Bis vor kurzem galt Mogadischu, die kriegszerstörte Hauptstadt von Somalia, als gefährlichste Stadt der Welt. Jetzt gibt es erste Anzeichen von Normalität. Eine Reportage von Michael Obert.
Wie ein knochiger Zeigefinger ragt das Gerippe des Turms aus den Kriegstrümmern im Zentrum von Mogadischu. Die Ruine des alten Parlaments - Symbol einer Totenstadt, einer gründlich gescheiterten Nation. Nach über 20 Jahren Bürgerkrieg und erbittertem Häuserkampf erinnert die somalische Hauptstadt, das „Stalingrad Afrikas“, an eine gewaltige archäologische Grabungsstätte. Zweieinhalb Millionen Menschen fristen ein Dasein in Ruinen. Ohne Strom, ohne sauberes Trinkwasser, ohne Müllabfuhr und ausreichende medizinische Versorgung. In einer Stadt, in der man beim Gemüsehändler um die Ecke für ein paar Hundert Dollar eine Panzerfaust kaufen kann und ausgefranste schwarze Flecken die letzten Bombenanschläge markieren.
Seit Rebellen 1991 den Diktator Siad Barre stürzten, gibt es im ostafrikanischen Somalia keine funktionierende Zentralregierung mehr. Nach dem Sieg der Warlords über den verhassten General zerfielen die großen Clans in Dutzende von Subclans. Ihre Milizen zerfleischten sich gegenseitig, trieben das Land immer tiefer ins Chaos und verwandelten Mogadischu, bis dahin eine wohlhabende Handelsstadt am Indischen Ozean, in eine Geröllwüste.
Bis zu eine Million Tote hat dieser Krieg bisher gefordert. Meist Frauen, Kinder und Greise, die nicht schnell genug aus der Schusslinie kamen. Fast zweieinhalb Millionen Somalier wurden aus ihren Häusern vertrieben, beinahe ein Drittel der gesamten Bevölkerung. Eine Million Menschen flohen ins Ausland.
In der Gegend um die Parlamentsruine lieferte sich die afrikanische Friedensmission Amisom - 12.000 bis an die Zähne bewaffnete Soldaten aus Uganda und Burundi - noch bis vor Kurzem blutige Gefechte mit al-Schabab, einer islamistischen Miliz, die sich offiziell mit dem Terrornetzwerk al-Qaida verbündete und weite Teile Somalias kontrolliert. Jahrelang beherrschte al-Schabab bis auf eine winzige Regierungsenklave ganz Mogadischu. Im vergangenen August verloren die Islamisten einige Viertel und traten einen „taktischen Rückzug” an den Stadtrand an. Seither operieren sie aus dem Untergrund. Mit Heckenschützen und Bombenterror im Stil von Al-Qaida.
Zwischen den Feuern
Noch immer sterben täglich Menschen in Mogadischu, explodieren Autobomben, krachen Schüsse, sprengen sich Selbstmordattentäter in die Luft. Doch es gibt erste Anzeichen einer Art von Normalität. In leergefegte Todesstreifen kehrt allmählich Leben zurück. Viele wagen sich wieder auf die Straße, räumen Schutt aus Höfen, bauen Häuser auf, eröffnen kleine Geschäfte.
Doch die Frontlinie liegt nur ein paar Kilometer die Hauptstraße hinunter. Am letzten Checkpoint namens X-Control trocknen an diesem Vormittag im März Blutlachen auf dem Asphalt. Soldaten legen hier oft die Leichen getöteter Schabab-Kämpfer aus, damit jeder sieht, was Aufständische zu erwarten haben. Endlos ist die Karawane der Flüchtlinge aus den von al-Schabab kontrollierten Gebieten, auf die Amisom vorrückt, um die Islamisten weiter zurückzudrängen.
„Wir fliehen vor den Kämpfen“, sagt Hawa Ibrahim, eine junge Frau mit violettem Gesichtsschleier in einem völlig überladenen Minibus. „Und drüben gibt es nichts zu essen.” Hawa zeigt zur Frontlinie und dann auf das Kind in ihrem Arm. Der Zweijährige ist nur noch Haut und Knochen. Erbrochenes klebt auf seiner Brust. Hawa will sich in ein Krankenhaus durchschlagen und hofft, ihren Sohn noch vor dem Hungertod zu retten.
Bis zu 15.000 Menschen strömen aus den umkämpften Gebieten allein auf dieser Straße täglich nach Mogadischu, schätzt der Mann von der National Security, der in dem Chaos mit seinen Leuten nach Waffen, Munition und Sprengstoff sucht. Sie kommen in Bussen, Lastwagen, PKW und Eselkarren, haushoch beladen mit Matratzen, Tischen, Stühlen, Polstersesseln, Kommoden mit Spiegeltüren, Hühner- und Taubenkäfigen; an Leinen trotten Ziegen und Schafe hinterher. Viele hatten keine Zeit zu packen oder ihnen fehlt das Geld für den Transport ihrer Habseligkeiten. Sie fliehen nur mit den Kleidern, die sie am Leib tragen. Durch die Dornensavanne in die ohnehin schon völlig überfüllten Flüchtlingscamps der Ruinenstadt Mogadischu.
