Während ich am Flughafen von Mogadischu auf ein Taxi wartete, erzählte mir ein Polizist eine ungeheuerliche Geschichte. Folgendes habe sich zugetragen: Eine ausgezehrte Ziege entdeckt ein in ein grünes Tuch eingewickeltes Baby. Blind vor Hunger, hält sie es für ein Büschel Gras, und beißt ein Stück von seinem abgemagerten Oberarm ab. Von den Schmerzensschreien des Kindes aufgeschreckt, sinkt seine Mutter auf die Knie und beginnt weinend zu beten. Am nächsten Tag in Mogadischu erzählte mir ein Freund eine weitere Version der gleichen Geschichte.
Für mich steckt in der Drastik dieser Ziege-frisst-Baby-Geschichte vieles von dem, was man über die gegenwärtige Hungersnot auf der somalischen Halbinsel wissen muss: sechs Millionen bedrohte Menschen, vernichtete Ernten, totes oder sterbendes Vieh. Cholera, Typhus und Meningitis beenden die Arbeit, die der anhaltende Hunger begonnen hat.
Die Verflechtung von Kriegen und Hungersnot hat das Sterben unter den somalischen Bauern- und Viehhalterfamilien vervielfacht. Angaben des US-amerikanischen Außenministeriums zufolge haben Dürre und Hunger seit November 2016 mehr als eine halbe Million Somalis dazu gezwungen, in Flüchtlingslagern am Rande von Mogadischu und anderen Städten Zuflucht zu suchen. Schon vor der aktuellen Krise gab es in Somalia rund 1,1 Millionen Binnenvertriebene. Die Familien in den Camps haben ihre versengten Felder verlassen und sind weite Strecken in Gluthitze durch verdorrte Landschaften gelaufen. Eltern hat es in die Verzweiflung getrieben, mitansehen zu müssen, wie ihre kleinen Kinder an Hunger, Durst oder beidem sterben. Hunger gräbt sich tief in die Erinnerung von Kindern ein. Laut UNICEF sind mehr als eine Million Kinder in Somalia akut unterernährt.
Erinnerungen an frühere Nahrungskrisen kehren zurück. 1974 lebte ich in Somalia, als ausbleibender Regen sich zu einer Hungersnot auswuchs. Damals standen plötzlich notleidende Verwandte vor unserer Haustür. Sie hatten ihr gesamtes Vieh verloren und mehrere Kinder waren bereits gestorben. Siebzehn Jahre später, es war 1991, zerstörte der Bürgerkrieg nicht nur den somalischen Staat, er führte auch zu einem dramatischen Rückgang der Nahrungsmittelproduktion. 2011 legte sich erneut der Hunger über das Land. Ich erinnere mich daran, wie ich inmitten einer vertrockneten Landschaft stand und ein lauer Wind, ebenso ausgezehrt wie die Menschen, über die Ödnis blies, zu schwach, um auch nur den Staub in den Rissen der ausgedorrten Erde aufzuwirbeln. Ich begegnete Frauen und Männern, aus denen jeder Funke Lebendigkeit gewichen war. Die Not raffte damals mehr als 260.000 Menschen dahin.
Die beiden Regionen Lower Shabelle und Bakool leiden aktuell am stärksten unter dem Hunger. Sie werden von den Al-Shabaab-Milizen beherrscht und sind von der Außenwelt abgeschnitten. Al Shabaab leugnet beharrlich, dass in den von ihnen kontrollierten Gebieten eine Hungersnot herrscht, und verweigert Hilfsorganisationen den Zugang. Es ist bitter, dass die Vereinten Nationen und die internationale Gemeinschaft es ebenfalls vermieden haben, die Krise als Hungersnot zu bezeichnen und als solche einzustufen.
In Mogadischu nahm ich Kontakt zu einem Mann auf, den ich Herr Markaawi nennen möchte. Er arbeitet für eine Initiative, die am Rande der Stadt ein Camp für die vor Krieg und Hunger Geflohenen betreibt. Seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 kann man in Somalia überall Opfer eines Angriffs werden, ganz gleich, ob man mit dem Auto übers Land fährt, in einem Café oder Restaurant sitzt, sich in einem Luxushotel aufhält, im Krankenhaus liegt oder in einem Flüchtlingslager lebt. Sobald man in Somalia seinen privaten Raum verlässt, ist man so wenig geschützt wie eine Tontaube beim Scheibenschießen. Während meines Besuches in Mogadischu rieten mir Freunde daher dringend ab, ein Lager außerhalb der Hauptstadt aufzusuchen. Also sorgte Herr Markaawi dafür, dass ich in seinem Büro unweit meines Hotels einige vertriebene Familien treffen konnte.
Während dieser Gespräche hörte ich den gleichen Refrain wieder und wieder: dass sich die Hungersnot seit Monaten ankündigte und verschärfte, bevor sie in der Öffentlichkeit zu einem Thema wurde; dass internationale Reaktionen lange auf sich warten ließen; dass Krankheit, akute Mangelernährung von Kindern und das Sterben zunahmen, nachdem sich die Not im Süden des Landes ausgebreitet hatte, insbesondere in jenen Gebieten, die von Al-Shabaab beherrscht werden.
Hinzu kommt die Dysfunktionalität des somalischen Staates, seine Unfähigkeit, die Wirtschaft zu stärken und an den Bedürfnissen der Menschen zu orientieren, ebenso wie der anhaltende Krieg und die Korruption der politischen Klasse. All das hat dazu geführt, dass die Somalis ihre Hoffnungen auf die internationale Gemeinschaft richten.
