Geschichte zu verstehen, heißt nicht, sich gemütlich zurückzulehnen und die Ereignisse nur noch einmal Revue passieren zu lassen. Stattdessen gilt es, an jene Mühen und Brüche zu erinnern, in denen neben den Zeitumständen auch die auf Veränderung gerichteten Anstrengungen zum Ausdruck kommen. Erkennbar wird dabei, dass die Schrecken der Welt kein vorübergehendes Ereignis darstellen. Gerade mit Blick auf die globale Gesundheit wird deutlich, wie aktuell das Drängen auf eine andere Welt, die Suche nach Alternativen, noch immer ist.
Den 40. Jahrestag von medico international wollen wir zum Anlass nehmen, um in vier Folgen der eigenen Geschichte, den eigenen Mühen und Brüchen nachzuspüren.
Teil I. Die Anfänge 1968 – 1978
Biafra und Vietnam
medico international wurde im Mai 68 gegründet. Es war die Zeit des Aufbruchs, der sich auch an den verheerenden Kriegen in Vietnam und Biafra entzündete. Das Ungeheuerliche schien damals noch nicht das Normale. Erstmals übertrug das Fernsehen die Bilder von ausgemergelten Kindern und fernen Kriegsgräueln allabendlich in die Wohnzimmer. Die vermeintliche Nähe der Schrecken empörte und verlangte nach Einspruch auch im eigenen Land. Studenten, Schüler, Gewerkschafter, besorgte Bürgerinnen und Bürger gingen auf die Straße, forderten ein Ende des Krieges und entwickelten neue Formen praktischer Solidarität.
medico, das im Gründungsjahr noch „action medico“ hieß, begann mit dem Sammeln von Ärztemustern und Medikamenten. Die Resonanz auf den Appell der Gruppe um die engagierte Stadtteilpolitikerin Odina Bott war groß. Der Abstellraum, den eine Frankfurter Kirche der Initiative zur Verfügung gestellt hatte, reichte bald nicht mehr aus. Ärzte und Medizinstudenten mussten hinzugezogen werden, um die gesammelten Arzneimittel zu sortieren. In einem Studentenwohnheim fanden sich neue Lagerräume, und auf den legendären Vollversammlungen an der Frankfurter Universität machten schließlich Kartons die Runde, um das für den Transport der Hilfsgüter notwendige Geld zu sammeln. Im August 68 konnte die erste größere Sendung mit Medikamenten im Wert von 37.000 DM nach Biafra geflogen werden.
Der Erfolg verlangte nach Verstetigung. Eine Satzung wurde ausgearbeitet, der Verein im Register des Amtsgerichts eingetragen, im Stadtteil Bonames eine Geschäftsstelle eingerichtet und mit Pressekampagnen und Wurfzettelaktionen fortan systematisch für medico geworben. Ärztemuster zu sammeln, um sie hilfsbedürftigen Menschen zur Verfügung zu stellen: das schien von hoher Plausibilität. Im Januar 1969 konnten weitere 11 Tonnen Hilfsgüter in einem gecharterten Flugzeug nach Biafra gebracht werden. Der Gesamtwert der Sendungen im ersten Jahr betrug (gemessen an den Apothekenpreisen) etwa 3 Millionen DM.
Im Einsatz
Aus dem spontanen Impuls zu helfen entstand die Idee, eine Hilfsorganisation zu gründen. Immer nur Sammeln, Sortieren und Verpacken von Medikamenten: Die inzwischen auf 6 Personen angewachsene Mitarbeiterschaft wollte mehr. Schnelle und unbürokratische Einsätze in Katastrophensituationen waren der Schwerpunkt der Aktivitäten in den Folgejahren. Die Baracke an der Homburger Landstrasse, die die Stadt Frankfurt dem Verein 1970 überlassen hatte, verwandelte sich in ein Einsatzzentrum mit Funkanlagen und einer ständigen Verbindung zum Katastrophenstab des Bundesinnenministeriums. Die Geschäftsführung nannte sich ab sofort „Einsatzleitung“, und ein kompletter „Katastrophenhilfszug mit Feldlazarett, Ambulanzwagen, Helfern und Ärzten“ konnte „im Ernstfall jederzeit abgerufen werden, um an jedem Ort in der Welt in kürzester Zeit wirksame Hilfe zu leisten.“ Stolz berichteten die Informationsschriften von personellen Einsätzen nach Erdbeben und Überschwemmungskatastrophen. 1970 war medico „als erste deutsche Gruppe zur Stelle“, um den Opfern eines Erdbebens in Peru zur Seite zu stehen.
