1. Katastrophe
Zum trostlosen Zustand gegenwärtigen Politik gehört, dass sie immer wieder erstaunt auf Missstände reagiert, die sie zuvor selbst befördert hat.
Das ist die Lehre aus dem multiplen Krisengeschehen der Gegenwart. Der Klimawandel, die Finanzkrise, der Hunger, die dramatisch wachsende soziale Ungleichheit, aber auch die vielen kriegerischen Konflikte, die heute allerorten für Verheerungen sorgen, sind nicht zuletzt im Kontext jener von Pierre Bourdieu beschriebenen „Politik der Entpolitisierung“ zu sehen, die sich mehr und mehr den Vorgaben des global entfesselten Kapitalismus ergeben hat.
Von sozialem Ausschluss bedroht sind heute auch diejenigen, die mit der neoliberalen Umgestaltung der Welt die Hoffnung auf persönliche Entwicklungschancen verbunden haben. Längst lässt sich das Elend der Welt nicht mehr in den Slums, Zusammenbruchregionen und vergessenen Kriegen verstecken. Nicht zuletzt die millionenfache Flucht und Migration von Menschen verweist auf das sich verfestigende multiple Krisengeschehen.
Das Versprechen, dass mit der Liberalisierung des Waren- und Kapitaltransfers auch für alle etwas abfallen würde, hat sich als Trugschluss erwiesen. Statt zu einem entwicklungspolitisch erhofften „Trickle down“-Effekt kam es zu dessen Gegenteil: zu einer Umverteilung von unten nach oben.
In deren Folge wurden die in vielen Teilen der Welt wenig entwickelten Institutionen öffentlicher Daseinsvorsorge oftmals bis zur Unkenntlichkeit ausgehöhlt .
Der Angriff auf die öffentlichen Institutionen aber ist noch nicht abgeschlossen. Die aufgeblähten Kapitalvermögen drängen auf profitable Investitionen, die sich heute nur noch durch Senkung der Produktionskosten (Lohndumping bzw. Umgehung von Arbeits- und Umweltschutzauflagen) oder durch Privatisierung, sprich: Enteignung des noch verbliebenen sozialen Eigentums (Renten, Gesundheitswesen, aber auch Straßen etc.) erzielen lassen.
Die gesellschaftlichen Folgen der Aushöhlung von Sozialstaatlichkeit sind enorm: vielerorts sind es nur noch die Willkürregime von Warlords, Oligarchen, Milizen und/oder kriminellen Netzwerke, die für soziale Sicherung sorgen.
2. Enger werdende öffentliche Räume
Der Verfall demokratischer Institutionen ist weit vorangeschritten. Er zeigt sich vordergründig in Wahlkämpfen, die zum gesellschaftlichen Spektakel verkommen sind, vor allem aber darin, dass weitreichende gesellschaftspolitische Entscheidungen (z.B. über globale Handelsabkommen, internationale Steuerpolitik, Renten- und Gesundheitsfragen, etc.) unter Ausschluss der Öffentlichkeit, mitunter selbst der Parlamente, getroffen werden.
Der Öffentlichkeit kommt dabei nur noch die Rolle eines passiven Beobachters zu. In dem Maße, wie reale Interessenskonflikte nicht mehr öffentlich ausgetragen, sondern an technokratische Expertengremien delegiert werden und schon das Nachdenken über Alternativen wahlweise als Ideologie oder Illusion diffamiert wird, machen sich Gefühle von Ohnmacht und Orientierungslosigkeit breit.
3. Unbehagen in der Globalisierung
Zu den tiefgreifenden Verunsicherungen, die im Zuge der neoliberalen Globalisierung eingetreten sind, zählen nicht alleine die Angst vor ökonomischer Verarmung, sondern gerade auch die Befürchtung, mit den komplexer werdenden Verhältnissen der Welt nicht mehr zurecht zu kommen: das Gefühl, nicht mehr ernstgenommen und bevormundet zu werden.
Die Reaktionen auf das wachsende Unbehagen in der Globalisierung sind vielfältig. Zu ihnen zählt der identitäre Wahn rechtsextremer und religiös-fundamentalistischer Bewegungen ebenso wir die selbstzufriedene Ignoranz der Bessergestellten oder die konsumistischen Lebensstile breiter Bevölkerungsschichten.
