Türkei

Ein Freifahrtschein

17.06.2021   Lesezeit: 8 min

Trotz Angriffen auf Machmur und Besatzung in Rojava: Völkerrecht und Menschenrechte spielen für die deutsche Außenpolitik gegenüber der Türkei keine Rolle.

Von Anita Starosta

Ob im Nordirak, in Nordsyrien/Rojava oder in der Türkei – Kurd:innen und Aktive der Zivilgesellschaft, die für einen demokratischen Wandel und Minderheitenrechte einstehen, werden mit allen Mitteln vom türkischen Staat bekämpft und verfolgt. Dabei spielt die Meinungsfreiheit oder die Achtung des Völkerrechts längst keine Rolle mehr. Erdogan verfolgt mit seinem national-autoritären Kurs eine außenpolitische Strategie zur Ausweitung der hegemonialen Stellung der Türkei nach Vorbild des osmanischen Reiches. Ein prioritäres Ziel ist dabei die Vernichtung jeglicher progressiver kurdischer Bestrebungen nach Autonomie in der gesamten Region.

Dabei lässt die internationale Gemeinschaft Erdogan weitestgehend gewähren – denn seine Druckmittel sind bedeutend: Flüchtlingsdeal, Rüstungsexporte und ökonomische Beziehungen für das Schweigen zu Menschenrechtsverletzungen in der Region. Bei medico verfolgen wir diese besorgniserregende Entwicklung an der Seite unserer kurdischen Partner:innen in der Türkei, Nordirak und Nordsyrien/Rojava seit Jahren.

Machmur: Ein bedrohter Exilort

Die Rakete, die von einer türkischen Drohne am 5. Juni 2021 über dem Nordirak abgefeuert wurde, tötete im kurdischen Flüchtlingslager Machmur drei Bewohner:innen, so lauteten Pressemeldungen. Es ist nicht der erste Drohnenangriff, den die Bewohner:innen von Machmur erleben. Bereits vor einem Jahr setzte die türkische Armee eine Drohne ein, um das Lager anzugreifen – damals starben zwei Frauen. Wiederholt missachtet die Türkei mit ihren Drohnenangriffen geltendes Völkerrecht –das Flüchtlingslager steht unter dem Schutz der Vereinten Nationen. Nur zehn Tage vor dem NATO-Gipfel und einem Treffen mit US-Präsident Biden zeigte die Türkei, dass zivile Ziele ohne Konsequenzen angegriffen werden können.

Mitte der 1990er Jahre flohen tausende Kurd:innen aus der Südosttürkei vor einem gewaltvollen Krieg, der auch gegen sie geführt wurde. Als kurdische Minderheit in der Türkei war es ihnen verboten, die eigene Sprache zu sprechen, ihre Kultur zu leben und eine eigene politische Repräsentanz zu haben. Die Flucht führte sie über die Berge in den Nordirak, wo vor über 25 Jahren das Flüchtlingslager Machmur entstand. Heute leben hier über 13.000 Menschen – inzwischen schon in der dritten Generation. Die Flüchtlingszelten sind Steinhäuser gewichen und eine rudimentäre Infrastruktur ist gewachsen – Schulen, Kindergärten und ein Krankenhaus konnten mit UN-Hilfe gebaut werden. Dennoch ist das Leben in Machmur nicht einfach, als billige Arbeitskräfte verdingen sich viele Bewohner:innen in der nahegelegenen Großstadt Erbil. Studienplätze zu bekommen ist für die Jugendlichen oft schwer, da sie als Staatenlose gelten und keine gültigen Papiere besitzen. Türkischen Boden haben sie noch nie betreten. Hinzu kommt, dass dieser Exilort längst kein sicherer Rückzugsort mehr ist. Zwar konnte der Vormarsch des Islamischen Staates in Richtung Erbil 2014 gestoppt wurden, doch bis heute finden in unmittelbarer Nähe des Lagers Angriffe des IS statt.