Der Fahrzeugpark, der medico in diesen Jahren zur Verfügung stand, nahm schnell einen beachtlichen Umfang an. Da die Krankenwagen nicht ständig im Ausland gebraucht wurden, fuhren medico-Mitarbeiter in Kooperation mit dem Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) regelmäßig auch auf deutschen Autobahnen Einsätze in der Unfallrettung. Und man half bei der Behindertenbetreuung, organisierte Altkleidersammlungen, probte auf einer Frankfurter Wiese den Notfall und sammelte auch weiterhin Medikamente, um sie so unterschiedlichen Empfängern zukommen zu lassen, wie kirchlichen Krankenhausapotheken auf Madagaskar und der angolanischen Befreiungsbewegung MPLA.
Die Betriebsamkeit, die während der ersten Jahre den Verein beherrschte, war gewiss von guten Absichten geleitet, aber auch ein wenig zu einem Selbstzweck geworden.
Von der Katastrophen- zur Befreiungshilfe
Das kritische Überdenken der eigenen Praxis blieb nicht aus. Mit einer neuen Geschäftsführung, die 1971 ihre Arbeit aufnahm, geriet der politische Kontext des Helfens wieder in den Blick.
Einer der Ärzte, der in diesem Jahr mit medico im Ausland im Einsatz war, ist der Frankfurter Mathis Bromberger: „1971 fuhr ich mit einem kleinen medico-Team nach Kalkutta, um Flüchtlingen aus dem Unabhängigkeitskrieg mit ärztlicher Hilfe zur Seite zu stehen. Unser Einsatz war absolut notwendig. In den Lagern, die der Monsun-Regen in reine Seenlandschaften verwandelt hatte, grassierte die Cholera. Wir konnten vielen Menschen helfen und deren Leiden lindern. Doch als wir wieder weggingen, ließen wir die Menschen in ihrem Elend zurück. Um Krisen dauerhaft zu überwinden, reicht es nicht, nur ihre humanitären Auswirkungen zu behandeln. Eine Hilfe, die von außen einfällt, kann am Ende sogar noch die Selbstheilungskräfte der Leute beeinträchtigen.“
Es waren solche Erfahrungen, die zur Revision des Ansatzes führten. Nicht das punktuelle Abmildern von Not sollte das Ziel sein, sondern das Zurückdrängen von Abhängigkeit, die Förderung von Eigenständigkeit. Mit Kurzzeiteinsätzen von Ärzten und auf kurative Angebote beschränkter Hilfe war und ist das nicht zu erreichen. medico entschloss sich, künftig verstärkt auf die Unterstützung lokaler Gesundheitsinitiativen zu setzen und auf politischer Ebene gegen die krankmachenden Lebensumstände anzukämpfen.
Anfang 1973, als nach über 30 Jahren der Krieg in Vietnam mit dem Waffenstillstandsabkommen faktisch zu Ende gegangen war, rief medico zur entschlossenen Wiederaufbauhilfe auf. Das Ziel war die Förderung einer „freien, selbstbestimmten Lebensgestaltung (…). Menschen, die zu Opfern von Interessensgegensätzen in der Welt geworden sind, haben Anspruch auf eine menschenwürdige Zukunft“. Der Weg von der Katastrophenhilfe zur Unterstützung langfristiger Projekte war gefunden.
Langfristige Projekte
Im medico-Info 73 wurde erstmals Kritik an der Politik der Bundesregierung laut, die nur zögerlich Kapazitäten für den Transport eines 100-Betten-Feldlazarettes nach Haiphong in Nordvietnam zur Verfügung stellen wollte. Das gleiche Heft problematisierte Medikamentensammlungen als „Wohlstandsmüll“. Aber noch immer warb die pharmazeutische Industrie, die umfangreiche Sachspenden leistete, mit ganzseitigen Anzeigen in den medico-Publikationen. Dahomey, Brasilien, Jemen, Pakistan, so die Namen einiger der Länder, in denen medico zu dieser Zeit tätig war.
Auf eine Dürrekatastrophe im afrikanischen Sahel, die 1973 Schlagzeilen machte, reagierte medico – nach umfangreicher Soforthilfe – mit der Ausarbeitung eines Vorhabens, das an den strukturellen Ursachen der Katastrophe anknüpfen sollte. Hochoffiziell wurde mit der Regierung von Mali ein Vertrag geschlossen, der die „Errichtung eines sozial-medizinischen Komplexes“ in N’Gouma in der Region von Mopti vorsah. Endlich das Projekt, das zwar dem Stand der damaligen entwicklungspolitischen Debatte entsprach, aber allen Anstrengungen zum Trotz dennoch niemals fertig gestellt werden konnte. Zu groß war das Vorhaben für die noch kleine Organisation, und zu wenig wurden die sozialen, politischen und kulturellen Umstände berücksichtigt, die einem Gelingen entgegenstanden.