Der Egoismus als die vorherrschende Ideologie des Neoliberalismus verfestigt sich in dem Maße, wie der Kampf aller gegen alle zunimmt und sich Gesellschaftlichkeit in der Konkurrenz unternehmerisch handelnder Individuen auflöst.
„Greed and Grievance“, Gier und Frustration sind die maßgeblichen Triebfedern vieler der gegenwärtig in der Welt ausgetragenen Konflikte. Zumeist geht es um ein Drängen auf Teilhabe an verwehrten Rechten bzw. Privilegien sowie um den Groll, den Menschen verspüren, wenn sie feststellen, dass es für sie in keinen Platz zu geben scheint, dass sie „überflüssig“ sind.
4. Humanitär-industrieller Komplex
Mit humanitärer Hilfe ist diesen Umständen nicht beizukommen. Der gut gemeinte Slogan „Tausend Fragen, eine Antwort, helfen!“ ist durch die Realität widerlegt. Inzwischen hat das Elend der Welt ein solches Ausmaß angenommen, dass es durch Hilfe nur noch unzureichend gemildert werden kann. Auf dramatische Weise übersteigt heute der Bedarf an Hilfe die weltweit zur Verfügung stehenden Mittel. Selbst die großen UN-Hilfswerke sind inzwischen überfordert. Die ungebremste Krisendynamik der letzten Jahre hat das internationale humanitäre System gesprengt.
Aber auch die bestehende Entwicklungszusammenarbeit bietet kaum noch Alternativen. Wo sie früher Ideen von Befreiung und struktureller Veränderungen im Zentrum standen, herrscht heute ein affirmativer Pragmatismus, der auf Anpassung zielt. Mehr und mehr ist die „Pädagogik der Befreiung“ (Paolo Freire) von Programmen einer „financial literacy“ (z.B. durch die GIZ) abgelöst worden (z.B. Entrepreneurship-Konzepte, Manageralisierung sozialen Handelns, Finanzialisierung der Armut durch Mikrokredite etc.).
Folge des tendenziellen Scheiterns von Hilfe sind Legitimationseinbußen in der Öffentlichkeit. Der Zenit bürgerlicher Wohltätigkeit könnte schon bald überschritten sein. Um die große Zahl von Bürgerstiftungen, Hilfsvereinen, dem „Charitainment“ von Schauspielern und Rockstars, den vielen Basare für den guten Zweck, den Tafeln usw. wird es ruhiger werden.
Dafür drängen nun mit Nachdruck Unternehmen, Industriestiftungen und „Philanthrokapitalisten“, wie Bill Gates oder die Quandt Familie, in den Hilfsmarkt. Durchaus mit guten Argumenten. Wenn sich Hilfsorganisationen nur noch pragmatisch auf die technische Bereitstellung von Gütern beschränken, sind Unternehmen im Vorteil.
Zu den Konturen des sich immer deutlicher abzeichnenden Humanitär-industriellen Komplex zählt die Idee von Social Bonds (Sozial-Anleihen), die in Deutschland u.a. von PHINEO propagiert werden (kommerzielle Unternehmen, die in soziale Projekte investieren, werden bei nachgewiesenem Erfolg aus Steuermitteln refinanziert).
Im September hat das IKRK in Genf die weltweit ersten „Humanitarian-Impact-Bonds“ auflegt, die 7% Rendite versprechen und so humanitäre Hilfe für die Finanzmärkte interessant machen
5. Externalisierung von Gefahren und die Ver-Sicherheitlichung von Hilfe
Um den negativen Folgen der wachsenden sozialen Ungleichheit zu begegnen, setzt die herrschende Politik auf Abschottung. Nicht sozialen Ausgleich über Umverteilung und Regulierung hat sie sich auf die Fahnen geschrieben, sondern die sicherheitspolitische Stabilisierung des Status quo, und sei er noch so ungerecht.
Bestehende Gefahren werden abgewehrt, in dem sie im Süden verortet und so „externalisiert“ werden. Nicht die eigene „imperiale Lebensweise“ mit all ihren negativen Folgen für die Lebensumstände von Menschen im Süden ist das Problem, sondern dass sich Menschen auf den Weg machen, dass die Gewalt zunimmt, dass Epidemien drohen etc.
