Diyarbakir

Kulturerbe betreten verboten

26.07.2017   Lesezeit: 6 min

Mit dem Abriss der Altstadt wird nicht nur die Bevölkerung vertrieben, sondern auch eine Lebensweise zerstört. medico-Partner wehren sich dagegen.

Es sind hunderte Menschen die an einem Abend Mitte Juni zum Sonnenuntergang auf einem Platz in Sur, der historischen Altstadt von Diyarbakir (kurdisch Amed), zusammen kommen. Alte, Männer, Frauen und Kinder sitzen an einer langen Tafel aus Teppichen auf dem Boden und warten auf die Rufe des Muezzins, um sich den vollen Tellern vor ihnen widmen zu können. Das gemeinsame, öffentliche Fastenbrechen ist keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern Ausdruck von kollektiver, selbstbewusster Widerständigkeit. Nachdem die Sonne untergegangen und das Essen verzehrt ist, versammeln sich Jugendliche. Sie tanzen im Kreis und rufen Parolen. Ihnen ist egal, ob die Polizei gleich kommt oder am nächsten Morgen ihren Familien droht nicht mehr am Essen teilzunehmen – sie lassen sich nicht vertreiben, so die Botschaft.

Fastenbrechen gegen die Repression des autoritären Staates

Der von Erdogan verhängte Ausnahmezustand schränkt das Versammlungsrecht massiv ein, so dass politische Versammlungen nicht mehr stattfinden können. Das traditionelle Fastenbrechen ist also die einzige Möglichkeit für Bewohner und Aktivisten in Sur zusammen zu kommen. Zunächst versuchte die vom AKP-Regime eingesetzte Stadtverwaltung das gemeinsame Fastenbrechen zu verbieten, doch aufgrund des religiösen Charakters der Versammlung musste das Verbot zurückgezogen werden. Dies berichtet ein Vertreter der Platformu Sur, einem Zusammenschluss von Architekten und Aktivisten, die sich gegen die Zerstörungen und Vertreibungen in Sur einsetzen, diese dokumentieren und versuchen rechtlich zu verfolgen. Gemeinsam mit HDP-Abgeordneten und anderen kurdischen Hilfsstrukturen organisierten sie im Fastenmonat jeden Abend das Essen für hunderte Bewohner in Sur.

Solidarität und Zusammenhalt

Angefangen hatte es in Sur mit den Aufständen wütender kurdischer Jugendlicher, die die ausgerufene Selbstverwaltung der kurdischen Städte eigenmächtig auf der Straße verteidigten. Der Rückschlag der türkischen Staatsmacht war brutal, in wochenlangen Kämpfen wurde die Bevölkerung terrorisiert und der Aufstand grauenvoll niedergeschlagen. Häuser, zum Teil unter Denkmalschutz, wurden wahllos zerstört und Familien aus dem historisch gewachsenen Stadtteil, in dem verschiedene Religionen und Kulturen nebeneinander existieren, vertrieben. Bis jetzt betrifft dies etwa 5000 Familien, laut einem Bericht von Amnesty etwa 40.000 Menschen. Nach dem Ende der Kämpfe gehen die Zerstörungen weiter, im Auftrag der staatlichen Wohnungsbaubehörde Toplu Konut İdaresi Başkanlığı  (TOKI) ist bereits über ein Drittel der Altstadt komplett abgerissen. Davon betroffen sind historische Gebäude, Moscheen oder Kirchen. So wurden mehrere der religiösen Bauten enteignet, viele zerstört. Und der Abriss geht weiter, alle Wohnhäuser sollen abgebrochen werden, die Bewohner werden vertrieben.

Die Häuser werden von den Familien meist seit mehreren Generationen bewohnt, die Besitztitel von Generation zu Generation weitergegeben.  Es sind meist einfache, ein oder zweitstöckige Häuser, eng aneinander gebaut und miteinander verbunden. Das Leben findet traditionell in gemeinsamen Höfen statt. Einige Gebäude sind auch erst Anfang der 1990er Jahre entstanden, als Familien aus den Dörfern in die Städte fliehen mussten, vor den Repressionen der türkischen Militärs. Die kollektiven Strukturen im Stadtteil sind über Generationen hinweg gewachsen und zeugen von Solidarität und Zusammenhalt. Ob die Kinder irgendwann mit der eigenen Familie in den Häusern ihrer Eltern wohnen werden können, ist mehr als ungewiss.