Nicht zuletzt die Erfahrungen mit dem Mali-Projekt verstärkten schließlich jenen basismedizinischen Ansatz, der in der Arbeit von medico längst angelegt war. Entwicklung, so dessen zentrale Überlegung, kann niemals von oben übergestülpt werden, sondern muss von unten kommen. Jedes Projekt, jede noch so kleine Hilfe muss daran gemessen werden, ob sie wirklich auf Befreiung aus Not und Elend drängt oder am Ende nur dem Prestige lokaler Eliten und damit der Aufrechterhaltung ungerechter Machtstrukturen dient. Solidarischer Beistand bedeutet parteiliches Engagement auf Seiten sozial Marginalisierter, die entschlossene Unterstützung von Menschen und deren Initiativen, die für die Durchsetzung ihrer sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Rechte eintreten.
Schritte aus der Abhängigkeit
Hilfe, die auf Befreiung drängt, ist auch Hilfe an der Seite von Befreiungsbewegungen. Unterstützung erfuhren der palästinensische Rote Halbmond, die Frelimo in Mosambik und – in den Jahren 1975-1978 – vor allem zwei Länder: die ehemalige portugiesische Kolonie Kap Verde, die 1975 ihre Unabhängigkeit erfechten konnte, und die Westsahara.
Unter Verletzung der Dekolonisierungsbeschlüsse der UN okkupierte Marokko 1975 die frühere spanische Kolonie Westsahara und trieb die dortige Bevölkerung, die Sahrauis, in die Flucht. Bis zum heutigen Tag leben die Sahrauis in Lagern in der Unwirtlichkeit einer Stein- und Geröllwüste im Südwesten Algeriens. Getragen von der Solidarität mit dem Kampf um die „Freiheit der Sahara“ half medico zunächst mit umfangreicher Soforthilfe, später mit gezielten Programmen, um den Flüchtlingen trotz ihrer Abhängigkeit von außen ein Höchstmaß an Eigenständigkeit bei der Aufrechterhaltung eines funktionierenden Gesundheitswesens zu ermöglichen. Noch immer harrt der Westsahara-Konflikt einer politischen Lösung, noch immer leben die Sahrauis im Wüstenexil. Die Vertriebenen von damals aber sind längst selbstbewusste Akteure geworden, deren Kinder in Europa und Lateinamerika studiert haben und nun aus den Lagern heraus ihre Netze in die globalisierte Welt knüpfen.
Um den Aufbau eines demokratischen und basisorientierten Gesundheitsdienstes ging es auch in der Unterstützung Kap Verdes. Dabei trat die Idee, mit möglichst großen Mengen an gesammelten Medikamenten zu helfen, mehr und mehr in den Hintergrund. Deutlich wurde, dass nicht „Pillen“ für einen funktionierenden Gesundheitsdienst garantieren, sondern vor allem qualifiziertes einheimisches Personal und Versorgungseinrichtungen, die allen zugänglich sind. Das damalige Konzept: Mobile medizinische Einheiten, so genannte „rollende Arztpraxen“, die selbst jene Gebiete noch erreichen konnten, die ehemals kaum versorgt waren. Gleichzeitig ging es um die Ausbildung von lokalen Basisgesundheitspflegern und deren Ausstattung mit minimalem Behandlungsinstrumentarium. Und erstmals setzte sich die Idee um, statt teuren und oftmals unsinnigen „Pharmaschrott in die Dritte Welt“ zu exportieren, vor Ort die lokale Produktion von essentiell notwendigen Arzneimitteln zu fördern. Wenn auch inzwischen privatisiert, stellt die „Pharmamanufaktur Kap Verde“ noch heute Medikamente her und reduziert die Abhängigkeit von teuren Importen.
In diesen Jahren wurde das Selbstverständnis von medico neu gefasst und die Ziele der praktischen Arbeit wurden an der 1978 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verabschiedeten „Primary Health Care“-Strategie ausgerichtet. Das Sammeln von Medikamenten und Ärztemustern, mit dem alles begonnen hatte, wurde endgültig eingestellt.
Lesen Sie hier über die Arbeit von medico in den Jahren 1978-88: „Befreiungshilfe“