Teil IV. Solidarität im transnationalen Raum 1998 – 2008
Kritische Not- und Entwicklungshilfe
1998, zehn Jahre nach dem vermeintlichen "Ende der Geschichte", war nicht mehr zu übersehen, wie die Geschichte weitergegangen ist. Nicht das "globale Dorf" hatte Kontur angenommen, sondern eine tief gespaltene Welt, in der der Ausnahmezustand für immer mehr Menschen die Regel wurde. Staatliche Deregulierung und ökonomische "Strukturanpassung" hatten nicht nur den Ausschluss großer Teile der Weltbevölkerung vorangetrieben, sondern auch ganze Länder in ihren Grundfesten erschüttert. Von "failing states" war nun die Rede, von Bürgerskriegsökonomien, die sich bedrohlich verselbstständigt hatten und über den globalen Handel mit Rohstoffen wie Diamanten, Tropenholz, Drogen oder Öl angefeuert wurden.
Die neoliberale Umgestaltung der Welt aber veränderte auch die Arbeit von Hilfsorganisationen. Angesichts der wachsenden Verelendung wuchs die Bedeutung unmittelbarer Not- und Katastrophenhilfe. Entsprechend änderte sich das Bild, das sich die medial gestützte Öffentlichkeit von wirksamer Hilfe machte. Nicht mehr das Bemühen um nachhaltige Überwindung von Armut und Katastrophen galt als glaubwürdig, sondern das humanitäre Abfedern von akuten Notlagen – und damit letztlich die Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse. Immer deutlicher wurde zur JahrtausendTeil der eigenen Truppen".
Für medico lag in dieser Entwicklung eine große Herausforderung. Überzeugt von der Notwendigkeit struktureller Veränderungen, pochten wir auf die Unabhängigkeit von Hilfe und machten zugleich deutlich, dass Hilfe nie neutral sein kann. Die Auseinandersetzung mit unkritischen Hilfskonzepten kulminierte in dem viel beachteten Kongress "Macht und Ohnmacht von Hilfe", den medico im März 2003 in Frankfurt organisierte. Hilfe, so das Fazit, hat sich an ihrem Beitrag zur Verwirklichung sozialer Rechte zu messen, nicht aber an der bloßen (medialen) Sichtbarkeit pragmatisch zupackender Helfer.
Was dies in der Praxis bedeutete, das konnte medico u.a. in Nicaragua zeigen, wo wir über Jahre hinweg den Leuten von "El Tanque" zur Seite standen, denen der Hurrikan Mitch 1998 alles genommen hatte. Die medico-Unterstützung reichte von der Bereitstellung von Soforthilfe-Materialien für Notbehausungen über die Mithilfe beim Errichten fester Häuser, die Wiederankurbelung der Landwirtschaft und den Aufbau eines komplett neuen Gemeinwesens bis hin zum juristischen Beistand bei der Legalisierung der Landnahme. Denn den wichtigsten Schritt für die Wiedergewinnung ihrer Lebensgrundlage hatten die "Tanqueños" selbst geleistet, als sie unmittelbar nach der Katastrophe brach liegendes Land besetzt hatten.
In Angola, wo medico seit Ende der 90er Jahre ein gemeindenahes Reha-Zentrum für Minenopfer unterstützte, gelang es, einen kleinen, aber bedeutenden Beitrag zum Ende des Bürgerkrieges zu leisten. Gemeinsam mit "Global Witness" u.a. hatten wir die internationale Kampagne "Fatal Transactions" ins Leben gerufen, die erfolgreich die Kontrolle des Handels mit Diamanten durchsetzen konnte.
Wirksame Hilfe, so die Lehre aus diesen Jahren, ist mehr als die Bereitstellung von Nothilfegütern. Das Konzept kritischer Not- und Entwicklungshilfe, das wir damals formulierten, leitete auch das "Tsunami-Engagement" von medico 2005/2006. Wir unterstützten unsere Partner in Indien und Sri Lanka beim selbstbestimmten Wiederaufbau und gingen zugleich mit denen ins Gericht, die den Opfern der Katastrophe Hilfe von außen überstülpten. Um das Bemühen um nachhaltige Entwicklung zu stärken, schloss sich medico im Januar 2006 mit vier weiteren deutschen NGOs zum "Bündnis Entwicklung hilft" zusammen.
Zeichen paradoxer Hoffnung
Spätestens seit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien war die Debatte über das Verhältnis zwischen Entwicklung und Sicherheit voll entbrannt. Das Wort von der "humanitären Intervention" machte die Runde, die 1998 ins Amt gekommene rot-grüne Bundesregierung drängte gar auf eine geregelte Kooperation zwischen Soldaten und Hilfsorganisationen. Da Militärs qua Mandat einen nationalen Sicherheitsbegriff verfolgen, Organisationen wie medico aber auf die universelle Verwirklichung von Menschenrechten drängen, widersetzten wir uns den Versuchen der Einbettung von Hilfe in sicherheitspolitische Strategien.
