Wieviel Heimat braucht der Mensch?

Überlegungen eines Weltbürgers. Von Paul Parin.

09.07.2009   Lesezeit: 8 min

Ein Jahrhundertleben

In Erinnerung an den Ethnopsychoanalytiker Paul Parin, der medico viele Jahre als Freund und Ratgeber zur Seite stand.

Paul Parin ist tot. Er starb am 18. Mai 2009 im Alter von 92 Jahren in Zürich. Der Neurologe und Ethnopsychoanalytiker, der Forschungsreisende, Geschichtenerzähler und Schriftsteller war medico über zwei Jahrzehnte eng verbunden: als Freund und Mitstreiter, als Gesprächs- und Interviewpartner, als Zeitzeuge und Ratgeber, zuletzt viele Jahre als Mitglied im Kuratorium der stiftung medico international.

In all den Jahren waren wir tief beeindruckt von seiner moralischen Integrität, seinem auch im Alter wach gebliebenen Geist, seinem Beharren auf einer von allen Dogmen und Lagerbildungen befreiten Vernunft und seinem nie gebrochenen Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse, denen er mit großem Pessimismus gegenüberstand. Paul Parin, der von der Utopie eines anderen Lebens nicht lassen wollte, hat sie gemeinsam mit seiner 1997 verstorbenen Frau Goldy, seinen Freunden, für sich und in seinem Umfeld verwirklicht. Unvergessen sind uns die Begegnungen mit Goldy und Paul in der Küche am Züricher Utoquai. Die langen Gespräche über den Krieg, die Solidarität und die Notwendigkeit, Inseln der Vernunft zu schaffen. Paul und Goldy haben uns gezeigt, wie ein Leben als konkrete Utopie gelingen kann: ein Leben, das immer ein Kontrapunkt zu Macht und Unrecht blieb, auch und gerade in den Extremen des letzten Jahrhunderts. Ein Engagement, das nie davor zurückschreckte, die Unvernunft der Mächtigen anzugreifen und so zu brennenden Fragen der Zeit Stellung zu nehmen.

Paul Parin wird uns fehlen. Die Erinnerung an ein Jahrhundertleben aber wird bleiben, uns wach halten und leiten. Der Auftrag, den er uns im letzten Jahr anlässlich unseres Jubiläums mit auf den Weg gegeben hat, mag auf den ersten Blick wenig ambitioniert klingen; er ist aber voller Anspruch und wird uns alles abverlangen: "Wenn es uns gelänge zu zeigen, dass es auch anders geht, dann hätten wir, dann hätte medico schon viel geleistet."

Thomas Gebauer

Wieviel Heimat braucht der Mensch?

Überlegungen eines Weltbürgers. Von Paul Parin

(…) Heimat ist einfach dort, wo man geboren wird. Im Französischen heißt es pays natal oder patrie, englisch home, homeland oder einfach native country, italienisch terra natia oder patria. Vaterland ist aber doch noch etwas anderes als das deutsche Wort "Heimat". Gerade wegen der nationalen Etikette, die der Heimat anhaftet, ist mir die tatsächliche Trennung vom Land der Geburt immer angenehm gewesen. Internationale Solidarität verbindet mich mit allen Menschen dieser Welt, ich bin Weltbürger. Das ist meine Heimat.

Seit die Werte der Aufklärung obsolet zu werden drohen, seit es anscheinend nur noch Nationen und Stämme gibt oder zu geben scheint und keine Welt der Menschen, die guten Willens sind, gilt das nicht mehr. Ich stamme aus einer verflossenen Epoche. Damit wären mein Begriff von Heimat und meine persönlichen Heimatgefühle hinfällig.