Seit Ende April findet eine weitreichende türkische Militäroperation im Grenzgebiet zum Nordirak statt, die laut Erdogan das Ziel hat die in der dortigen Bergregion ansässigen kurdischen Guerillaeinheiten der kurdischen Arbeiterpartei (PKK) zu bekämpfen. Im Zuge solcher Militäroperationen sind auch in Vergangenheit immer wieder Zivilist:innen getötet worden. Medial wird diese Auseinandersetzung bisher kaum wahrgenommen. Sollte die aktuelle Militäroperation im Nordirak jedoch weiter eskalieren, drohen tausende Menschen erneut fliehen zu müssen. In den Bergen der irakisch-türkischen Grenzregion leben viele Menschen, die Vertreibungen durch türkisches Militär fürchten und größere Angriffe auf Machmur werden befürchtet, denn Erdogan kolportiert das kurdische Lager als einen „Ort des Terrors“ . Dass die Regierung in Bagdad die türkischen Angriffe verurteilt, ist wichtig, ebenso der kürzliche Besuch (Montag 14.6.) des irakischen Ministerium für Flucht und Migration und UN-Vertreter:innen in Machmur. Dennoch braucht es mehr internationale Aufmerksamkeit und klare Grenzen für Erdogan, um den Schutz der Menschen in der Region langfristig zu garantieren.

Stattdessen wurden vor wenigen Tagen die Mitglieder einer Friedensdelegation (Parlamentarier:innen der Linkspartei, Journalist:innen und Aktivist:innen), die zur Beobachtung und Dokumentation der angespannten Situation in den Nordirak reisen wollten, schon in Deutschland an der Ausreise gehindert beziehungsweise direkt nach der Ankunft in Erbil wieder abgeschoben. Die deutschen Sicherheitsbehörden begründeten ihr Vorgehen gegen die Delegation mit einer vermeintlichen Unterstützung der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Die Delegation würde die Beziehung der Bundesrepublik zur Türkei belasten. Ähnlich lauten die Begründungen, mit denen tausende Aktivist:innen, Politiker:innen und Journalist:innen in der Türkei verhaftet wurden und verurteilt werden. Die Samthandschuhe, mit denen die deutsche Regierung die Türkei anfasst, sind nicht mehr neu, dennoch ist es mehr als beunruhigend, wenn unabhängige parlamentarische Beobachter:innen festgesetzt und behindert werden. Völkerrecht und Menschenrechte spielen für die deutsche Außenpolitik gegenüber der Türkei keine Rolle.

Rojava: Völkerrecht zählt nicht

Die Autonomieverwaltung im Nordosten Syriens scheint momentan nicht im Fokus der türkischen Aggression zu stehen, dennoch finden permanent Angriffe niederer Intensität statt, die die Bevölkerung einschüchtern und den prekären Status der von der Pandemie gebeutelten Region perpetuieren. So kommt es regelmäßig zu Beschuss aus den von der Türkei besetzten Gebieten, wo islamistische Rebellengruppen die Städte eroberten, in denen zuvor das kurdische Demokratieprojekt für Wiederaufbau und ein friedliches Miteinander gesorgt hatten. Immer wieder wird zudem die Wasserversorgung für die Region Hasakeh gestoppt: Über Staudämme kann die Türkei den Fluss von Tigris und Euphrat nach Nordostsyrien regulieren. Davon betroffen sind bis zu 500.000 Menschen in der Region. Während der sommerlichen Dürreperiode kann das für Mensch, Flora und Fauna lebensbedrohlich werden.

Nicht zuletzt versucht die Türkei in Nordostsyrien bevölkerungspolitische Fakten zu schaffen. Mit der Einnahme der kurdischen Region Afrin und einem Landstrich nördlich von Aleppo und an der Grenze von Tall Abyad bis Serekaniye kontrolliert die Türkei aktuell etwa 7 Prozent des syrischen Territoriums. Hunderttausende Menschen flohen und wurden in den Flüchtlingslagern Rojavas aufgenommen. Währenddessen siedelt die Türkei in ihren Dörfern gezielt arabische Flüchtlinge aus Syrien an, um die demografische Veränderung der Region voranzutreiben. Nach Angaben der Türkei wurden bereits 435.000 Flüchtlinge „zurückgeführt“ und weitere 550.000 syrische Binnenflüchtlinge angesiedelt.

