Teil II. Befreiungshilfe 1979 – 1988
Nicaragua – Lehrjahre am Río San Juan
Hilfe, die nicht nur an den Symptomen herumdoktern will, muss im Wortsinne radikal sein. Diese alte Erkenntnis, die medico in den Anfangsjahren bestätigt fand, bewegte auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO), als sie 1978 das "Konzept der Basisgesundheitsversorgung", die "Primary Health Care"-Strategie verabschiedete. Gesundheit, so heißt es darin, wird vor allem durch außermedizinische Faktoren bestimmt. Ärzte, Krankenhäuser oder Arzneimittel, so wichtig sie sind, beeinflussen die gesundheitliche Lage eines Landes nur in zweiter Linie. In erster Linie sind es der Zugang zu Einkommen und Land, menschenwürdige Wohnverhältnisse, ausreichende Ernährung, die Respektierung der Menschenrechte und die Teilhabe an einer vitalen Kultur. Wer für Gesundheit streiten will, muss sich für soziale Gerechtigkeit und demokratische Partizipation einsetzen.
Die PHC-Strategie, die sich medico damals zu Eigen machte, zeigte ihre Kraft zu Beginn der 80er Jahre im revolutionären Nicaragua. Mit einem Mal war das ambitionierte Ziel der WHO: "Gesundheit für alle" in Nicaragua greifbar nahe. Den entschlossenen Bemühungen des nicaraguanischen Gesundheitsministeriums stand medico nach Kräften zur Seite: anfangs in den Nordprovinzen des Landes, dann über viele Jahre hinweg im Süden am Río San Juan. medico half bei der Gesundheitserziehung, beim Bau von Latrinen, der Verbesserung der Trink- und Abwasserversorgung und der Ausbildung von Krankenpflegepersonal. Mit unserer Unterstützung entstand ein Netz von Gesundheitsposten und -zentren und schließlich ein regionales Krankenhaus. Nicaragua war in den 80er Jahren zweifellos das größte "Projekt" von medico. Und das, was Nicaragua erreichen konnte, sprach für sich: Die Kindersterblichkeit sank auf ein Drittel, die Kinderlähmung wurde ausgerottet, selbst die Malaria konnte massiv zurückgedrängt werden. Nicaragua wurde zum Modellland der WHO.
Schnell strahlten die Erfolge in die Nachbarländer aus. Auch die Bevölkerungen von El Salvador und Guatemala verlangten ein Ende der dortigen Diktaturen. Die Region war im Aufstand, zum Leidwesen der USA, die Nicaragua, die "Gefahr des guten Beispiels", wirtschaftlich strangulierte und die Region in Kriege verwickelte.
Aus Solidarität mit den mittelamerikanischen Befreiungsbewegungen bildeten sich in Deutschland zahlreiche Solidaritäts-Komitees. Bemüht um Unterstützung, sorgten sie für politische Aufklärung, organisierten Aufbaubrigaden und Beobachterdelegationen und verabredeten Städtepartnerschaften. Getragen von dieser überaus vitalen Solidaritätsbewegung wuchs auch medico und konnte seine Hilfen für die Region ausweiten: In den "befreiten Gebieten" El Salvadors entstand eine medizinische Notversorgungsstruktur (wobei die taz all denen, die nicht für das von ihr propagierte "Waffen-Konto" spenden wollten, das medico-Konto als Alternative anbot). In Guatemala unterstützten wir die "Geheimen Dörfer", in denen sich die indianische Bevölkerung vor der Völkermordpolitik der herrschenden Militärs in Sicherheit brachte, und auch in Nicaragua intensivierten wir unsere Aufbaubemühungen. Allen Rückschlägen durch den Contra-Krieg zum Trotz gelang es, das Krankenhaus von San Carlos fertig zu stellen und dabei sogar noch auf eine ökologisch nachhaltige Bauweise zu achten. Statt auf Energie fressende Klimatechnik setzten wir auf angepasste natürliche Lüftungssysteme und schufen damit die Voraussetzung, dass das Krankenhaus noch heute seine Mittel der medizinischen Versorgung zugute kommen lassen kann und nicht in kostspielige Betriebskosten stecken muss.
Salud Mental – Psychosoziale Arbeit
"Es reicht nicht, in den Menschen Nicaraguas nur ‚Objekte' medizinischer Versorgung zu sehen und die Vielzahl psychischer Probleme, mit denen Nicaragua zu kämpfen hat, außer Acht zu lassen", war 1984 im "medico-Rundschreiben" zu lesen, das seit 1982 vierteljährlich erscheint. "Die Befreiung aus materieller und psychischer Not gehören zusammen: von Anfang an."
Lange bevor der entwicklungspolitische Mainstream die Arbeit mit traumatisierten Menschen entdeckte, war die psychosoziale Arbeit zu einem Schwerpunkt von medico geworden. Verbunden ist dieses Engagement vor allem mit einem Namen: dem der Psychoanalytikerin und Antifaschistin Marie Langer, die in Nicaragua beim Aufbau einer sozialpsychiatrischen Versorgungsstruktur half und bis zu ihrem Tode 1987 eng mit medico verbunden blieb.