Und dennoch gibt es Heimat: ganz ohne Vaterland oder Nationen und Deutschtum. Auf dem Weg zu den Dogon in der Republik Mali lernten wir in Agadez am Südrand der Sahara, mehr als 2000 Kilometer vom Dogonland, den ersten Dogon kennen, einen jungen Soldaten der französischen Kolonialarmee. Im Tornister trug er den dicken Band des französischen Ethnologen Marcel Griaule, Les masques Dogons, mit sich. Wenn er sich einsam fühle oder traurig sei, lese er darin, und dann sei er wieder daheim. Er gab uns Grüße mit in die schönste Stadt der Welt, Bandiagara im Dogonland.

Es ist also möglich, aus einem cartesianisch trockenen Buch tiefe Heimatgefühle zu beziehen. Wie viel eher aus einem uralten Glauben, einer geistigen Überlieferung, aus heiligen Büchern. Eretz Israel, die großartigste Stiftung von Heimat, war längst zur Heimat von Juden in der Diaspora geworden - am wenigsten vielleicht der im Land Israel geborenen Sabra –, lange bevor ihnen der Hitlerstaat nach den Worten Paul Celans ein "Grab in den Wolken" bereitet hatte. Die Geschichte des Staates Israel dauert erst 46 Jahre. Darum können wir leicht zurückverfolgen, wie sich die biblische Heimat unter dem Druck der Verhältnisse in jenes gefühlsgetragene Vaterland verwandelt hat, das die Bürgerinnen und Bürger, die ihre Vorväter in altehrwürdigen Schriften und archäologischen Grabungen zu finden hoffen, wahrlich nicht gesucht haben; sie vermissen die verheißene Heimat.

Ich habe an die Heimat der Juden erinnert, um nicht in die Falle einer nationalen Etikettierung zu geraten. Allzu leicht sind wir geneigt, "Heimat" als etwas spezifisch Deutsches, als ein rückständiges, sentimentales und mit Ressentiment beladenes Phänomen zu betrachten: Heimatverbände, Heimatvolksgruppen, Heimatvereine und -chöre, und dergleichen. Diese alle enthalten eine Perversion von Heimat, die unschwer auf den Begriff zu bringen ist. Was ich damit sagen will, ist leicht zu verstehen, wenn man etwa die Gedenktafel aus Bronze betrachtet, die auf dem Schloßberg in Graz (über den Kasematten, in denen die Opfer der Heiligen Inquisition und politische Gefangene des österreichischen Imperiums schmachteten) angebracht ist. Eine völkische Familie, Vater, Mutter, Söhnchen und Dirndl, richten den Blick traurig, aber entschlossen nach Süden. "Südsteiermark, verlorene Heimat" heißt es auf der Tafel, die ein sozialdemokratischer Bürgermeister eingeweiht hat. Die "verlorenen" Städte sind mit deutschen Namen eingetragen, Marburg, Pettau, Laibach, Gotschee. Die Heimat der Slowenen ist ausgelöscht oder soll ausgelöscht werden.

Diese Art Heimat meine ich nicht, wenn ich von Heimat spreche. Heimatlos sein ist auch kein Gegensatz zu Heimat, die man hat, die man braucht, die man in sich hat oder eben nicht, durch Verlust oder Verzicht. Wer heimatlos geworden ist, kann sehr wohl zeitlebens Heimat in sich tragen, und wer daheim geblieben ist, ohne Heimat sein. (…)

Ich will Heimat keinesfalls verleugnen. Dommo, ein tüchtiger junger Pflanzer aus dem Dorf Andioumbolo im Dogonland, ist mit uns in die nächste Stadt Mopti gefahren, um seine Geschäfte zu erledigen. Er konnte noch die Säcke mit Hirse, die er mitgebracht hatte, gegen Salz eintauschen. Dann verfiel er in einen katatonischen Stupor, verlor die Sprache und wurde starr und gelähmt.