Ende 2001 appellierten wir gemeinsam mit Nobelpreisträgern und Intellektuellen aus aller Welt an den Bundestag, keine Soldaten nach Afghanistan zu senden, und begannen im gleichen Jahr, afghanische NGOs, mit denen wir schon in der "Minen-Kampagne" zusammengearbeitet hatten, bei der Minenräumung und damit der Entmilitarisierung ihres Landes zu unterstützen.
Frieden ist nicht das Ergebnis von Krieg. Frieden entsteht auf der Grundlage von gegenseitigem Vertrauen und Versöhnung. Das gilt auch für den Konflikt zwischen Israel und Palästina, wo medico Ende der 90er Jahre seine Arbeit intensivierte und dabei bewusst auf Gesundheitsprojekte setzte, in denen palästinensische und israelische Ärzteinitiativen über die Feindeslinien hinweg kooperierten. Darin sahen wir "Zeichen paradoxer Hoffnung", und mit dieser Überschrift riefen wir 2002 gegen die weitere Polarisierung und für mehr Zusammenarbeit im Nahen Osten auf. Auch dieser Appell fand weltweite Resonanz; das Frankfurter Schauspiel widmete ihm eine zentrale Veranstaltung.
Welche Kraft in Programmen ziviler Konfliktlösung liegt, konnten wir schließlich in Südafrika zeigen. In mühseliger Kleinarbeit, bei der auch eine medico-Kollegin vor Ort beteiligt war, gelang es unserem Partner, den Aussöhnungsprozess der Konfliktparteien im ehemals heftig umkämpften KwaZula Natal in Gang zu setzen. Zu den Schwierigkeiten, die es dabei zu überwinden galt, zählte auch die in Südafrika grassierende Korruption, die nicht zuletzt über lukrative Waffengeschäfte deutscher Rüstungsunternehmen gefördert wurde. Unser Bemühen, die Berliner Rüstungsexportrichtlinien zu verschärfen, scheiterte am Widerstand der Industrie.
Die Erfolge aber, die in Südafrika erzielt werden konnten, strahlten auf den Kontinent aus. Als die Kriege in Liberia und Sierra Leone zu Ende gingen, waren es die südafrikanischen Partner von medico, die ihr Know-how dem Bemühen um eine psychosoziale Betreuung der Kriegsopfer von Sierra Leone zur Verfügung stellten. Diesem Süd-Süd-Austausch waren vielfältige Bemühungen um die globale Vernetzung psychosozialer Projekte vorausgegangen. Hervorzuheben ist dabei ein einwöchiger Workshop im Juni 2000, zu dem wir unsere Partner nach Mainz eingeladen hatten.
Internationale Vernetzung
Damit war das zum strategischen Konzept geworden, was sich schon in den 90er Jahren angedeutet hatte: die Vernetzung von lokalen Selbsthilfeprojekten, regionalen Gesundheitsinitiativen und kritischen Fachleuten in aller Welt. Ohne eine unabhängige internationale Öffentlichkeit, so unsere Schlussfolgerung aus den Erfahrungen der Kampagne gegen die Landminen, wird der krisenhaften Entwicklung, die sich ja längst dem Einfluss von Nationalstaaten entzogen hat, nicht mehr entgegenzutreten sein.
Neben dem pharmakritischen Netzwerk "Health Action International" engagierte sich medico nun auch im "People's Health Movement" (PHM), einem globalen Zusammenschluss von kritischen Gesundheitsarbeitern, der sich gebildet hatte, um die voranschreitende Transformation von Gesundheit zur Ware aufzuhalten. Wir machten uns die 2000 in Bangladesh verabschiedete "People's Health Charta" zu eigen und begannen, in Deutschland Mitstreiter zu suchen – u.a. auf den alljährlichen "Armut-undGesundheit"-Konferenzen in Berlin.
Die Projekte praktischer Solidarität, die Unterstützung guatemaltekischer Kleinbauern, die sich zu "Zahnärzten" ausbilden ließen, die Förderung der Gesundheitsorganisation "Ghonoshastaya Kendra" in Bangladesh, deren ländliches Versorgungsprogramm über eine Million Menschen betreut, der Transfer von Technologie zur lokalen Herstellung dringend benötigter Medikamente, die langfristige Unterstützung von PODES in El Salvador, das unterdessen hochwertige Prothesen für Kriegsversehrte herstellt, die Hilfen für Migranten aus Afrika, die mittellos in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden – all die ca. 60 Projekte, die medico heute in 25 Ländern fördert, sind damit eingebunden in ein sich immer wirkungsvoller gegenseitig unterstützendes Netz von kritischen Gesundheitsinitiativen in aller Welt.
Ausblick
Das Ziel ist, allen Menschen überall auf der Welt ein Leben unter Bedingungen zu ermöglichen, die ein Höchstmaß an Gesundheit zulassen und im Krankheitsfall den Zugang zu einer angemessenen Versorgung gewährleisten. Angesichts des erreichten Globalisierungsgrades muss das keine Utopie mehr sein. Und so gilt unser Bemühen heute beispielsweise der Schaffung eines "Weltgesundheitsvertrages", der das Solidarprinzip der Risikoteilung verpflichtend internationalisiert (statt es im nationalen Kontext der Privatisierung zu opfern). Eine andere Welt ist möglich – sie bedarf auch einer anderen Hilfe!