Während eine Politik des Ausgleichs Räume für demokratische Beteiligung schafft, fördert Abschottung autoritäre Formen von Gesellschaftlichkeit (Einschränkung von Bürgerrechten, Skrinking Spaces, staatliche Repression - jeweils nach innen und außen).
Wo die Sicherheit bedroht sei, müssten die Menschen- und Bürgerrechte zurückgestellt werden, heißt es heute mitunter völlig unverblümt. Vorbei die Zeiten, in denen noch der Versuch unternommen wurde, Weltordnungspolitik und -kriege menschenrechtlich zu rechtfertigen. Niemand mehr würde heute in der NATO einen bewaffneten Arm von amnesty international sehen, und doch hält sich das Mantra, das Sicherheit die Voraussetzung für Entwicklung sei.
In all den Überlegungen zu einer „vernetzten Sicherheit“ aber geht es nicht um die Schaffung von Entwicklungsvoraussetzungen, sondern um die Frage, wie sich die privilegierte Welt vor den zunehmenden Gefahren schützen lässt. Dabei geraten auch Entwicklung- und Menschenrechtspolitik zu Instrumenten von Sicherheitspolitik.
Nicht mehr die präventive Bekämpfung von Fluchtursachen ist das Ziel, sondern die Flüchtlingsabwehr und der Aufbau vorgelagerter Grenzkontrollregime. Gleiches gilt für den Umgang mit dem Ausbruch von Pandemien, die mit Blick auf die prekärer werdenden Lebensumstände zunehmen werden. Nicht um „Health for all“ geht es, sondern um „Health Security“.
Gesellschaftlichkeit, deren Fundamente im Zuge wachsender Ungleichheit ins Wanken geraten, aber lässt sich nicht über sicherheitspolitisches Handeln dauerhaft retten. Weder zusätzliche Mauern, noch eine Politik des Wegschließens und auch nicht die Ausweitung von Sicherheitsapparaten sind dazu imstande. Mit Sicherheitspolitik wird die soziale Ungleichheit nicht beseitigt, sondern nur zementiert.
6. Mythos Alternativlosigkeit
Die „Politik der Entpolitisierung“ ist deshalb so unwidersprochen geblieben, weil sie sich mit der Aura ökonomischer Zwangsläufigkeit umgeben konnte. Wie Mehltau hat sich das Diktum der Alternativlosigkeit auf das Denken von Menschen gelegt hat. Mit der fatalen Konsequenz, dass sich inzwischen eine Mehrheit eher den Untergang der Welt vorstellen kann, als das Ende des Kapitalismus.
7. Gegenentwurf: „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“
Die Lage wäre hoffnungslos, gebe es nicht weltweiten Einspruch: einen Einspruch, der meist nicht lärmend von sich reden macht, sondern im Leiden der Leute zum Ausdruck kommt. Dieses Leiden beredt werden zu lassen, sei die Bedingung aller Wahrheit, so Theodor W. Adorno.
Und so liegt die Hoffnung nicht in einem boomenden Markt für Sicherheitsdienstleistungen und therapeutischer Sozialtechnik, nicht in zweifelhaften Resilienz Programmen oder dem Charitainment in den Massenmedien, sondern in lokalen Initiativen, die auf Veränderung drängen, z.B. die der brasilianischen Bewegung von Wohnungslosen, die leer stehende Hochhäuser in Wohnraum umwandeln. Oder im Bemühen afghanischer Studierender, sich inmitten von Krieg und Krise mit Kritischer Theorie auseinanderzusetzen.
Sie wird bewahrt von Geflohenen, die ihr Leid und ihre Wünsche in Gedichten zu Papier bringen. Und sie wird behautet von sozialen Bewegungen, die sich weltweit zusammengeschlossen haben, um für die regulative Einhegung des Kapitalismus zu streiten (UN-Treaty on Business and Human Rights).
Das Verbindende solcher Initiativen ist die Idee einer andern Globalität, einer Lebensweise, die sich nicht auf Konkurrenz und Zerstörung stützt, sondern auf Mitgefühl, Neugier und Kreativität. Noch sind all diese Initiativen nicht untereinander vernetzt; noch fehlt eine gemeinsame Strategie. Es ist höchste Zeit darüber nachzudenken, was „Global denken, lokal handeln“ für den Bereich der Sozialpolitik meinen könnte.
