Am Sonntag, den 17. Februar, wurden die letzten 17 Toten des verheerenden Fabrikbrands beerdigt, dem am 11. September 2012 in der Millionenstadt Karatschi mehr als 300 Menschen zum Opfer fielen. Die Textilfabrik Ali Enterprises arbeitete ausschließlich für den deutschen Billig-Discounter KiK und sein Label „Okay Jeans“. Die Bestattung der 17 Toten erfolgte erst jetzt, weil die Leichname auch nach fünf Monaten nicht identifiziert werden konnten. Allerdings vermissen die Angehörigen noch einmal mehr Menschen: die Überreste mancher der Opfer waren offensichtlich nicht mehr aufzufinden. An den Feierlichkeiten nahmen neben Überlebenden und Hinterbliebenen die medico-Partner Nasir Mansoor (National Trade Union Federation, NTUF) und Karamat Ali (Pakistan Institute for Labour Education and Research, PILER) teil, ebenfalls vor Ort waren die medico-Mitarbeiter Sönke Widderich und Thomas Seibert.
Der Konflikt ist nicht zu Ende
Die späte Beerdigung der nicht identifizierten Toten ist der vorerst letzte Akt einer Tragödie, die vom Discounter KiK, seinen pakistanischen Auftragnehmern und der italienischen Gutachterfirma RINA zu verantworten ist. Noch lange nicht vorbei aber ist der Konflikt um die Brandkatastrophe selbst: weder die Verhandlungen um eine angemessene Entschädigung der Opfer, noch der Streit um eine grundlegende Veränderung der Arbeitsbedingungen, der völlig unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen und des Verhältnisses ausländischer Auftraggeber zu ihren pakistanischen Beschäftigten. „KiK hat sich zwar zur Zahlung einer Entschädigung von einer Million Dollar und zur anschließenden Zahlung einer zweiten Summe bereit erklärt“, sagt Gewerkschaftssekretär Nasir Mansoor, „doch gehen die Vorstellungen über deren Höhe weit auseinander.“ Bei einem vergleichbaren Fall in Bangladesch hat der ausländische Auftraggeber schließlich 20 Millionen Dollar Entschädigung gezahlt.
In Pakistan selbst ist ein Prozess anhängig, in dem die Anwälte der Opfer und deren von NTUF und PILER repräsentierten Unterstützer sich aktuell gegen den Versuch wehren, die Mordanklage gegen die Besitzer von Ali Enterprises fallen zu lassen. Keinerlei Verhandlungsbereitschaft signalisiert die Gutachterfirma RINA. „Das italienische Unternehmen hat dem deutschen Discounter KiK und den pakistanischen Behörden ein völlig aus der Luft gegriffenes Gefälligkeitsgutachten über den Zustand des Fabrikgebäudes erstellt“, sagt medico-Mitarbeiter Thomas Seibert, verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit zu Südasien. „Was RINA für KiK und Ali Enterprises getan hat, machen ähnliche Unternehmen für die meisten anderen der pakistanischen Weltmarktfabriken. Es ist höchste Zeit, dieses System zynischen Betrugs zu beseitigen.“ Auch für Nasir Mansoor und Karamt Ali ist die angemessene Entschädigung der Opfer nur der Ausgangspunkt einer tiefgreifenden Veränderung der Verhältnisse in der exportorientierten Industrie. „Dreh- und Angelpunkt ist dabei das Recht auf freie gewerkschaftliche Organisation“, sagt Nasir Mansoor. „Deshalb wird die Organisationsfreiheit von den internationalen Auftraggebern ebenso gründlich missachtet wie von ihren pakistanischen Auftragnehmer.“ Die von NTUF und PILER an der Seite der Überlebenden und Hinterbliebenen initiierte Koalition pakistanischer Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen wird international von medico, dem European Center for Constitutional und Human Rights (ECCHR) aus Berlin und der Kampagne für Saubere Kleidung unterstützt.
