Idlib, Syrien

Das Leben geht zu Ende

15.01.2020   Lesezeit: 5 min

Nach der Tötung des iranischen Generals Soleimani betrieb die Bundesregierung hektische Diplomatie. Derweil interessiert sich kaum noch jemand für die Katastrophe, die Hunderttausende Menschen im syrischen Idlib erleiden.

Von Till Küster

Im April 2019 begann die syrische Armee, unterstützt von russischen und pro-iranischen Einheiten, eine militärische Offensive aus der Luft und am Boden auf die letzte Rebellenenklave im Nordwesten Syriens, in der 1,5 Millionen Menschen in den letzten Jahren Zuflucht vor den Kämpfen in anderen Landesteilen gefunden haben.

Die Vereinten Nationen und lokale Organisationen dokumentieren die Folgen des Angriffs: Städte wie Ma‘arrat al Numan im Süden der Provinz wurden durch anhaltenden Beschuss dem Erdboden gleichgemacht und sind entvölkert. Luftschläge treffen immer wieder gezielt Krankenhäuser, Schulen und andere öffentliche Orte. Allein seit Dezember 2019 sind erneut über 300.000 Menschen in Idlib in die Flucht geschlagen worden, die allermeisten von ihnen Frauen und Kinder. Sie fliehen nach Norden, an die türkische Grenze, einige auch in die von der Türkei annektierte Provinz Afrin. Aufgrund der türkischen Kontrolle fallen hier wenigstens keine Bomben – dafür patrouillieren pro-türkische Islamisten-Banden in den Straßen, Gewalt und Willkür sind an der Tagesordnung.

Unsere Partner*innen des Frauenzentrums in Idlib-Stadt versuchen, neu ankommende Flüchtlinge zu versorgen, die Aktivistinnen beherbergen die Menschen teilweise in ihren Privatwohnungen. Uns erreichen wieder einmal drastische Bilder von im Schlamm versinkenden, völlig unzureichend ausgestatten Zeltlagern, von Menschen, die im Freien schlafen oder in ehemaligen Gefängnissen Schutz suchen.

Das doppelte Spiel der Türkei

Iran und die Türkei haben Militärposten rund um Idlib installiert, weite Teile der Provinz werden von der radikalen Miliz HTS beherrscht, ein Ableger von Al-Nusra. Andere Rebellengruppen werden von der Türkei unterstützt, die auch die einzige Lebensader in Form des Grenzübergangs bei Bab-Al Hawa kontrolliert. Vor Monaten hatten sich Russland und die Türkei öffentlichkeitswirksam auf eine sogenannte demilitarisierte Zone und die Entwaffnung von HTS geeignet. Doch nichts geschah, stattdessen geht der Krieg gegen Zivilist*innen ungehemmt weiter.

Die Türkei spielt dabei ein doppeltes Spiel. Auf der einen Seite hat sie in Idlib strategische Interessen, ist mit ihrem Militär präsent, gleichzeitig hält sie die Grenze für Flüchtende dicht. Die Menschen sitzen in der Falle. Mitverantwortlich für diese Abschottung ist die EU und ihr unsäglicher Flüchtlingsdeal mit der Türkei, die genau diese Politik der geschlossenen Grenze billigend in Kauf nimmt. Zwar wurde das UN-Programm zur grenzüberschreitenden Hilfe trotz aller Einschränkungen zumindest für Idlib fortgesetzt, jedoch lediglich für weitere 6 Monate. Es bleibt unklar, wie die überlebenswichtige Hilfe für die Eingeschlossenen in Idlib danach fortgesetzt werden kann.

Verfolgung und Zerstörung bleiben Alltag in Syrien

Während in Idlib weiter gekämpft wird, bestraft Assad in den Vororten der syrischen Hauptstadt Damaskus weiter die Bewohner*innen der ehemaligen Oppositionsgebiete. In Yalda im Süden der Hauptstadt wurden vor wenigen Tagen 52 Kinder verhaftet, weil sie angeblich ein Plakat des Herrschers beschädigt hatten. Eine makabre Episode – nicht nur, weil der Aufstand in Syrien 2011 begann, nachdem Jugendliche verhaftet und misshandelt wurden, weil sie ein regimekritisches Graffiti gesprüht hatten.

Neben Yalda liegt das palästinensische Viertel Jarmuk, einer der schlimmsten Orte des syrischen Krieges: Von der bewaffneten Opposition erobert, vom Regime belagert und ausgehungert, bis der IS einmarschierte. 2018 dann Rückeroberung des vollkommen zerstörten Stadtviertels durch Assads Truppen. Bis heute liegt Jarmuk in Trümmern. Eine Rückkehr der palästinensischen Bewohner*innen bleibt vom Regime verboten und ist faktisch auch aufgrund der Schäden unmöglich. Zuletzt wurde lediglich einigen Familien die Rückkehr nach Jarmuk genehmigt, deren Angehörige für Pro-Regime-Milizen gekämpft hatten, darunter die Terrorbande PFLP-GC.

medico unterstützte über viele Jahre eine Partnerorganisation bei der Notversorgung von Flüchtlingsfamilien in Jarmuk. Seit der Übernahme des Gebietes durch Assad hat die Repression zugenommen, Mitarbeiter*innen wurden verhaftet, die Arbeit massiv eingeschränkt.

Was bleibt, ist das Überleben im Kleinen

Was Hilfe leisten in Syrien bedeutet, wenn selbst die Hilfsgüter der UN nicht mehr durchkommen, zeigt das Beispiel der medico-Partner*innen in der Stadt Erbin. Östlich von Damaskus versucht ein Frauenkomitee, den Mangel an Lebensnotwendigem aufzufangen. Auch Erbin war jahrelang von Assads Armeen belagert und wurde weitestgehend zerstört. Nach der Einnahme durch die russische und syrische Armee 2018 stimmten viele Aktivist*innen unserer Partnerorganisation einem Abtransport nach Idlib zu, viele Frauen aber blieben. Im letzten Jahr unterstützten wir sie bei der Verteilung von Winterbekleidung für Kinder. Aufgrund der staatlichen Überwachung musste die Kleidung im Kofferraum von Autos unter erheblicher Gefahr durch die Militär-Checkpoints nach Erbin geschmuggelt werden. Über eine erneute Hilfe für den Winter stehen wir gerade mit dem Frauenkomitee im Austausch.

Während die Weltgemeinschaft sich auf die Ereignisse im Iran und die zunächst abgewendete völlige Eskalation im Konflikt mit den USA fokussiert, droht die Situation in Syrien langsam aus den Augen der Öffentlichkeit zu verschwinden. Längst ist klar, dass das Regime um Präsident Assad, gestützt durch Russland und den Iran die militärische Auseinandersetzung gewinnen wird. Ein Krieg, den das Regime in erster Linie gegen das eigene Volk geführt hat. Was bleibt, ist das Überleben im Kleinen.

Grundlage aller UN-Initiativen zu Syrien ist die Sicherheitsratsresolution 2254 aus dem Jahr 2015: Im Kern beinhaltet sie eine Friedenslösung per Machtübergabe von Präsident Baschar Al-Assad an eine Nachfolge. Ein Rücktritt Assads war einst die Minimalanforderung der Vereinten Nationen für eine friedensorientierte Nachkriegsordnung in Syrien. 2020 ist man davon weiter entfernt als je zuvor. Assad wird bleiben, die Not und das Leid in Syrien ebenso.

Spendenstichwort: Syrien

Till Küster

Till Küster ist Politikwissenschaftler und leitete bis 2023 die Abteilung für transnationale Kooperation bei medico international.

Twitter: @KuesterTill


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