Frauen sichern Überleben
Eines dieser Camps heißt Zone K. Um zu Fuß von einem zum anderen Ende zu gelangen, braucht man zwei Stunden. Rund 80.000 Menschen kämpfen hier ums tägliche Überleben. Viele sind 2011 während der schlimmsten Dürren seit 60 Jahren und der damit verbundenen Hungersnot nach Zone K geflohen. Oder sie gehören zu den 50.000 Menschen, die bis vor Kurzem noch Zuflucht in meist zerstörten Regierungsgebäuden in Mogadischu suchten. Bis diese von der somalischen Armee und Polizei geräumt wurden, ohne dass den Flüchtlingen Alternativen angeboten worden wären.
In Zone K sind Malaria, Masern, Durchfallerkrankungen und Unterernährung weit verbreitet. Es fehlt an Latrinen, Wasser, Nahrungsmitteln und Unterkünften. Bis weit hinaus in die Dornensavanne zieht sich das staubige Mosaik der Hütten aus Akaziengeäst und Plastikfetzen, ein Gefängnis zwischen Krieg und Hunger. „Nahrung ist noch immer die höchste Priorität für die Flüchtlinge“, sagt die kleine Somalierin mit den leuchtenden Augen in gutem Englisch; sie trägt ein schwarzes Gewand und dunkelgelbes Kopftuch. „Wir wählen Frauen und Kinder aus, die unsere Hilfe besonders dringend brauchen.”
Amina Hajji Elmi gründete 1994, in den tiefsten Wirren des somalischen Bürgerkriegs, gemeinsam mit Frauen aus verschiedenen Clans die somalische NGO Save Somali Women and Children (SSWC). Mit fünf Büros in Somalia und 25 permanenten Mitarbeiterinnen versorgt SSWC derzeit Flüchtlinge in mehreren Camps in Mogadischu mit Nahrungsmitteln und Medikamenten. In speziellen Schulungsprogrammen, unter anderem Kurse in Hauswirtschaft, werden Frauen in die Lage versetzt, für sich und ihre Kinder eine lebenswerte Zukunft zu erarbeiten.
„Haben Sie hier jemanden von der Regierung gesehen?“, fragt Amina, die Leiterin von SSWC. „Oder von der Stadtverwaltung?” Die NGO kämpft einen einsamen Kampf. Unermüdlich sind Amina und ihre Leute in Mogadischu unterwegs. Die größte Herausforderung sei die Sicherheitslage: „Wenn du morgens aus dem Haus gehst, weißt du nie, ob du abends noch mal zurückkehrst.”
In Camps wie Zone K haben sich sogenannte Komitees gebildet, die das Vertrauen der Flüchtlinge genießen. Diese gewählten Vertreter sind die direkten Ansprechpartner für SSWC. „Die Komitees wissen am besten, wer welche Hilfe braucht“, so Amina. „Wir arbeiten nicht nach dem Gießkannenprinzip.”
Für Nahrungsmittel hat SSWC ein Gutschein-System eingeführt, um zu vermeiden, dass Hungernde leer ausgehen, während skrupellose Profiteure mit gespendetem Mais, Hülsenfrüchten, Speiseöl und Zucker auf den nächsten Markt ziehen, um ihn dort gewinnbringend zu verkaufen. „Es gibt ein ganzes Heer solcher Schein-Flüchtlinge“, sagt Amina. „Sie haben ein gutes Haus und klappern an den Ausgabetagen die Camps ab.” Der lokale Markt ist überschwemmt von fehlgeleiteten Hilfsgütern.
Korruption überall
Auch Hilfsgelder verschwinden in Somalia, laut Transparency International 2011 das korrupteste Land der Welt. Doch nicht nur staatliche Institutionen bereichern sich im großen Stil, auch lokale NGOs sind tief in Korruption verstrickt. Weil internationale Partnerorganisationen und Geber sich aufgrund der bedrohlichen Sicherheitslage nicht nach Mogadischu trauen, beruhen die Erfolgsmeldungen der NGOs meist auf deren Selbstdarstellung. Meldet sich tatsächlich einmal ein Kontrolleur aus dem Ausland an, explodiert kurz vor seiner Ankunft nicht selten eine Bombe in der Nähe des Büros - und dann ist es zu unsicher zu kommen und wieder ist ein Budgetjahr verstrichen und die Gelder fließen weiter.
„Frieden in Mogadischu ist ein Albtraum für solche Banditen“, sagt Amina, während sie und ihre Mitarbeiterinnen in Zone K Nahrung und Decken verteilen. Die Flüchtlinge nehmen sie dankbar an. Und das Komitee kontrolliert und führt Buch.
An der Straße, die von Zone K ins kriegszerstörte Stadtzentrum führt, gießt ein Junge mit einer eiternden Narbe über dem Auge ein Bäumchen. „Selbst gepflanzt“, sagt er, während das Wasser aus dem Loch einer Plastiktüte rinnt und von der durstigen Erde Mogadischus aufgesogen wird. „Mein Baum. Auf den passe ich auf. Wenn er groß ist, schlafe ich in seinem Schatten.” Hoffnung. Auf eine friedliche Zukunft in Mogadischu.
Michael Obert
Projektstichwort
medico unterstützt die somalischen NGOs Save Somali Women and Children (SSWC) und Nomadic Assistance for Peace and Development (NAPAD) bei der Nahrungsmittelversorgung von Dürre- und Bürgerkriegsflüchtlingen in Mogadischu und im somalisch-kenianischen Grenzgebiet. Auf beiden Seiten der Grenze ist ein umfassendes Projekt zur Rehabilitierung und Verbesserung der Lebensbedingungen geplant. Das Spendenstichwort lautet: Ostafrika.