Aus der Arbeit des "Equipo Marie Langer" entstand ein globales Netzwerk von Psychotherapeutinnen und Psychologen, die sich damals in Chile um die Betreuung von Folter- und Repressionsopfern kümmerten und später auch in Mosambik, Südafrika, Sierra Leone, Palästina, Guatemala und El Salvador tätig wurden. Ziel des Bemühens war neben der Betreuung von seelisch erschütterten Menschen die Entwicklung geeigneter, den jeweiligen kulturellen Kontext berücksichtigender Behandlungskonzepte. Noch heute zählt die psychosoziale Arbeit zu den Schwerpunkten von medico.
Hilfe an der Seite von Befreiungsbewegungen
Es war eine Art Doppelstrategie, die medico im Laufe der 80er Jahre formulierte. Selbstverständlich standen praktisch-solidarische Hilfen auch weiterhin im Zentrum der Arbeit, zugleich aber begannen wir, uns systematisch mit den Strukturen auseinander zu setzen, die für das Elend der Welt verantwortlich sind. Wenn sich Hilfe nicht mit einem bloßen Abfedern von Not zufrieden geben will, muss sie sich sozusagen "ins Handgemenge" begeben, in die beharrliche Auseinandersetzung mit den krankmachenden Verhältnissen. So stand es im damals publizierten Selbstverständnis und so lautete es auch in Anzeigen, mit denen medico auf sich aufmerksam machte: "Hilfe ist nie neutral!"
Bewusst konzentrierte sich medico auf jene drei Regionen der Welt, in denen der Kampf um eine andere, eine solidarische Welt damals geführt wurde: Zentralamerika, Südliches Afrika und der Nahe bzw. Mittlere Osten. Gemeinsames Ziel aller Projekte war die Stärkung selbstbestimmter Lebensformen – auch und gerade in der Auseinandersetzung mit Repression und kriegerischer Gewalt.
In Südafrika unterstützte medico Gesundheitsgewerkschaften, Ärzteverbände und Basisinitiativen im Kampf gegen die Apartheid und bei der Aufrechterhaltung einer grundlegenden medizinischen Versorgung. Im Libanon, dessen Hauptstadt Beirut 1982 in Schutt und Asche gelegt wurde, galt die Hilfe den in existentielle Bedrängnis geratenen Flüchtlingen aus Palästina, der Ausbildung von Krankenschwestern und dem Aufbau eines Physiotherapiezentrums zur Versorgung von Kriegsopfern. Mit einer Projektsumme von nicht einmal 5.000 DM begann 1986 die Unterstützung für die auf Unabhängigkeit drängenden Kurdinnen und Kurden im Irak und im Iran (woraus später das größte "medico-Projekt" werden sollte). Auf den Philippinen förderten wir die demokratische Bewegung gegen die Marcos-Diktatur und unterstützten Gesundheitsgruppen, die sich gegen die Macht der Pharmakonzerne engagierten.
Anfänge der Globalisierungskritik
Nach und nach ist so neben der politischen auch die wirtschaftliche Macht ins Blickfeld geraten. Es war die Zeit, als sich der Weltmarkt bis in den letzten Winkel des Globus ausbreitete, die neo-liberalen "Chicago Boys" in Chile für die Privatisierung des Gesundheitswesens sorgten, die Inwertsetzung der tropischen Regenwälder begann, das Agrobusiness die kleinbäuerliche Landwirtschaft unter Druck setzte und der IWF mit knebelnden Strukturanpassungsprogrammen die Abhängigkeit des Südens zementierte. Nun waren es nicht mehr alleine die Verhältnisse im Süden, mit denen medico ins Gericht zu gehen hatte, sondern auch mächtige Akteure, die im eigenen Land Name und Adresse hatten. Zum Beispiel die Pharma-Multis, deren skandalöse Geschäftspraktiken medico 1982 in dem 200-seitigen Buch "Geschäfte mit der Armut" anprangerte. Es war das erste Buch, das medico herausgab, das auf Anhieb den Weg in die großen Medien fand. Mit landesweiten Kampagnen, wie der Aktion "Alternative Pharmavertreter besuchen ihre Hausärzte" warb medico für eine rationale Medikamentenversorgung im In- und Ausland.
Die Pharmaindustrie reagierte, nahm etliche unsinnige und gefährliche Präparate vom Markt – und schickte medico einen Privatdetektiv ins Haus. Dessen Dossier wurde später über Mitarbeiter eines Schweizer Unternehmens ebenso publik, wie wir schließlich auch Einblick in unsere Akte nehmen konnten, die das Apartheid-Regime in Südafrika angelegt hatte.
Die neue Qualität: Internationale Vernetzung
Das Bemühen um eine solidarische Welt zeigte Wirkung – auch und gerade bei denen, die sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Partizipation im Wege standen. Um der Kritik an den krankmachenden Strukturen mehr Nachdruck zu geben, entstand Anfang der 80er Jahre das internationale Ärztenetzwerk "Health Action International". Medico wurde dessen Mitglied, half maßgeblich beim Aufbau der europäischen Sektion und ist seitdem Teil einer globalen Struktur. Erstmals buchstabierten wir Solidarität nicht als Solidarität "für andere", sondern als eine "zwischen" gemeinsam für eine andere Welt streitende Akteure.
Thomas Gebauer
Lesen Sie hier über die Arbeit von medico in den Jahren 1989-98: „Zeitenwende“