Gastbeitrag

Das Türkei-Abkommen der EU ist ein Desaster

28.01.2020   Lesezeit: 3 min

Merkel hat beim Treffen mit Erdogan die Vereinbarung bekräftigt - und damit den Weg bereitet für weitere Verletzungen der Menschenrechte.

Von Anita Starosta

Die Zustände in den hoffnungslos überbelegten Hotspots auf den griechischen Inseln, die gefährlichen Übergriffe der türkischen Küstenwache auf Flüchtlingsboote, Tausende neue Flüchtlinge, die Erdogans Krieg gegen die Kurden in Nordsyrien produziert hat, und das humanitäre Drama im Kriegsgebiet Idlib: Das alles steht in Zusammenhang mit dem EU-Türkei-Abkommen aus dem Jahr 2016.

Statt angesichts der Eskalation eine neue politische Grundlage für den Umgang mit Flüchtlingen und Migranten an den Grenzen der EU zu erarbeiten und auf die Einhaltung der Menschenrechte zu drängen, stellte Kanzlerin Angela Merkel dem türkischen Präsidenten vergangenen Freitag weitere Zahlungen in Aussicht – für die brutale türkische Küstenwache ebenso wie erstmals auch für den Bau von Flüchtlingsunterkünften in Nordsyrien.

Entgegen der in den letzten Tagen häufig zu vernehmenden Ansicht, das Abkommen an sich sei gut, es gehe nur um Verbesserungen hier und da oder um eine konsequentere Umsetzung, ist festzuhalten: Das EU-Türkei-Abkommen war von Anfang an ein einziges Desaster.

Ausgedacht von der sogenannten Denkfabrik ESI im Zentrum Europas, haben es Politikerinnen und Politiker wie Merkel dankbar aufgegriffen, um nach dem „Sommer der Migration“ 2015 zügig Handlungsfähigkeit zu beweisen. Die Grundidee: Wir geben euch einen „illegalen“ Flüchtling zurück, dafür dürft ihr uns einen anderen legal schicken.

Das hat nicht funktioniert, das kann auch gar nicht funktionieren. Denn mit einem solchen Deal wird man weder den zahlreichen individuellen Fluchtbiografien, die einer gründlichen Einzelfallprüfung bedürfen, noch der politischen Gemengelage um die Türkei herum auch nur im Entferntesten gerecht.

Für den Umgang mit den zuletzt wieder steigenden Flüchtlingszahlen ist es keine Lösung, die schleppend verlaufenden Rückführungen in die Türkei zu beschleunigen, wofür Innenminister Horst Seehofer der griechischen Regierung bereits im Oktober seine Unterstützung zusagte. Denn dass Abschiebungen von Griechenland in die Türkei nicht in dem im Rahmen des Deals geplanten Ausmaß stattfanden, liegt nicht einfach am Versagen der griechischen Behörden.

Es ist vielmehr so, dass Anwältinnen wie die von Pro Asyl/Refugee Support Aegean durch Interventionen bei verschiedenen Gerichten in den letzten Jahren viele Abschiebungen verhindert haben, weil die Türkei für die Betroffenen nicht sicher ist. Als wäre die Situation nicht katastrophal genug, erklärte Merkel auch noch die Bereitschaft, die Türkei bei der Versorgung von Flüchtlingen in Nordsyrien im Rahmen einer UN-Mission unterstützen zu wollen. Das wäre ein Tabubruch.

Für die sogenannte Sicherheitszone in Nordsyrien, die die Türkei seit der Militäroperation „Friedensquelle“ im Oktober besetzt hat, verfolgt Erdogan einen eigenen Plan. In neu gebauten Städten sollen Flüchtlinge angesiedelt und so Fakten geschaffen werden. Sollten dazu UN-Mittel fließen, würde ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, als den der wissenschaftliche Dienst des Bundestags die türkische Invasion bezeichnet hat, mit internationaler Hilfe legitimiert und die Bundesregierung mitschuldig an der Vertreibung in Nordsyrien.

Es ist eine außenpolitische Bankrotterklärung, jetzt gemeinsam mit denen Flüchtlingsunterkünfte zu bauen, deren Krieg Hunderttausende in die Flucht getrieben hat. Bis heute leben in Nordsyrien Zehntausende Menschen in provisorischen Unterkünften und Flüchtlingscamps, die aus dem seit Oktober von türkischen Söldnertruppen besetzten Gebiet fliehen mussten.

Im syrischen Idlib verschärft sich die humanitäre Katastrophe. Zivilisten werden gezielt von syrischer oder russischer Armee angegriffen – während die Türkei Milizen unterstützt. Anstatt mit Erdogan über eine Unterstützung der türkischen Küstenwache und den Bau von Flüchtlingsunterkünften im Kriegsgebiet zu verhandeln, müsste Merkel sich für legale Fluchtwege nach Europa, ein Ende der Kämpfe in Idlib und den Rückzug der türkischen Truppen aus Nordsyrien einsetzen. An einem an den Schreibtischen von Technokraten ausgedachten Tauschhandel, der lediglich auf die Steuerung von Migrationsbewegungen zielt, festzuhalten, ist Teil des Problems, nicht Teil der Lösung.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Frankfurter Rundschau vom 28. Januar 2020.

Anita Starosta

Anita Starosta leitet die Öffentlichkeitsarbeit von medico international. Außerdem ist die Historikerin für die Kommunikation zur Türkei, zu Nordsyrien und dem Irak zuständig. 

Twitter: @StarostaAnita


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