8. Gegenentwurf: Ideologiekritik
Und so ist es vornehmliche Aufgabe kritischer Hilfe deutlich zu machen, dass es auch anders geht. Notwendig ist die Formulierung einer gesellschaftlichen Vision, die mit den Menschenrechten ernst macht und (welt-)gesellschaftliche Verhältnisse aufscheinen lässt, die nicht die einen privilegieren und die anderen entrechten.
Dabei gilt es sich ideologiekritisch mit Lösungsvorschlägen auseinanderzusetzen, die auf fatale Weise in die Irre führen (z.B. Resilienz-Konzepte, die die Verantwortung für die Bewältigung von Katastrophen ins Private abschieben).
Aber auch die viel gepriesenen SDGs sind höchst zweischneidig. In den 17 Ober- und 169 Unterzielen der Agenda 2030 findet zwar jeder Ausschnitt der globalen Krise, jede Zielgruppe, jedes Thema Berücksichtigung, doch mangelt es an Konsistenz untereinander. Vor allem das „Kleingedruckte“, die „means of implementation“, in denen die Mitteln zur Umsetzung der Zielen aufgelistet sind, steht den guten Absichten entgegen.
Nicht über eine gerechte Verteilung der vorhandenen Ressourcen sollen die Ziele verwirklicht werden, sondern über ökonomisches Wachstum. Wobei für die Billionen Dollar, die gebraucht würden, die Länder (auch die Länder des Südens) jeweils selbst aufkommen sollen - selbstverständlich unter Respektierung auch jener Freihandelsabkommen, die ihnen kaum politischen Handlungsspielraum lassen.
Neue Regeln, z.B. zur Bekämpfung von Steuerflucht und Korruption, sind am Veto der mächtigen Industriestaaten gescheitert. Eklatant der Rückschritt in der Frage des Umgangs mit den Schulden. Hieß es in früheren globalen Vereinbarungen noch, dass beide Seiten, die Schuldner wie die Gläubiger, gemeinsam Verantwortung tragen, sind es nun der in erste Linie die Schuldner.
Das fundamentale Problem der SDG-Agenda ist ihre Widersprüchlichkeit. Die so weit geht so, dass sich ihre Ziele gegenseitig aufheben. Wie sollen Klima und Umwelt geschützt werden, wenn die Mittel, die für die Finanzierung solche Maßnahmen notwendig sind, über das Wachstum einer zerstörerischen Produktionsweise generiert werden? Wie soll zugleich mehr und weniger realisiert werden? Wie die Armut bekämpft werden innerhalb eines Systems, das Armut immer wieder systematisch produziert?
9. Gegenentwurf: Rechte, Regulierung, Redistribution, Resistance
Grundlegend für eine alternative Strategie sind vier „R“:
· ein politischer Menschenrechtsbegriff, der in den Rechten der Menschen einklagbare Rechtsansprüche und somit gesellschaftliche Verpflichtungen sieht;
· eine wirksame supranationale Regulation von Unternehmen;
· die systematische Umverteilung von Ressourcen sowohl zwischen, als auch innerhalb von Ländern und – last not least –
· die Schaffung einer unabhängigen transnationalen Öffentlichkeit, die alleine imstande sein wird, solche Veränderungen durchzusetzen.
Konkret geht es dabei um die Ausweitung der Idee einer sozialen Infrastruktur ins Globale (z.B. durch Schaffung eines Internationalen Fonds für Gesundheit), um regulative Eingriffe in die globalen Produktionsverhältnisse (z.B. UN-Treaty on Business and Human Rights), um das Drängen auf eine globale Verfassung (wie sie in Artikel 28 der Menschenrechtserklärung gefordert wird).
10. Beyond Aid
„Wohltätigkeit ist die Ersäufung des Rechts im Mistloch der Gnade“, befand Pestalozzi, ein Zeitgenosse der Französischen Revolution. Um der heute zu beobachtenden Re-Feudalisierung von Gesellschaft und Hilfe zu entgegen, reicht es nicht mehr, Hilfe nur verschieden zu interpretieren. Es kommt darauf an, sie zu überwinden.