Trauerfeier im Staub des Industriegebiets
Die Zeremonie zur Beerdigung der letzten Toten begann auf einem Platz inmitten des Industriegebiets im Westen Karatschis, das den Namen „Small Industry and Trade Estate“ (SITE) trägt und am Rande des Stadtteils Baldia Town liegt. Versammelt waren Überlebende und Hinterbliebene, Leute aus der Nachbarschaft, Gewerkschafter und Menschenrechtsaktivisten. Anwesend war auch mit Gewehren bewaffnete Polizei und natürlich eine Vielzahl von Journalisten pakistanischer Zeitungen, Radio- und TV-Stationen. Wir selbst begleiteten Nasir Mansoor und die Kolleginnen und Kollegen der NTUF. Mitten auf dem Platz lagerten die siebzehn Särge, einfachste, völlig schmucklose Holzkisten. Da die Leichname nicht zu identifizieren waren, hatte man sie fortlaufend mit einer polizeilichen Kennziffer und dem Wort „Edih“ beschriftet – dem Namen des karitativen Unternehmens, das die Bestattung übernommen hat. Nach einer kurzen Zeremonie luden Edih-Mitarbeiter je einen der Särge auf einen japanischen Kleintransporter, eskortiert von der Polizei machten sich die siebzehn Fahrzeuge gleich danach zum Friedhof von Baldia Town auf. Während die meisten Nachbarn auf dem Platz zurückblieben, folgten die Angehörigen, der Journalistenpulk und wir selbst der Kolonne der Särge mit unseren eigenen Kleinbussen, PKW und Mopeds; wer kein eigenes Fahrzeug hatte, bestieg eine der vielen verbeulten Motorrikschas.
Small Industry and Trade Estate
Auf ihrem Weg durch die von Schlaglöchern übersäten Straßen von SITE wirbelten die vielleicht dreißig Fahrzeuge den Staub auf, der wie den ganzen trostlosen Stadtteil auch die wenigen Palmen bedeckt, die vor manchen der Gebäuden stehen. In SITE hat sich eine Vielzahl von Unternehmen angesiedelt, zu den international bekannten gehören Coca Cola und Siemens, zu den unbekannten gehörte Ali Enterprises, von dem heute nur noch die ausgebrannte Ruine blieb. Die Arbeiterinnen und Arbeiter wohnen mit ihren Familien in der unmittelbaren Nachbarschaft. Wie die Fabriken sind auch ihre heruntergekommenen Wohnblocks zur Straße hin mit einer Mauer umschlossen, durch große Tore gelangt man in die von Abfall und großen Lachen Schmutzwassers überzogenen Innenhöfe, auf denen Jugendliche an ihren Mopeds herumschrauben.
Baldia Town Cemetry
Unsere Kolonne führte auch an der Ruine von Ali Enterprises vorbei, einem Eckgebäude zu der Ausfallstraße, die SITE mit Baldia Town verbindet. Nach noch einmal fünfminütiger Fahrt erreichen wir den Friedhof: ein ebenfalls staubiges, hügeliges Areal, auf dem zwischen meist verwahrlosten Gräbern einzelne längst verdorrte Pflanzen stehen. Die Edih-Transporter fahren einer nach dem anderen durch das Haupttor, gefolgt von den Kleinbussen der Radio- und TV-Stationen und den Jeeps der Polizei. Wie die Überlebenden und Hinterbliebenen lassen wir unser Fahrzeug am Eingang zurück und gehen zu Fuß zu dem Grundstück, das den Toten zur letzten Heimstatt werden soll. Weil die siebzehn Gräber zuvor schon ausgehoben wurden, können die Särge binnen weniger Minuten in die trockene Erde gelegt werden. Zwischen den mit rotem T-Shirt bekleideten Ehdi-Mitarbeiter suchen Journalisten und Trauergäste ein Platz mit Sicht auf die hektische Aktion. Während die Techniker ihre Kameras und Mikrofone in Position zu bringen suchen, bemüht sich die Polizei, in dem unübersichtlichen Gewühl Ordnung zu schaffen. Als der Auftrieb zu wild wird, zieht einer der Beamten die Pistole, um seinen Kommandos Nachdruck zu verleihen.