Ausgetrocknet und halb verdurstet, hockte er in der prallen Sonne, keine zwanzig Schritt von den Fluten des Nigerstromes. Wir mussten ihn in den Schatten tragen und ihm Wasser einflößen. Auf der Fahrt zurück ins Dogonland kam er bald zu sich. Als die Felszacken, die trockenen gelben Halden und die Brotfruchtbäume des Dogonlandes auftauchten, gewann er seine Sprache zurück und war bald wieder der gesprächige, intelligente und tatkräftige Mann, der er vor seiner Reise gewesen war; so wie er in seiner Heimat lebt und weiter leben wird.

Wer nie "Heimat" gefunden hat, kann auch in der Schweiz nicht leben. Das Gegenbeispiel zu Dommo ist Alice. Sie ist als älteste Tochter einer Wirtin in einem Bergdorf der Innerschweiz aufgewachsen. In den Jahren ihrer Kindheit hat die Mutter buchstäblich alle Räume des behäbigen Bergbauernhauses mit Gastwirtschaft, das sie gemietet hatte, zu modernen Hotelzimmern umgestaltet. Die Gäste konnten sich in dem verwinkelt gebauten Chalet das Zimmer aussuchen, das ihnen zusagte. Die Familie schlief dann eben in einem Zimmer, das gerade nicht vermietet war, oder im Stall oder in der Waschküche. Als Alice heranwuchs, suchte sie vergeblich nach Heimat, trug die Volkstracht, sang im Jodelchor, bestieg trotz ihrer schwachen Konstitution im Sommer und Winter den Bergriesen, der ihrer engeren Heimat den Namen gibt, reiste ins Ausland, kehrte zurück, aber niemals heim. In ihren allnächtlichen Träumen hing sie verzweifelt an bröckelnden Hausfassaden über dem Abgrund. Als sie mit dreissig erstmals eine eigene kleine Wohnung in der Stadt mietete, kaufte sie unter Hingabe aller Ersparnisse so viele Möbel ein, dass sie nicht mehr zur Türe hereinkam, als alles geliefert war, und sie bei einer Freundin Unterschlupf suchen musste. Nur selten fuhr sie nach Hause, um Mutter und Geschwister zu besuchen, und verbrachte eine schlaflose Nacht in einem der Zimmer des eleganten, teuren Berghotels, das aus dem armseligen Gasthaus geworden war, dem Lebenswerk ihrer Mutter. (…)

Ich gestehe, dass mich das Thema dieser Tagung "Wieviel Heimat braucht der Mensch?" erst einmal konsterniert hat. Nicht wegen "Heimat". Mit Heimatgefühlen, Sehnsucht, Geborgenheit, Verlust und Suche nach Heimat habe ich mich als Psychoanalytiker befasst, beinahe bei jeder Frau und jedem Mann, die zu einer Analyse gekommen sind. Was mich betroffen macht und beinahe verärgert hat, war das Allgemeine in der Frage: "Wieviel braucht der Mensch". Heimat ist nach meiner Erfahrung ein obligat individuelles Phänomen, jeder Mann und jede Frau mag Heimat brauchen, ihre ureigenste Heimat, wie auch jedes Kind "daheim" sein müsste, bis es erwachsen ist und unter Umständen der Heimat entraten oder sich eine neue Heimat suchen kann. Sobald "der Mensch" darauf befragt wird, ob er Heimat braucht, rücken wir ihn in bedenkliche Nähe zu postmodernen Suchern, Vermittlern und Kämpfern um Identität, mit der heute jede nationale, völkische oder sonstwie kollektive Abgrenzung oder Ausgrenzung legitimiert, jeder beliebige Herrschafts- und Machtanspruch begründet, schließlich jede mitmenschliche Solidarität in Frage gestellt wird. (…)

Aus: Heimat, eine Plombe. Rede am 16.11.1994 bei der Internationalen Erich Fried Gesellschaft in Wien zum Thema "Wieviel Heimat braucht der Mensch und wieviel Fremde verträgt er?". Auf der Webseite www.paul-parin.info findet sich alles zur Biographie Paul Parins, Filme, Fotos und Werkverzeichnisse.


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