dass das Gesetz endlich abgeschafft wurde, berichtet Moctar Dan Yaye vom Alarmphone Sahara. Auf Aufnahmen ist zu sehen, wie die Fahrten durch die Wüste wieder bei Tageslicht stattfinden, Autos an Quellen halten, um sich mit Trinkwasser bei der langen Fahrt zu versorgen. „Weder die Fahrer noch die Migrant:innen aus dem Niger oder anderen ECOWAS-Mitgliedsstaaten müssen sich mehr verstecken“, schreibt Alarmphone Sahara.
Hinzu kommt, dass die als Schlepper verurteilten Fahrer freigelassen und rehabilitiert worden sind. Sie können ihrer Transporttätigkeit ohne Kriminalisierungsgefahr wieder aufnehmen. Fahrten finden wieder in langen Kolonnen statt, was bei Pannen und vor bewaffneten Banden schützt, die immer wieder einzelne Fahrzeuge angreifen. „Die Normalität wurde wiederhergestellt“, sagt Moctar. Denn Migration gehört zum Alltag, zur Geschichte und Kultur der nigrischen Stadt, die zu Füßen der Sahara-Wüste liegt.
Nur zu einem Bruchteil hat diese Migration in Westafrika Europa zum Ziel. Zu fast 90 Prozent ist sie zirkulär: Die Menschen gehen zum Arbeiten beispielsweise nach Algerien oder Libyen und kehren nach einer gewissen Zeit wieder zurück. Es ist der geopolitischen Gemengelage zu verdanken, die den externalisierten Grenzkontrollposten der EU hat zusammenbrechen lassen. Die Militärregierung distanziert sich von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich und nähert sich Russland an. So erhofft sie sich größere Handlungsoptionen.
Von der Militärrregierung aus der Hauptstadt Niamey hieß es dazu: „Das Gesetz 2015-036 habe keine Rücksicht auf die Interessen Nigers und seiner Bürger" genommen. Es darf dennoch bezweifelt werden, dass die Militärs, das Gesetz, das sie jahrelang auf Kosten der Migrant:innen und der lokalen Wirtschaft durchgesetzt haben, aus Rücksicht auf die einfachen "Bürger:innen" aufgehoben haben. Vielmehr geht es um Druck auf die Europäische Union, um eine Anerkennung der neuen Regierung durchzusetzen und Verhandlungsmacht aufzubauen. Inwiefern der Austritt Malis, Burkina Fasos und des Niger aus der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS, die schon vor mehr als 45 Jahren die Visumsfreiheit für ihre Bürger:innen sicherstellte, die Freizügigkeit wieder einschränken wird, ist noch unklar. Während geopolitische Entwicklungen oftmals auf Kosten von Migrant:innen und Geflüchteten ausgetragen werden, hat sich ihre Situation derzeit verbessert: vorerst können sie sich wieder sicherer und freier fortbewegen.
medico unterstützt im Niger die Journalist:innen und Menschenrechtler:innen von Alternative Espaces Citoyens, die sich für Ernährungssicherheit und Freizügigkeit einsetzen, sowie das Alarmphone Sahara, das Menschenrechtsverletzungen an Migrant:innen dokumentiert und Hilfe organisiert.