Fragen ohne Antwort
Währenddessen erkennen einige der Hinterbliebenen Nasir Mansoor, umringen ihn und uns, ziehen Fotos ihrer vermissten Angehörigen hervor und fragen verzweifelt, ob ihnen noch eine Chance zur Identifikation ihrer vermissten Verwandten bleibt. Noch ist völlig unklar, ob ihr Anspruch auf Entschädigung und Gerechtigkeit Gehör finden wird. Tatsächlich stehen ihre Chancen schlechter als die der Hinterbliebenen, deren Angehörige identifiziert werden konnten: in ihren Fällen ist immerhin klar, dass sie ihr Leben in der Brandhölle von Ali Enterprises verloren haben. Dass der Nachweis nur sehr schwer zu führen ist, liegt an einer der Ungeheuerlichkeiten, für die auch der deutsche Discounter KiK verantwortlich ist: die wenigsten Arbeiterinnen und Arbeiter von Ali Enterprises verfügten über einen Arbeitsvertrag. Der Vorenthalt des Vertrags geschah mit voller Absicht: ohne dieses Dokument gab es keinen Nachweis der vereinbarten Arbeitszeit, keinen Nachweis des vereinbarten Arbeitslohns, schließlich keinen Nachweis überhaupt der Anstellung bei Ali Enterprises und der Arbeit auf Rechnung von KiK, folglich auch keinen Anspruch auf gesetzliche vorgesehene Sozialleistungen der Gesundheits- und Altersfürsorge. Es gab folglich keine Möglichkeit, Beschwerde zu führen über die Verletzung dieser Vereinbarungen, über die Ausdehnung der Arbeitszeit auf bis zu 14 Stunden täglich, über die Unterschreitung des gesetzlichen Mindestlohns, über das Fehlen elementarer Sicherheitsvorkehrungen, den Ausschluss von allen Sozialleistungen. Und: es gibt jetzt keinen Nachweis, dass eine bestimmte Person – Sohn oder Tochter, Vater, Schwester, Bruder oder Mutter – am 11. September 2012 im Gebäude von KiK und Ali Enterprises mit 300 anderen Menschen bei lebendigem Leib verbrannte.
Entschädigung und Gerechtigkeit
Nasir Mansoor kann die verzweifelten Fragen der Hinterbliebenen nicht beantworten. Er kann ihnen nur versichern, dass er, seine Gewerkschaft und die anderen Unterstützer den Kampf um Entschädigung und Gerechtigkeit fortsetzen werden. Zugleich muss er die Hinterbliebenen auffordern, auch ihrerseits nicht aufzugeben. Der Versuch der pakistanischen Justiz, die Mordanklage gegen die Besitzer von Ali Enterprises fallen zulassen und das Verfahren auf Körperverletzung mit Todesfolge zu reduzieren, zeigt, dass der gemeinsame Einsatz dringend notwendig ist. Dafür spricht auch das Schweigen der Gutachterfirma RINA und der Umstand, dass mit KiK noch keine Einigung über die letztendliche Höhe der Entschädigungszahlungen erreicht wurde. Nasir Mansoor stellt sich deshalb nicht nur den Fragen der Angehörigen, sondern auch denen der Journalisten. Ihnen sagt er auch, dass es nicht nur um Entschädigung geht, sondern um die bindende Anerkennung des geltenden pakistanischen Arbeitsrechts und der Standards der ILO – auch durch KiK und andere internationale Auftraggeber. Zu diesen Standards gehört nicht zuletzt das Recht auf freie gewerkschaftliche Betätigung. Mit Nachdruck weist er darauf hin, das dazu ein freiwilliger „Code of Conduct“ nicht im Ansatz reicht.
Die Mitarbeiter von Ehdi haben die Gräber mittlerweile mit vorgefertigten Grabplatten bedeckt und die Fugen zwischen den Platten mit Schlamm gefüllt. Danach wird weiter Erde aufgefüllt, die Gräber schließlich mit Rosenblättern bedeckt; für einen kurzen Moment verbreitet sich ihr intensiver Duft über das ganze Gelände. Auf jedem Grab steht ein Holzschild mit der polizeilichen Kennziffer des Leichnams. Ein Polizeioffizier vergleicht die Beschriftung der Schilder mit den Angaben einer mitgeführten Liste. Danach versammeln sich die Trauergäste um die Gräber, ein muslimischer Geistlicher spricht ein Gebet, das auch die Toten christlichen Glaubens einschließt, deren Leichname nicht identifiziert werden konnten. Auf der Rückfahrt machen wir kurz bei der Ruine von Ali Enterprises Halt, steigen aus, gehen an das Gebäude heran. Sofort erscheinen Polizisten auf einem Motorrad und weisen uns freundlich darauf hin, dass der Aufenthalt an der Ruine verboten ist. Ein paar junge Männer in Zivil kommen auf uns zu, fotografieren uns. Nasir Mansoor sagt uns, dass es sich um Wachpersonal der Besitzer von Ali Textiles handelt. Wir steigen ins Auto und fahren weiter. In zwei Tagen besprechen wir in großer Runde unsere nächsten Schritte, national und international.