Syrien

Zukunft zwischen Trümmern

23.03.2016   Lesezeit: 6 min

Die faktische Zerstörung der syrischen Nation könnte die Idee einer neuen pluralen Idee von Staatlichkeit und Demokratie in Syrien hervorbringen.

Von Martin Glasenapp

Was kaum jemand glaubte wollte, trat nun doch ein: Im Krieg um Syrien gibt es Anfang März 2016 eine zweiwöchige „Einstellung der Feindseligkeiten“. Natürlich, es wurde weiter geschossen und sowohl die russische wie die US-amerikanische Luftwaffe flogen Angriffe auf vermeintliche und tatsächliche Stützpunkte „islamistischer Rebellen“. Dennoch konnten viele Menschen erstmals wieder die Keller verlassen und für einige Zeit in der Sonne durch ihre zerstörten Straßen gehen. So auch in Erbin im südlichen Großraum von Damaskus, wo medico ein Schulprojekt unterstützt. Dort fallen zwar gerade keine Fassbomben mehr vom Himmel, aber die Lebensmittelversorgung ist so dramatisch schlecht, dass unsere Partner vor wenigen Tagen eine Schulspeisung einführen mussten.

Verlängert sich die Feuerpause, könnte sie tatsächlich ein Wendepunkt im syrischen Bürgerkrieg werden. Denn nur wenn der Himmel Sicherheit verspricht, können die Menschen wieder Luft holen. Hierbei kam auch etwas zum Vorschein, was nur wenige für möglich gehalten hatten: Die Demonstrationen kehrten zurück. Auf einmal waren sie wieder da, die Gesänge, die Rufer und die selbstgemalten Schilder, die bildhaft für den Beginn des syrischen Aufstandes standen. „Syrien ist schön, aber es ist noch schöner ohne Assad“, oder: „2011, 2012, 2013, 2014, 2015, 2016 und wir wollen immer noch Freiheit“.

Über 150 Demonstrationen fanden während der Feuerpause in Syrien statt. Ein Beleg dafür, dass inmitten der zertrümmerten Vorstädte und ausgehungerten oppositionellen Provinzen der demokratische Geist lebendig ist. Schafft die brüchige Waffenruhe also tatsächlich eine Perspektive? Natürlich wäre es ein wirklicher Fortschritt, wenn alle syrischen Konfliktparteien zur Einsicht kommen sollten, dass kein Sieg auf dem Schlachtfeld möglich ist, ohne dass Syrien endgültig zerstört werden würde. Mindestens so wichtig wäre es, wenn auch die regionalen Einflussmächte, Saudi-Arabien, Türkei, Iran, sowie Russland und die USA ihr Handeln an einer Friedensoption ausrichten würden. Das allein öffnet dennoch längst keine demokratische Perspektive und damit auch keine tatsächliche Rückkehroption.

Denn die syrische Nomenklatura und ihre Personifizierung, Bashar al-Assad, ist das zentrale Problem und deshalb eine Rückkehr in alte Zeiten unvorstellbar. Wer sollte, wer kann wieder wie früher leben nach mindestens 400.000 Toten? Die Assad-Familie, das staatliche Geflecht aus Kriegsverwaltung und Armee wie auch die oppositionellen Milizen, das Kalifat des Islamischen Staates, die Dschihadisten und die sogenannten „moderaten“ Rebellen, sie binden alle Syrerinnen und Syrer, die noch im Land sind – und das ist die Mehrheit – an eine Welt der Religionen und Sekten, an Aufrufe zum Krieg, zum Jihad oder zur Verteidigung der Nation.

Aber auch in der westlichen Wahrnehmung wird die syrische Bevölkerung an eine Welt des „Orientialismus“ gebunden, in der es lediglich um den „Schutz der Minderheiten“ geht. Diese Sichtweise geht mit einer ignoranten Diskriminierung des Religiösen und seiner unterschiedlichen Ausprägungen einher und mit einer noch immer kolonialen Betrachtung der Geographie, der Grenzen und Staatlichkeit, all dessen, was Europa unter einer „Nation“ versteht.

Aber vielleicht ist es gerade der Exodus der syrischen Flüchtlinge nach Europa, der uns einen neuen Weg des Verständnisses weist, der auf noch keiner politischen Karte verzeichnet ist. Die Bewegung der syrischen Flüchtlinge stellt nicht nur in Europa die Idee der Grenze und der Bindung einer Gesellschaft an eine Nation infrage, sondern auch in Syrien selbst. Eine Idee, die von Europa nach Syrien exportiert wurde. Der Panarabismus, der in Syrien erfunden wurde, begriff sich immer größer als sein Staatsgebiet und verstand sich somit als Vertreter aller arabischen Gesellschaften. Heute existiert dieser Gedanke allenfalls noch in der pervertierten Idee, dass eine Familienvorherrschaft größer als die syrische Nation selbst sein könnte, deren Einheit und soziale Kohäsion man längst geopfert hat.

