Flucht und Migration

Verlassen zwischen allen Stühlen

19.04.2023   Lesezeit: 7 min

Während der Abschottungsdruck durch die EU steigt, spitzt sich die politische Lage in der Sahelregion zu. Wir sprachen mit Moctar Dan Yaye von Alarmphone Sahara.

medico: Wie ist die aktuelle Situation dort und in Assamaka, dem ersten nigrischen Dorf hinter der Grenze?

Moctar Dan Yaye: Gerade erleben wir in Assamaka ein humanitäres Drama. Seit mehr als fünf Jahren lässt Algerien Menschen in der Wüste zurück. An der algerischen Grenze zum Niger, im Niemandsland das "Point Zero" genannt wird, werden Migrant:innen aus der Subsahara von algerischen Sicherheitskräften ausgesetzt und müssen dann 15 bis 18 Kilometer laufen, bevor sie das erste Dorf Assamaka im Niger erreichen.

Wir als Alarmphone Sahara konnten alleine in den Pandemiejahren 2020 und 2021 mindestens 20.000 Menschen dokumentieren, die so aus Algerien abgeschoben wurden. Im letzten Jahr 2022 dokumentierten wir fast 24. 300 Menschen, darunter Frauen und Kinder. Der Beginn dieses Jahres ist noch dramatischer, weil die Zahl der Abschiebungen immer weiter steigt. Die Lager der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Assamaka sind überfüllt mit Abgeschobenen, die Strukturen reichen nicht aus, um die Menschen zu versorgen. Es sind jeweils zwischen 600 und 900 Menschen die auf einmal abgeschoben werden. Und das Ganze passiert bis zu dreimal pro Woche.

Zurzeit sind mehr als 7.000 Menschen in Assamaka untergebracht, damit steigt die Einwohner:innenzahl des Dorfes Assamaka um das Vierfache. Den Menschen fehlt es and jeglicher Unterstützung: Nahrung, Unterkunft und medizinischer Versorgung. Auch kommt es zu Problemen zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Migrant:innen. Letztere werden ausgegrenzt und stigmatisiert, auch weil sie in ihrer Not darauf angewiesen sind zu stehlen.

Alarmphone Sahara hat vor einigen Wochen damit begonnen, die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft auf diese Krise in dieser nördlichen Region des Niger zu lenken. Wir versuchen, mit NGO´s, den Vereinten Nationen und allen für Migration zuständigen Behörden in Kontakt zu treten, sei es auf diplomatischer Ebene oder bei internationalen Treffen. Wichtig wäre, wenn die internationale Gemeinschaft Algerien dazu drängen würde, diese unmenschliche Politik jetzt zu beenden.

Gleichzeitig wird die rassistische Hetze des tunesischen Präsident Saied immer stärker. Schwarze Menschen aus Westafrika sind massiv bedroht und können nicht mehr im Land bleiben, müssen sogar mit Notflügen evakuiert werden. Währenddessen drängt das Nachbarland Algerien die Menschen selbst über die Grenze in den Niger zurück. Algerische Sicherheitskräfte jagen sie durch die Straßen, rauben sie oft aus und laden sie dann auf offene Lastwagen zur Abschiebung nach Niger.

Man muss verstehen: Seit in einigen nordafrikanischen Länder rechte Regierungen an die Macht gekommen sind, ist der dortige Diskurs immer rassistischer geworden. In Algerien werden Schwarze Menschen gejagt und zum Sterben in der Wüste zurückgelassen. Und jetzt wird es durch den Rassismus des tunesischen Präsidenten noch schlimmer. Die Menschen versuchen deshalb aus Tunesien zu fliehen, entweder nach Europa oder dorthin zurück von wo sie gekommen waren.

Wie wir aus unserer Erfahrung wissen, kamen die Menschen, die aus Algerien in den Niger abgeschoben werden, ursprünglich meistens über Marokko nach Algerien und sind dann weiter nach Tunesien. Aber viele der Migrant:innen können jetzt ihren Weg in Tunesien nicht fortsetzen und versuchen deshalb wieder nach Marokko zurückzukehren. So führt sie ihr Weg wieder nach Algerien. Dort werden sie oft von Sicherheitskräften aufgegriffen und in den Süden des Landes gebracht, um sie in den Niger abzuschieben. Das ist deshalb möglich, weil Algerien und Niger seit 2014 ein Rückführungsabkommen haben, das normalerweise nur für Nigerier:innen gilt. Leider schiebt Algerien jedoch alle Menschen aus West- und Ostafrika zurück am „Point Zero“ in die Sahara-Wüste ab.

Ich war kürzlich selbst in Tunesien, um mir ein Bild von der Lage zu machen. Es ist sehr dramatisch. Die Menschen sind traumatisiert. Sie werden von ihren Herkunftsländern als auch von der gemeinsamen Afrika-EU-Kommission ignoriert, obwohl diese über die schlechten Bedingungen, unter denen diese Menschen leben, informiert sind. Manchmal werden sie auch von der lokalen Bevölkerung in Tunesien angegriffen. Ihre einzige Forderung, ihr Bedürfnis und Wunsch ist es, evakuiert zu werden. Sie haben dort keine Sicherheit. Einige afrikanische Länder haben einen Teil ihrer Bürger:innen evakuiert, aber es befinden sich immer noch Betroffene in Tunesien. Es ist wichtig, sich um diejenigen zu kümmern, die noch dort sind und für ihre Sicherheit zu sorgen. Es geht auch nicht darum, die Menschen aus Tunesien zu vertreiben, denn sie sollten ein Recht darauf haben, dort zu sein. Tunesien muss als afrikanisches Land das Völkerrecht respektieren, das beinhaltet, dass alle ein Recht auf Bewegungsfreiheit haben. Die EU verschließt die Augen vor dieser inhumanen Politik, obwohl sie wissen, was dort vor sich geht. Das ist sehr fragwürdig.

