Afghanistan: Ein sufischer Blick auf Gesetz und Wahrheit

Von Ilija Trojanow.

27.09.2008   Lesezeit: 4 min

Der Archivar der Bibliothek des Palastes zu Baroda hatte mir noch den Ratschlag mit auf den Weg gegeben, ich sollte einen Sufi murshid aufsuchen, denn wenn Burton seine religiöse Zuneigung verspürte, dann war es zum Sufismus. Er hatte Recht, und so kontaktierte ich gleich nach meiner Rückkehr in Bombay den angesehenen Islamwissenschaftler und Aktivisten Ali Asghar Engineer, der mich umgehend einem Mann vorstellte, mit dem ich viele lange Gespräche führen sollte, meist in einer Wohnung, deren offene Fenster das Meer einrahmten und den Klang der Wellen einfingen. Der murshid hielt sich selten in Bombay auf, er besuchte die Stadt nur, um seine Schüler auszurichten, und übernachtete in der Wohnung des Begütertsten unter ihnen, um die anderen nicht zu belasten. Wir saßen auf einer weißen Couch vor den Fenstern und waren stets unter uns, denn nachdem wir mit einer Kleinigkeit erquickt worden waren, ließ man uns allein, und der Lehrer sprach mit einer leisen Stimme, die sich kaum gegen das Tosen des Windes wehrte, und so war ich gezwungen, mich mit nach vorn gebeugtem Oberkörper völlig auf den Ohrsinn zu konzentrieren.

-Diese Kriege, werden sie bald zu Ende gehen?
-Eher nicht. Zu sehr profitieren die Wahnsinnigen auf beiden Seiten von ihnen.
-Ich fürchte, Sie könnten Recht haben.
-Im Irak wird es von Tag zu Tag schlimmer.
-Der Schlüssel ist Afghanistan!
-Afghanistan?
-Aber natürlich, Sie verstehen nichts, mein Lieber, wenn Sie nicht Afghanistan verstehen, und wenn Sie mich jetzt bitte nicht gleich unterbrechen, um mir unüberlegt zu entgegnen, Burton sei nie nach Afghanistan gereist, so als müsse man sich an dem Ort aufgehalten haben, der einen beeinflusst hat; befreien Sie sich von den eisernen Ketten der Kausalität, sie reizen die Haut und verderben das Denken. Afghanistan, sage ich, und ich meine das Land, das bis zum heutigen Tag Afghanistan heißt, bekannt und gefürchtet wie eine unheilbare Krankheit; was glauben Sie, wieso die Briten weiterhin so eifrig das Land zu kontrollieren versuchen, es ist die große Familienschande, es ist das einzige Tier, das sie nicht zähmen konnten. Als ich in Aligarh studierte, da fürchteten wir uns vor den Mitschülern, die aus Afghanistan kamen, sie trugen Waffen und einen Ausdruck auf dem Gesicht, der den Teufel eingeschüchtert hätte, und es beruhigte uns, dass sie wenigstens beteten, fünfmal am Tag, denn dann mussten sie ihre Waffen ablegen und ihren stolzen Kopf zu Boden neigen. Und trotzdem, und daran erkennt man die Hybris des Westens, mein Lieber, werden sie weiterhin unterschätzt, wie anno dazumal, als die Briten zum ersten Mal einmarschierten und dann ihre Festungen im Flachland bauten, weil es bequemer war, aber wer die Berge nicht kontrolliert, hält keine Macht in Afghanistan, und dann überschütteten sie irgendeinen Ziegenhirten mit Geld, weil dieser sich in ihren Augen überzeugend als Emir gebärdete, ohne zu bedenken, wie sehr diese Begünstigung die alten und mächtigen Klans verletzte. Erklären Sie mir bitte nur dies, mein Lieber, wenn die Briten die höchstentwickelte Zivilisation auf Erden darstellen, wie sie früher behaupteten und heute stillschweigend immer noch glauben, wieso gelingt es ihnen nicht – so wie es auch den Amerikanern nicht gelingt –, sich Verbündete auszusuchen, die im Lande, die beim Volk respektiert werden, wieso sind sie, die so klug und gebildet sind, nicht in der Lage, wahre Freunde zu finden? Wieso vereinen sie sich mit Gaunern und Gierigen? Das ist heute so, das war auch damals so, es dauerte nur wenige Monate, bis sich die vielen kleinen Überfälle auf die Nachschubwege, die regelmäßigen Hinterhalte auf die Kuriere zu einem Sturm zusammenbrauten, der alles wegfegte, alles Britische… Und so starben sechzehntausend Männer und Frauen und Kinder, die sich aufgrund der Arroganz und der Zögerlichkeit des Generals W.G.K. Elphinstone verspätet und verzweifelt nach Jalalabad und weiter nach Britisch-Indien zu retten suchten, doch es war Winter, die Schneestürme dicht, die Temperaturen niedrig und der Gegner so erbarmungslos, wie Gott barmherzig ist. Wer nicht erfror, der wurde massakriert, bis auf den letzten Mann, einen Arzt namens Dr. Bryden, dem die unglaubliche Flucht gelang und der allein von der erlittenen Schmach berichten konnte, die sich schneller als ein Orkan bis nach London verbreitete und dazu führte, dass die Regierung stürzte, so wie die Regierung Blair über die Lügen und Fehlentscheidungen in Afghanistan und Irak hätte stürzen müssen. Natürlich rächten sich die Briten, doch es war nur vorübergehend. Afghanistan kann nicht mit Waffengewalt besiegt werden, und wer das nicht versteht, der hat nichts begriffen. Schreiben Sie das auf, mein Lieber, vielleicht liest es ja jemand, der dadurch zum Nachdenken gezwungen wird, bevor er Bomben abwerfen lässt.

(aus: Ilija Trojanow: Nomade auf vier Kontinenten. Auf den Spuren von Sir Richard Francis, Frankfurt 2007.)


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