Allen war vollauf bewusst, dass die gegenwärtige Hungerkrise weit tödlicher ist als jene von 2011. „Damals haben wir rund ein Drittel unseres Viehbestandes verloren“, erzählte ein Mann. „Jetzt ist die Verwüstung heftiger. Wir haben unser gesamtes Vieh verloren. Es gibt keine Nahrung, kein Wasser und nicht einmal Saatgut.“ Die Menschen haben das getan, was ihnen noch blieb: Sie sind gegangen. Im Camp erhält jede Familie von Hilfsorganisationen 70 Dollar, um überleben zu können.
In Mogadischu traf ich auch Faduma Abdullahi, eine 36-jährige Mutter von acht Kindern. Sie stammt aus einem Dorf im Bezirk Kurtunwarey im Süden des Landes, rund 160 Kilometer entfernt. Dort besitzen ihr Mann und sie ein Stück Land und ein Haus. Die Hungersnot 2011 hatten sie überstanden, indem sie Lebensnotwendiges eintauschten. Diesmal aber gab es nichts mehr, was sie hätten einsetzen können. Zu bleiben hätte bedeutet, dass sie und ihre Kinder verhungert wären. Also haben sie ihre kleine Farm verlassen. „Wir haben uns das Geld für den Bus geliehen und sind ins Camp gekommen“, erzählt Frau Abdullahi. Von den 70 Dollar, die sie hier von einer NGO bekommen, bezahlen sie in ihrem Dorf einen Nachbarn, der auf ihr Haus aufpassen soll. Kein Vertreter der somalischen Regierung oder einer ausländischen Organisation sei jemals in ihr Dorf gekommen, um Unterstützung zu leisten. Da ich davon gehört hatte, dass muslimische Wohltätigkeitsorganisationen in dieser Gegend tätig sind, fragte ich Frau Abdullahi, ob sie von dieser Seite aus Hilfe erhalten haben. Ihre Antwort: „Wir haben keinen einzigen Araber zu Gesicht bekommen.“
Andere Geflohene – darunter ein Mann, den ich zu seiner eigenen Sicherheit hier Mohamed Mahmoud Mohamed nennen möchte – hatten eigentlich in ihren Dörfern bleiben und versuchen wollen, irgendwie zu überleben. Aber Drohungen von Al-Shabaab und die Angst, von den Milizen zwangsrekrutiert zu werden, brachten auch sie dazu, ihr Zuhause zu verlassen. Herr Mohamed, ein 43-jähriger Vater von drei Kindern, leitete in seinem Dorf eine Koranschule mit 60 Schülern. Nebenbei arbeitete er als Bauer und hielt Kühe. Als eine nach der anderen verhungerte, gab es keine Milch mehr, die er verkaufen konnte. Und weil die Familien seiner Schüler die Gegend verließen, leerte sich auch sein Klassenraum nach und nach. Dürre, Mangel und Hunger zwangen ihn schließlich, sich selbst mit der Frage auseinanderzusetzen, ob er und seine Familie sich dem Exodus anschließen sollten. Er wollte bleiben, sagte Herr Mohamed. Doch dann seien Mitglieder von Al-Shabaab auf ihn aufmerksam geworden – ein Koranlehrer, der sehr gut für ihre eigenen Zwecke verwendbar wäre. So kam es, dass auch Herr Mohamed mit seiner Familie aufbrach. Ich erzählte ihm die Geschichte von dem Baby und der Ziege. Sie überrascht ihn nicht im Mindesten. „Schrecklicher Hunger verändert die Natur. Er verändert das Verhalten von Mensch und Tier.”
Dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen war im März dieses Jahres von höchsten Stellen mitgeteilt worden, dass 2,1 Milliarden Dollar nötig sind, um zwölf Millionen vom Hunger bedrohte Menschen in mehreren afrikanischen Staaten und im Jemen mit dem Überlebensnotwendigen zu versorgen. Doch die Mitgliedsstaaten und Geldgeber haben bislang lediglich sechs Prozent des Betrages aufgebracht.
Der Essay ist Mitte August 2017 in der New York Times erschienen.
Übersetzung: Christian Sälzer
Nothilfe ausgeweitet
Es geht um basale Dinge: um Mais und Bohnen, um Treibstoff und Ersatzteile für Brunnen, um Saatgut für die Felder und Impfungen für das Vieh. Angesichts der Hungerkrise in Ostafrika unterstützt medico in einem vom Auswärtigen Amt geförderten Projekt über seinen langjährigen Partner Nomadic Assistance for Peace and Development (NAPAD) Nothilfemaßnahmen im somalisch-kenianischen Grenzgebiet. Im Zuge des nun deutlich ausgeweiteten Projektes werden unter anderem lebensrettende Nahrungsmittelhilfen an 1.400 Haushalte in sehr armen Gemeinden verteilt. Das ist umso wichtiger, weil diese abgelegene Region nicht zuletzt aufgrund der Bedrohung durch Al-Shabaab-Milizen weitgehend von Hilfen abgeschnitten ist.
NAPAD ist eine der ganz wenigen Organisationen, die hier tätig sind – nicht zuletzt deshalb, weil Mitarbeiter selbst aus den betroffenen Gemeinden stammen. Da NAPAD die Situationen vor Ort gut kennt und eng mit den Communities zusammenarbeitet, ist gewährleistet, dass die Hilfe diejenigen erreicht, die sie am dringendsten benötigen: alleinerziehende Frauen, besonders arme und gleichzeitig sehr große Familien, alte Menschen, Menschen mit Behinderung sowie Schwangere und stillende Mütter. Über die akute Nothilfe hinaus werden Gemeindemitglieder im Wasser-Management trainiert und Jugendliche in der Instandhaltung von Solarpumpen geschult oder für die Wiederherstellung von Wasserstellen zur Tränkung von Vieh beschäftigt. Denn über die akute Nothilfe hinaus geht es um das Recht auf Ernährungssicherheit.