Eine Zukunft könnte daher nur in einer Anerkennung der Diversität der syrischen Gesellschaft, ihrer religiösen und ethnischen Unterschiede sowie in Form einer identitätsstiftenden Autonomie liegen. Diese würde sich in einer föderalen Struktur voneinander trennen, um zugleich staatlich verbunden zu sein. Wenn niemand mehr versucht, den anderen zu dominieren, könnte die Macht des Zentralstaates eingehegt und tatsächlich ein Übergang in eine Phase des Nichtkrieges beginnen, Das wäre noch lange kein Friede, könnte aber den Übergang in einen neuen politischen Selbstfindungsprozess der syrischen Bevölkerung leiten. Insoweit beinhaltet die demokratische Selbstverwaltung der kurdischen Gebiete in Syrien tatsächlich einen Hinweis auf einen möglichen dritten Weg.

Ideologisch wird die „Revolution in Rojava“ letztendlich an das „Kurdisch-Sein“ gebunden bleiben und die Differenz zur arabischen Mehrheitsgesellschaft nicht überschreiten. Aber gerade ihre faktische Selbstbezogenheit und die Abkehr von der Erringung der Zentralmacht in Damaskus könnte sie für andere Landesteile und Bevölkerungsgruppen interessant machen.

Bedingung dafür wäre die Anerkennung der jeweiligen Differenz und der Verwundungen, die durch den Krieg und die jahrzehntelange Einheitsideologie geschlagen wurden. Dann, nur dann könnte die Zerstörung der syrischen Nation auch die Idee einer neuen pluralen Idee von Staatlichkeit und Demokratie hervorbringen – jenseits einer zwangshomogenisierten Bevölkerung und einer Einheitsideologie, sei sie nun religiös oder säkular begründet. Quasi una fantasia, aber was sonst? Eine marode auf russischen Waffen basierende Militärherrschaft eines Familienstaates oder ein Planet bewaffneter Slums auf syrischem Territorium? Wer würde in eine solche Zukunft ernsthaft zurückkehren wollen?

medico leistet Nahrungsmittelhilfe in Damaskus, unterstützt eine Schule in Erbin und die medizinische Versorgung in Daraa. Im kurdischen Kobanê richteten wir eine Mutter- Kind-Klinik ein und helfen grenzüberschreitend im kurdischen Diyarbakir bei der Versorgung der ausgebombten Bevölkerung.

Spendenstichwort: Syrien

Dieser Artikel erschien zuerst im medico-Rundschreiben 01/2016. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link material rundschreiben rundschreiben-bestellen internal-link>Jetzt abonnieren!
 

Hilfe in der Krise

Auszug aus der Rede von Kamel Mohanna auf der Londoner Geberkonferenz für Syrien Anfang Februar 2016

Im Libanon stellt die Versorgung von 1,5 Millionen Flüchtlingen aus Syrien eine extreme Herausforderung dar. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Nothilfeprogramme drastisch unterfinanziert sind. So ist der Libanon Crisis Response Plan von 2015 nicht ausreichend ausgestattet worden, nicht einmal die Hälfte der benötigten 2,14 Milliarden Dollar wurde bewilligt. Hinzukommt, dass die Geberstaaten ihre Zusagen oft nicht einhalten. So sind die 3,8 Milliarden Dollar, auf die sich die internationale Gemeinschaft auf der Geberkonferenz für Syrien im März 2015 verständigt hatten, bei weitem nicht zusammengekommen.

Als problematisch erweist sich auch, dass die humanitäre Hilfe immer stärker zu einem Wohltätigkeits-Business geworden ist, in dem betriebswirtschaftlich orientierte Nichtregierungsorganisationen dominieren. In dieser „Hilfsindustrie“ sind Prinzipien wie Humanität, Verantwortung und Solidarität durch Technokratie und Professionalismus ersetzt worden. Das trägt nicht dazu bei, den Menschen in Not wirksam zu helfen. Vor allem in internationalen Organisationen fließen astronomische Summen in Verwaltung, Koordination und Sicherheit. Zudem sind vor Ort verwurzelte Organisationen wesentlich besser vernetzt und genießen auch mehr Vertrauen. Hierdurch können sie weit eher eine Hilfe leisten, die auch ankommt. Die internationale Gemeinschaft sollte der Rolle lokaler NGOs mehr Bedeutung beimessen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Dem „Guardian“ zufolge fließen weniger als zwei Prozent der Hilfsgelder direkt an lokale NGOs.

Die Beispiele belegen den gravierenden Mangel an Solidarität der internationalen Gemeinschaft mit den notleidenden Menschen und den Aufnahmeländern. Und was tut Europa? Es schließt seine Grenzen. Es ist unannehmbar, dass ein Land wie der Libanon mit vier Millionen Einwohnern über 1,5 Millionen Flüchtlingen Schutz gewährt, während ein großes Land wie Frankreich lediglich 13.000 aufgenommen hat. Die europäischen und letztlich alle wohlhabenden Staaten sind gefordert, den Nachbarländern Syriens bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise weit stärker zu helfen als bisher.

Dr. Kamel Mohanna ist Gründer und Präsident des libanesischen medico-Partners Amel Association. medico leistet mit Amel und mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes langfristige medizinische Nothilfe für syrische Flüchtlinge in der libanesischen Bekaa-Ebene und in Beirut


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