Vertreibung mit System

Seit Wochen sind in einigen der noch bewohnten Straßenzüge Wasser und Strom abgestellt, nun wurde die Kanalisation verstopft. Wahrscheinlich auf Anordnung der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft. Noch können die Familien sich unter einander helfen, es werden Wasserschläuche in die betroffenen Häuser gelegt und kollektiv Stromleitungen angezapft. Dass nun die Kanalisation untauglich gemacht wurde bereitet Sorgen, wenn sich das Abwasser in den Straßen staut, können sich schnell Krankheiten ausbreiten. Wie lange die Bewohner dem Druck standhalten, ist ungewiss. Aber es gibt keine Alternative. Niemand kann sich vorstellen, in die Neubauten am Stadtrand zu ziehen, die dort in unglaublicher Anzahl und Schnelligkeit hochgezogen werden. Das Wahlversprechen Erdogans – der wirtschaftliche Aufschwung und Steigerung der Produktivkräfte manifestiert sich in diesen Wohnsilos. Gebaut werden diese aber sicher nicht für die Bewohner des Altstadtviertels. Die Wohnungen sind zu teuer und sie widersprechen in Allem der Lebensweise und den kollektiven Strukturen der alteingesessenen Bewohner.

Aber die Vertreibung rückt immer näher. Offizielle Räumungstitel, Anhörungen oder Gerichtsverfahren gibt es nicht. Die Kinder spielen tagsüber in den Ruinen der Häuser, die während der Kämpfe zerstört wurden und nun statt wiederaufgebaut, abgerissen werden. Täglich kommen sie in Kontakt mit den Antiterroreinheiten, die durch die Straßen patrouillieren. Ein Teil der Stadt ist gar nicht mehr begehbar, dort wurde bereits alles abgerissen. Das Ruinenfeld wird hinter mobilen Betonwänden und Polizeisperrungen versteckt und ist nicht zugänglich. Historische Bauten, sofern sie nicht zerstört wurden, werden  mit überdimensionierten Flaggen des türkischen Staates verhängt.

Aus Sur wird jetzt Toledo

Nach dem Vorbild der spanischen Altstadt Toldeo soll Sur wieder aufgebaut werden, so der Plan des AKP-Regime: als touristische Attraktion ohne gewachsenes Stadtleben und einer Geschichtsschreibung im eigenen Interesse, ist zu vermuten.

Genau wie die Altstadt Toledos ist Sur seit 2015 UNESCO Weltkulturerbe.  Unter dem Schutz der UNESCO stehen die historische Stadtmauer sowie die angrenzenden Hevsel Gärten. Die Zerstörung der Altstadt wird von der UNESCO hingenommen, Protestaktionen und offene Briefe von Initiativen wie u.a. der Platformu Sur bislang ignoriert. Als ein Treffen der UNESCO Vertreter in Istanbul stattfand, wurde Aktivisten die Teilnahme verweigert. Aus Protest trat der seit 1996 ehrenamtlich aktive türkische UNESCO Botschafter Zülfü Livaneli zurück, auch dies blieb ohne Konsequenzen. Der Abriss und die komplette Umstrukturierung sowie ein Bevölkerungsaustausch schreiten in Sur rasend voran – Gentrifizierung á la AKP-Regierung.

Die Wohnhäuser, die von TOKI innerhalb Surs errichtet werden sollen, entsprechen nicht mehr der traditionellen Bauweise der „Diyarbakir-Häuser“, sondern sind klassische Doppelhaushälften ohne die versteckten Höfe und kleine, verbindende Gänge. Die Forderung des Wiederaufbaus der Häuser nach der alten Bauweise verhallt ins Leere. Die Entschädigungszahlungen sind so gering, dass ein Einzug wirtschaftlich kaum möglich sein dürfte oder die Familien sich verschulden müssten. Auch Vorschläge der Anwohner, mit staatlicher Unterstützung ihre nur zum Teil in Mitleidenschaft gezogenen Häuser wieder aufzubauen, bleiben ungehört. Der Austausch der Bevölkerung, der Neuaufbau nach dem Vorbild einer Touristen-Attraktion und die stetige Repression eines autoritären Staates, lassen für die Zukunft der kurdischen Städte nichts Gutes erahnen.

medico-Partner unterstützten das widerständige Fastenbrechen und setzen sich gegen den Abriss der Altstadt und die Vertreibung der Bewohner aus Sur ein. Die Zerstörungen und Vertreibungen laufen auch in anderen Städten in der kurdischen Region in der Osttürkei. medico unterstützt bei Sirnak ein Projekt zum Wiederaufbau von Häusern für vertriebene Familien. Diese Häuser werden in den umliegenden Dörfern der Stadt errichtet, da eine Rückkehr in die Stadt nicht möglich ist. Die kurdische Zivilbevölkerung lässt sich nicht entmutigen und reorganisiert sich. Hilfe und Solidarität werden dringend benötigt.

Spendenstichwort: Türkei/Kurdistan


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