Als Alarmphone Sahara habt ihr Ende Februar eine Konferenz zum Gesetz 036-2015 organisiert. Worum ging es dabei?

In der Tat sitzen zehntausende Migrant:innen, Geflüchtete und Asylsuchende in Agadez und Niamey fest. Aber auch in vielen anderen Städten werden sie in ihrer Bewegungsfreiheit behindert. Das Gesetz 036-2015 ist nicht der Hauptgrund dafür, aber es ist Teil dieses Problems, denn es soll Menschen daran hindern, nach Norden zu ziehen. Ziel des Gesetzes ist es, den Menschenhandel und die „Schleusung“ von Migrant:innen zu bekämpfen, aber in Wirklichkeit sind die direkten Opfer dieses Gesetzes, die Migrant:innen selbst. Der Kampf gegen dieses Gesetz ist eines unserer Hauptziele. Seine Einführung hat die Migration durch die Sahara noch gefährlicher und tödlicher gemacht.

Wir haben eine Klage gegen dieses Gesetz beim Gerichtshof der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS eingereicht, um feststellen zu lassen, dass es den Prinzipien der Bewegungsfreiheit der Menschen innerhalb des ECOWAS-Raumes widersprich, die bereits seit den 1970er Jahren gilt. Bei der von uns organisierten Konferenz haben hauptsächlich Aktivist:innen der Zivilgesellschaft teilgenommen. Wir haben mit ihnen über die Klage diskutiert und uns darüber ausgetauscht, wie wir in einem Bündnis mit dem Ziel zusammenarbeiten können, Druck auf die nigrische Regierung gegen das Gesetz 036-2015 auszuüben. Am Ende der zweitägigen Konferenz, hat sich die Mehrheit der Teilnehmer:innen eine Fortsetzung gewünscht. Daran arbeiten wir jetzt.

Hassane Boukari, Mitarbeiter des medico-Partners Alternative Espace Citoyens berichtete uns, dass es im Sommer 2022 einen Workshop mit zivilgesellschaftlichen Akteuren und dem Staat gegeben hat, in dem bereits eine Änderung des Gesetzes vereinbart wurde. Aber bisher ist nichts passiert. Warum beharrt die nigrische Regierung so darauf?

Der Workshop hat stattgefunden, weil die Regierung auf die vielfache Kritik der Zivilgesellschaft an dem Gesetz reagieren musste, und es in diesem Rahmen überarbeitet werden sollte. Aber wir glauben, dass dies eigentlich keine Priorität für die Regierung hat. Auch glauben wir nicht, dass eine Überarbeitung grundlegende Veränderungen bringen würde. Es werden vielleicht einige wenige Punkte überarbeitet, beispielsweise das von illegaler Ein- und Ausreise die Rede ist. Wie kann eine Ausreise illegal sein?  Wir erwarten aber keine relevanten Änderungen. Es ist fast ein Jahr her, dass die Überarbeitung des Gesetzes dem Kabinett des Premierministers zur Abstimmung vorgelegt wurde. Bis jetzt ist nichts geschehen. Gleichzeitig hat das natürlich auch mit dem Druck der Europäischen Union zu tun, mit ihrem Ziel Migration zu kontrollieren und zu bekämpfen. Erst im letzten Juli hat die EU mit Frontex und der nigrischen Regierung ein neues Abkommen im Kampf gegen „illegale“ Migration unterzeichnet und die Bildung einer gemeinsamen Einsatzgruppe beschlossen. Das Gesetz 036-2015 bildet dabei das Herzstück.

Worin besteht eure Perspektive im Kampf gegen das Gesetz?

Der nächste Schritt ist die Mobilisierung von transnationalen Netzwerken, Solidaritätsstrukturen und der Öffentlichkeit, um Druck auf die Regierung Nigers auszuüben. Während der Konferenz waren auch unsere Anwälte, die gegen das Gesetz klagen, anwesend und sie erhielten viele neue Informationen von den Menschen, die direkt von der Umsetzung dieses Gesetzes betroffen sind. Entweder die Fahrer von Autos oder die Migrant:innen selbst, die Opfer dieses Gesetzes sind. Mit diesen konkreten Beispielen können sie ihren juristischen Kampf gegen die Anwälte der Regierung fortsetzen. Aktuell bereiten sie eine Replik auf die Erklärung der Staatsanwälte vor. Es liegt also an uns, jetzt zu reagieren.

Wir, Alarmphone Sahara, versuchen uns zu organisieren und den anderen Teilnehmer:innen der Konferenz eine Plattform zu bieten, damit wir mit einer effiziente Kampagne zur strategischen Bekämpfung dieses Gesetzes beginnen können.

Das Interview führten Alicia Mas Conill und Kerem Schamberger.

Das Transitland Niger ist zu einem Zentrum europäischer und deutscher Migrationspolitik geworden. Die Aktivist:innen der medico-Partnerorganisation Alternative Espaces Citoyens (AEC) kritisieren die Rolle des Landes als Hilfspolizist der EU, klären Migrant:innen über ihre Rechte auf und setzen sich für Freizügigkeit ein. Das Alarmphone Sahara dokumentiert Menschenrechtsverletzungen und organisiert Rettung.


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