Ramona Lenz: Wir waren letztes Jahr zusammen auf Lesbos. Du hast mit Flüchtlingen in Moria gesprochen und viele Leute kennengelernt, die ihnen seit Jahren zur Seite stehen. Damals war die Lage schon dramatisch. Und jetzt: Neue Flüchtlingsboote werden am Anlegen gehindert und die Flüchtlinge auf der Insel haben Angst vor Übergriffen. Internationale NGO-Mitarbeiterinnen und Freiwillige verlassen die Insel und die Einheimischen fürchten um ihr Leben. In den letzten Tagen haben einige von ihnen Morddrohungen erhalten oder wurden körperlich angegriffen. Und am Evros wird auf Flüchtlinge aus der Türkei geschossen. Wie ist es vor diesem Hintergrund zu bewerten, dass die europäische Kommission vorbehaltlos den griechischen Grenzschutz unterstützt, der keine Hemmungen hat, Tränengas und scharfe Munition gegen Flüchtlinge einzusetzen? Was heißt das für Europa?
Jean Ziegler: Die europäische Glaubwürdigkeit wird schwerstens beschädigt. Das moralische Fundament des kontinentalen Rechtsstaats, so wie er von den Gründervätern 1957 in den EU-Verträgen anvisiert worden ist, dieser europäische kontinentale Rechtsstaat begeht Selbstmord. Dies ist ein absolut entscheidender tragischer Moment in der Geschichte Europas.
Die Situation an der Grenze ist eskaliert, weil der türkische Staatschef Erdoğan die Grenze einseitig für Flüchtlinge geöffnet hat, während Griechenland sie mit allen Mitteln geschlossen hält. Hätte die EU sich überhaupt auf einen Deal mit Erdoğan einlassen dürfen?
Der Deal war von Anfang an ein Wahnsinn. Ein Wahnsinn, weil er alle anderen Flüchtlingsnationalitäten bis auf die syrische ausgeschlossen hat, und weil man mit einem Diktator einen Deal eingegangen ist, der die Universalität des Asylrechts untergraben hat.
Die EU hält trotzdem an dem Deal fest. Vor wenigen Tagen war EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen im griechisch-türkischen Grenzgebiet und hat zugesagt, die griechische Regierung mit 700 Millionen Euro für Grenzschutzmaßnahmen zu unterstützen. Kein Wort zu den Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen.
Wenn sie dahin fliegt, hätte sie der griechischen Regierung nahelegen müssen, die Grenzen zu öffnen. Sie müsste dafür sorgen, den Relokalisationsplan von 2016 zur Aufnahme von Flüchtlingen in anderen EU-Ländern in Kraft zu setzen. Und wenn die acht osteuropäischen Staaten, die diesen Relokalisationsplan verwerfen, obwohl es ein verbindliches Urteil des europäischen Gerichtshofs gibt, das diesem Plan Rechtskraft verleiht, müsste sie dafür sorgen, dass diese rassistischen, xenophoben Regierungen ausgeschlossen werden von europäischen Subventionen. Die Subventionen müssten für diese Länder ausgesetzt werden, bis sie einwilligen, ihren Teil an Flüchtlingskontingenten aufzunehmen. Denn wenn die Relokalisation gelingt, könnten die Hotspots sofort geschlossen werden.
Warum ist von der EU-Kommission nichts dergleichen zu hören?
Da von der Leyen nur dank rechtsextremer Stimmen gewählt worden ist, sind ihr die Hände durch die rassistischen Regierungen in Polen, Ungarn usw. gebunden. Wenn der polnische Ministerpräsident sagt, „Polen nimmt keine Flüchtlinge auf, weil sie die ethnische Reinheit Polens gefährden“, dann ist das Nazi-Vokabular. Diese Rassisten muss man bekämpfen, man darf ihnen nicht den kleinen Finger geben. Was von der Leyen macht, ist eine selbstmörderische Politik für Europa. Sie begeht einen tragischen Fehler: Sie glaubt, dass sie die xenophoben, rassistischen Bewegungen in Europa, die unglaubliche Fortschritte machen, besänftigen kann, wenn sie Kompromisse mit Rassisten, Antisemiten, Antifeministen, Antiislamisten eingeht. Das sind Feinde der Menschheit, denen man nicht entgegenkommen kann. Das hat München 1938 mit Hitler gezeigt. Da wurde gesagt: „Du kannst das Sudetenland annektieren, aber mach bitte keinen Krieg“. Und was passierte? Die Annexion – und der Krieg. Von der Leyen und viele andere glauben: Wenn sie das Asylrecht liquidieren und die Flüchtlingszahlen in Europa dramatisch senken, würden die rechtsextremen Regierungen in ihrem Vormarsch gestoppt. Das ist, wie wir aus der Geschichte wissen, ein Irrtum. Die Schließung der Grenzen ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie bedeutet die Liquidation des universellen Menschenrechts auf Asyl (Artikel 14 der universellen Deklaration der Menschenrechte) und untergräbt das moralische Fundament der Europäischen Union.
Was kann man jetzt tun, um den Flüchtlingen an den Grenzen und ihren Unterstützer*innen zur Seite zu stehen?
Die öffentliche Meinung muss aufstehen! Es geht ja um Europa. Das wird alles in unserem Namen gemacht. Jetzt müssen die einzelnen Regierungen der EU ganz deutlich den Schutz der Flüchtlinge und NGOs vor Ort organisieren. Nicht nur verbal. Die Menschen brauchen Polizeischutz, jetzt.
Spendenaufruf für die Verteidigung der Menschenrechte
Das jahrelange politische Totalversagen von Syrien bis Griechenland zeigt sich in diesen Tagen besonders unerträglich. Jetzt kommt es auf diejenigen an, die Solidarität und Menschlichkeit verteidigen, die medico-Partnerorganisationen machen es vor:
In Rojava baut der Kurdische Halbmond Flüchtlingslager für Familien aus Idlib und heißen die Menschen willkommen. In Idlib versorgt das von medico unterstützte Frauenzentrum ankommende Flüchtlinge, unter den Bomben des Regimes. Und in Griechenland, auf Lesbos, werden die von medico unterstützten Menschen von "Home for All" bedroht, die Geflüchtete versorgen und unterbringen.
Was uns bleibt ist die grenzüberschreitende Solidarität: Bitte unterstützen Sie die medico-Partner mit einer Spende!