Von Thomas Gebauer
In seinem Gedicht „Das Nachtlager“ erzählt Bertolt Brecht von einem New Yorker Bürger, der allabendlich Obdachlosen Unterkunft gewährt: „Das Zeitalter der Ausbeutung wird nicht verkürzt“, schreibt Brecht: „Aber einige haben ein Nachtlager, finden für eine Nacht Schutz vor Wind und Kälte. Der Ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße, aber die Welt wird nicht anders.“
Keine Frage: wer Menschen in Not beizustehen vermag, sollte es tun. Dennoch entpuppt sich solche Hilfe bei näherer Betrachtung als zweischneidig. Solange sie nur das ärgste Elend abfedert, trägt sie unter der Hand zur Stabilisierung jener Verhältnisse bei, die Not und Elend immer wieder aufs Neue produzieren. Hilfe kann solche Verhältnisse aber auch herausfordern: dann nämlich, wenn sie das Unrecht, das in der Not zum Ausdruck kommt, selbst zum Thema macht. Wenn sie es nicht beim Beklagen von „Wind und Kälte“ belässt, sondern den Skandal benennt, dass „Schnee“ Menschen „zugedacht“ ist.
Katastrophen sind immer auch von Menschen gemacht – und in diesem Sinne auch Menschen zugedacht. Naturgewalten, wie sie in diesem Jahr Haiti erschüttert und Pakistan überflutet haben, können sich nur deshalb so dramatisch auswirken, weil sie auf Leute treffen, die ihnen hilf- und schutzlos ausgeliefert sind: auf Slumbewohner, die in baufälligen Häusern zu leben gezwungen sind, auf mittellose Kleinbauern, die von der Hand in den Mund leben, auf Leute, denen Frühwarnsysteme ebenso vorenthalten werden wie ein funktionierender öffentlicher Katastrophenschutz.
Das Versagen der pakistanischen Behörden in der Bewältigung der Flutkatastrophe hat Fragen aufgeworfen. Wie kann es sein, dass ein militärisch hochgerüstetes Land, eine der wenigen Atommächte der Welt, nicht imstande ist, die eigene Bevölkerung besser zu schützen? Sind mit Blick auf die diskreditierte pakistanische Regierung, die von einer nur auf den eigenen Vorteil bedachten Elite abhängt, Hilfen von außen überhaupt sinnvoll? Spielen sie nicht am Ende sogar in die Hände religiöser Fundamentalisten?
Die Gefahr einer „Talibanisierung“ Pakistans ist groß, größer noch als in Afghanistan. Sie ist umso wahrscheinlicher, je mehr – wie in den zuletzt eskalierenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen – jene Sphäre zerrieben wird, die für eine säkulare, an den Menschenrechten orientierte Alternative steht: die pakistanische Zivilgesellschaft.
Und die gibt es noch immer! Wer sich den Blick für die Wirklichkeit des Landes nicht verstellen lässt, kann inmitten von sozialer Fragmentierung und eines wachsenden Chaos auch ein lebendiges und weit gefächertes öffentliches Engagement entdecken. Streiks für höhere Löhne, Proteste gegen soziale Missstände sind keine Seltenheit – und mitunter höchst erfolgreich. 2008 sorgte eine vor allem von Anwälten getragene Protestbewegung für den Sturz von Präsident Musharraf. Es gibt Frauenrechtsgruppen, pharmakritische Ärzteorganisationen und soziale Basisprojekte, die – wie der medico-Partner HANDS – nur zu genau wissen, dass Gesundheitsförderung auch den Kampf um soziale Gerechtigkeit und demokratische Teilhabe meint. Bis Anfang des Jahres, bis die Finanzkrise auch in Pakistan durchschlug, fand in Karachi alljährlich ein vielbeachtetes Filmfestival statt. Über 300 Tageszeitungen sorgen für ein relativ hohes Maß an Pressefreiheit – und geraten dabei leider allzu häufig in Konflikt mit den Machthabern und Extremisten. Über 100 Journalisten sind in den letzten Jahren ermordet aufgefunden worden.
Und darum geht es in der Bewältigung der Folgen der Flut in Pakistan eben auch: um die Solidarität mit zivilgesellschaftlichen Akteuren, die inmitten einer um sich greifenden Irrationalität mit all ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, „Inseln der Vernunft“ zu behaupten. Ziel ist ein unmittelbarer Beistand für notleidende Menschen, der zugleich auch den Wirkungsradius von Organisationen fördert, die für das eintreten, was sich die Mehrheit der Pakistanis noch immer ersehnt: die Teilhabe an einer solidarischen Moderne. Es geht um Hilfen, die weder die Unfähigkeit der Regierung verschleiern, noch von religiösen Eiferern in Dienst genommen werden, sondern die Rechte der Menschen ernst nehmen. Und darin liegt auch in Pakistan die Chance auf Veränderung.
Viele der zivilgesellschaftlichen Organisationen Pakistans haben sich längst über die Landesgrenzen hinaus vernetzt. Bemerkenswert ist dabei, dass sie auch mit Partnern in Indien zusammenarbeiten, einem Land, mit dem sich das pakistanische Establishment eine fast schon obsessive Dauerfehde leistet – nicht zuletzt mit dem Ziel, von der sozialen Misere im eigenen Land abzulenken. Bald ein Fünftel der Bevölkerung lebt in absoluter Armut, Millionen von Kindern überleben nur, weil sie schon in frühen Jahren schwere körperlich Arbeit leisten.
Es sind solche Zustände, denen globale Netzwerke wie das vor einigen Jahren gegründete „People’s Health Movement“ (PHM) den Kampf angesagt haben. Solche internationalen Zusammenschlüsse sind Ausdruck einer sich heute neu herausbildenden unabhängigen internationalen Öffentlichkeit, die zwar noch im Werden begriffen ist, aber ohne die eine menschengerechte Gestaltung der globalen Verhältnisse nicht gelingen wird. Die PHM-Mitstreiter einen grenzüberschreitende politische Initiativen, etwa bei der Verteidigung des öffentlichen Gutes Gesundheit gegen seine weitere Umwandlung in marktförmige Produkte, und konkrete Hilfsaktionen, wie die in Pakistan oder in Haiti.
Es gibt gute Gründe, mit dem Zustand der Welt unzufrieden zu sein. Aber nicht aus abstrakten Idealen speist sich die Idee einer anderen Welt, sondern aus der konkreten Erfahrung von Leid und dem Aufbegehren gegen das damit verbundene Unrecht. Solange Mitgefühl ein nur „innerliches Gefühl“ bleibt, ist dies zu wenig. Erst wenn Mitgefühl zum Ausgangspunkt für das tatkräftige Eintreten für menschengerechte Verhältnisse wird, läuft es nicht mehr Gefahr, nur jenen Zustand zu stabilisieren, den es eigentlich lindern möchte.