Völkerrechtswidrig war schon die Einnahme dieser Gebiete in Nordostsyrien (auch mit deutschen Panzern), da es keine erkennbare Bedrohungslage für die Türkei gab. Die Besatzung und Ansiedlung von Flüchtlingen widerspricht ebenfalls dem Völkerrecht und könnte laut einer Entschließung des Europäischen Parlaments einer ethnischen Säuberung an der syrisch-kurdischen Bevölkerung gleichkommen. Doch bis heute sind kaum internationale Bemühungen festzustellen, die der aggressiven Expansion der Türkei etwas entgegensetzen.

Türkei: Außenpolitik und innenpolitische Krise

Der türkische Kurswechsel in der Außenpolitik weg von einer Annäherung an Europa zielt auf eine hegemoniale Stellung in der Region und darüber hinaus. Erdogan bezieht sich dabei immer wieder auf die historische osmanische Vormachtstellung und sucht strategischen Kontakt zum Beispiel nach Russland und China, um die eigene Position in der außer den Fugen geratenen Weltordnung zu finden und zu stärken. Eine Annäherung an den Westen ist längst hinfällig und drückt sich zuletzt in den Verhaftungen derjenigen aus, die diesen Kurswechsel im Land kritisch begleiten und hinterfragen. Auch stehen die Bemühungen um eine EU-Mitgliedschaft und ein stabiles Verhältnis zu den NATO-Partnerländern nicht mehr im Vordergrund – zuletzt sorgte der Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400 für große Verstimmungen. Dass sich Erdogan und Biden beim NATO-Gipfel wieder angenähert und gegenseitige Loyalität bekräftigt haben, ändert das noch nicht.

Auch bei ihren militärischen Vorstößen nimmt die Türkei schon lange keine Rücksicht mehr auf geltendes Recht. So werden syrische Söldner nach Libyen oder Aserbaidschan geschickt, um dort zu kämpfen, die eigene Drohnenproduktion läuft auch Hochtouren. Die Waffen kommen nicht nur in Nordsyrien oder im Nordirak regelmäßig zum Einsatz, sondern haben auch im Konflikt um Bergkarabach eine entscheidende Rolle gespielt.

Der außenpolitische Machtanspruch rettet die türkische Regierung auch in einer innenpolitischen Krise. Da helfen Narrative der nationalen Einheit und Expansion noch immer, um die schlechte Stimmung infolge einer hohen Inflation, schlechter Umfragewerte für die AKP und der Corona-Pandemie zu verbessern. Mit dem inzwischen erneuerten Verbotsantrag gegen die linke HDP, dem unter anderem ein Politikverbot für 500 Politiker:innen anhängt, ist Erdogan ein erneuter Coup gegen die Demokratie in der Türkei gelungen. Auch hier braucht es eine breite Solidarität, um dem Verbotsverfahren über die Grenzen der Türkei hinaus etwas entgegenzusetzen.

Ein demokratischer Wandel und eine Rückkehr zu echter Meinungsfreiheit wird unter Erdogan nicht stattfinden. Stattdessen nehmen Verhaftungen und Repressionen gegen kritische Akteure weiter zu und der autoritäre Kurs bestimmt die Agenda von Erdogan und Anhänger:innen. Die weitreichenden Menschenrechtsverletzungen und der wiederholte Bruch des Völkerrechts reichen bisher nicht dazu aus, auf internationaler Ebene ernsthafte Konsequenzen zu ziehen. Das mag an Rüstungsdeals und ökonomischen Beziehungen liegen und nicht zuletzt daran, dass sich die Europäische Union mit dem vor fünf Jahren geschlossenen Flüchtlingsdeal zur Abschottung gegenüber Flüchtlingen, die über die Türkei nach Europa wollen, offensichtlich vollkommen erpressbar gemacht. Notwendig ist die Aufkündigung des Deals, die Einhaltung der Menschenrechte und Achtung des Völkerrechts als oberste Prämisse in den Kooperationen mit der Türkei, um so die demokratischen Akteure in der Region auch international zu stärken. Solange das nicht passiert, bleibt uns nur die Unterstützung  derjenigen, die für ein demokratisches und gleichberechtigtes Miteinander eintreten – ob in Machmur, Rojava oder in der Türkei.

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Kommunikation zur Türkei, zu Nordsyrien und dem Irak zuständig. 

Twitter: @StarostaAnita
Bluesky: @starosta


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