Al Nadeem Center Ägypten

Zwischen allen Stühlen

12.04.2014   Lesezeit: 4 min

In Ägypten wird darum gerungen, ob der Sturz von Mubarak nur eine historische Anomalie bleibt oder doch der Beginn der längerfristigen Erneuerung einer patriarchalen Gesellschaft ist. Sie ist geprägt von Armut und Marginalisierung, einem nicht enden wollenden Stadt-Land- Konflikt und einem politisch-religiösen Kulturkampf. Unter diesen schwierigen Umständen streitet der medico-Partner Al Nadeem nicht nur für die Rechte der Opfer staatlicher Gewalt, sondern auch für die Freiheit der Kritik im ursprünglichen, im revolutionären Sinne.

Es waren befreiende Tage für Aida Seif al-Dawla, damals im Jahr 2011. Über zwanzig Jahre lang kämpfte sie schon als Psychiaterin zusammen mit einer Handvoll anderer linker Ärzte, Psychiater und Psychologen in dem von ihr mitgegründeten Zentrum Al Nadeem für die Rehabilitierung von Opfern staatlicher Gewalt und Folter. Es war ein zäher, oft einsamer Kampf gegen autoritäre Allmacht. Doch dann fegte die ägyptische Revolution die bleierne Zeit binnen weniger Tage fort. Plötzlich war man Teil einer landesweiten Massenbewegung und die Räume des Zentrums unweit des Tahrir-Platzes wurden zum geschäftigen Rückzugsort für Menschen, die aufbegehrten, viele davon zum ersten Mal. Damit rückte auch das ureigene Anliegen von Aida ins Zentrum der öffentlichen Debatte: der Ruf nach Freiheit, sozialer Gerechtigkeit, Würde – und einem Ende der grassierenden Gewalt durch die ägyptischen Staatsorgane.

Umso ernüchterter stellt Aida heute fest, dass dieses Herrschaftssystem sich nach 2011 trotz wechselnder Machthaber erhalten hat und fortbesteht. Die Muslimbrüder hatten nach ihrem Wahlsieg die Gewalt nicht eingedämmt – entweder weil sie die Herrschaftsinstrumente für die Islamisierung des Landes nutzen wollten oder weil sie nicht gegen die Machenschaften des sogenannten „tiefen Staats“ ankamen. Hierüber gehen die Meinungen weit auseinander. Und die neuen Militärmachthaber sind nicht nur Günstlinge des Systems, sondern auch vehemente Verteidiger und Vollstrecker. Mit ihrer Rückeroberung der Macht haben sie eine Ära der Restauration eingeläutet.

Neu ist, dass sie hierbei nicht nur auf die Unterstützung von Millionen Nutznießern des Systems bauen können, sondern die staatliche Gewalt auch bei linken Weggefährten von Aida Zustimmung findet. Viele, so erzählt sie, lassen sich mittlerweile eine bipolare Weltsicht aufzwängen: Entweder man steht aufseiten der Islamisten oder auf der Seite der Armee. Sie selbst widersetzt sich dieser Logik. Sie hat die Muslimbrüder scharf kritisiert, als diese an der Macht waren. Doch weder hat sie diese je als Faschisten verteufelt, noch ist sie bereit, bei Gewalt und Folter ein Auge zuzudrücken. Diese Haltung resultiert nicht zuletzt aus ihrer Einschätzung, dass der „tiefe Staat“ in seiner Allmacht mit seinen unzähligen Unterdrückungs- und Einschüchterungsinstrumenten das größte Hindernis auf dem Weg zu einem progressiven Ägypten darstellt. Und diese Einschätzung fußt auf Erfahrungen: Wie der Staat seine Macht verteidigt und ausspielt – das haben die Aktivisten von Al Nadeem viele Jahre lang hautnah erlebt.

Gegründet wurde das Zentrum 1993 in Reaktion auf eine Welle der Gewalt gegen linke Menschenrechtsaktivisten. „Doch unser Welt-, auch unser Selbstbild wurde erschüttert, als wir feststellten, dass die Polizei und andere Staatsorgane Gewalt nicht vorwiegend gegen politische Aktivisten aus den gut vernetzten Oberschichten anwenden, sondern gegen die breite Masse der ägyptischen Bevölkerung“, sagt Aida. Diese armen, marginalisierten und aufgrund mangelnder Vernetzung und Beziehungen wehrlosen Menschen nahm das autoritäre Regime nicht durch zunehmende Teilhabe und Konsensbildung mit, sie hielt sie mit den Mitteln alltäglicher, roher Gewalt in Schach: Weigerte sich eine Familie ihr Land zugunsten eines Grossbauers zu überschreiben, wurde das alte Familienoberhaupt aufs Revier geschleppt und zusammengeschlagen; sollte eine informelle Siedlung geräumt werden, rückten Sicherheitskräfte an und setzten die Slumbewohner mit Schlagstöcken auf die Straße; brachte ein Bewohner eines Armenviertels einem Ordnungshüter nicht den nötigen Respekt entgegen, stellten ein, zwei Ohrfeigen die Ordnung wieder her; versuchte eine Frau sich Gehör im öffentlichen Raum zu verschaffen, wurden zivil gekleidete Herren schnell sexuell übergriffig. Gewalt und Folter waren gängige Mittel, um ein System ungeheurer materieller und gesellschaftlicher Ungleichheit stabil zu halten.

Al Nadeem leistete psychologische und medizinische Betreuung für die Opfer staatlicher Gewalt. Mehr noch als Heilung wollten sie Gerechtigkeit und ein Ende der Straflosigkeit. Sie wollten, dass die Welt erfährt, was den Menschen widerfuhr.“ Deshalb legen Aida und ihre Mitstreiter inzwischen ihr Augenmerk auf die Rehabilitierung der Opfer, auf Anwaltschaft und Öffentlichkeitsarbeit. „Dennoch entließen wir die Opfer immer wieder in die gleichen Verhältnisse, die eben jene Gewalt perpetuierten.“

Erst die Revolution 2011 versprach dieses System zum ersten Mal infrage zu stellen. Doch das Versprechen wurde nicht eingelöst, im Gegenteil, die Restauration hat die Gewalt entfesselt. Das zu kritisieren, erfordert Mut. Aufgrund ihrer Entschlossenheit, eine eigene emanzipatorische Vision ihres Landes jenseits aller vermeintlichen realpolitischen Optionen zu behalten und die Massaker des Militärs gegen die Anhänger der Muslimbrüder als Verbrechen zu bezeichnen, sind auch Aida und ihre Weggefährten von Al Nadeem stark unter Druck und selbst innerhalb des linken Spektrums ins Abseits geraten. Umso wichtiger ist es, dass viele der jungen Aktivisten, die sich erst während der Revolution politisierten, das Zentrum als Gegenpol zur düsteren Gegenwart Ägyptens ansehen: als eine Organisation, die nicht autoritär funktioniert, sondern als Kollektiv und vor allem von erfahrenen Frauen geführt wird, die jenseits fauler Kompromisse zäh für das Ende der staatlichen Gewalt in Ägypten kämpfen.


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