Westafrika

Ausgrenzung ist die Seuche

Über die sozialen und politischen Hintergründe der Ebola-Epidemie in Westafrika

26.01.2015   Lesezeit: 17 min

Ebola ist mehr als eine Krankheit: Die Epidemie ist Ausdruck krank machender Verhältnisse. Eine jahrzehntelange nationale und internationale Politik, in der die elementaren Bedürfnisse der Bevölkerung vernachlässigt wurden, schaffte für den tödlichen Virus die besten Voraussetzungen, sich zu verbreiten.

Seit Monaten hat der Ebola-Virus die westafrikanische Region rund um den Fluss Mano fest im Griff, jenes Dreiländereck, zu dem Liberia, Guinea und Sierra Leone gehören und das leider nur in einer Hinsicht die Weltranglisten anführt: Die Gesundheitssysteme dieser drei Länder gehören zu den schwächsten der Welt. Mit bislang mehr als 8.400 bestätigten Todesfällen und einer besonders in Sierra Leone noch immer nahezu ungehinderten Weiterverbreitung übertrifft die derzeitige Ebola-Epidemie alle bisherigen Ausbrüche des seit 1976 bekannten Virus. Tausende nicht gemeldete oder unbekannte Fälle werden zusätzlich vermutet. Hinzu kommt, dass auch die Sterblichkeit an anderen Krankheiten zunimmt, weil sich im Zuge der Epidemie insbesondere auch GesundheitsarbeiterInnen infizieren und an der Krankheit sterben, sodass auch Malariakranke oder Schwangere nicht mehr versorgt werden können.

Ebola war lange Zeit eine extrem seltene und begrenzt auftretende Erkrankung in wenigen ländlichen Gebieten im tropischen Afrika. Nun ist daraus eine dramatische Krise geworden. Die Ursachen für diese bislang größte Ebola-Epidemie sind untrennbar mit sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen verbunden.

Der Fall Sierra Leone

Um sich vor den Ebola-Viren zu schützen, sollte man sich mehrmals am Tag mit Wasser und einem Desinfektionsmittel die Hände waschen. Im Kampf gegen die Ebola-Epidemie empfiehlt die Regierung den Menschen in Sierra Leone dringend diese Hygienemaßnahme. «Bedenkt man, dass jeder Zweite im Land gar keinen Zugang zu sauberem Wasser hat, klingt dieser Rat geradezu zynisch», sagt Joseph Pokawa vom Network Movement for Justice and Development (NMJD), einer landesweit tätigen und respektierten Menschenrechtsorganisation, die sich seit zwei Jahrzehnten für Verteilungsgerechtigkeit und Zugang zum Rechtssystem in Sierra Leone einsetzt.

In einem Land, in dem sich im Schnitt eine MedizinerIn um 30.000 PatientInnen kümmern muss, wundert es nicht, dass die Krankheit das schwache öffentliche Gesundheitssystem heillos überfordert. Es gibt kaum Infrastruktur und zu wenig Personal, um die Kranken adäquat und vor allem auch sicher für die Pflegenden zu behandeln und um die Verbreitung des Virus wirksam einzudämmen. Das westafrikanische Land von der Größe Hessens erbte im Jahr seiner Unabhängigkeit 1961 ein System, das auf Ausbeutung gründet, extrem schwache staatliche Institutionen besitzt, wirtschaftlich auf den Export – insbesondere von Rohstoffen – ausgerichtet und damit vom Weltmarkt abhängig ist. Bereits mit der kolonialen Eroberung und Durchdringung der westafrikanischen Küstenregionen wurde eine Plantagenwirtschaft etabliert, die auf die Bedürfnisse der Kolonialmächte und nicht auf eine lokale Nahrungsmittelsicherheit ausgerichtet war. Die im Kolonialismus geschaffenen Herrschaftsstrukturen bereiteten dem heutigen Patrimonialsystem den Boden, das die Ressourcen in einem persönlichen Beziehungsnetzwerk verteilt und die Unterstützung finanzstarker externer Akteure vor die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung stellt. Ein Erfolgsmodell für die herrschende Klasse und ein profitables System für Unternehmen, denn Sierra Leone verfügt über fruchtbare Böden und unter der Erde lagern viele begehrte mineralische Rohstoffe, darunter Diamanten, Bauxit, Rutil und Gold.

Die ungerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums führte zu Perspektivlosigkeit und Wut – gerade bei der jungen Bevölkerung – und bereitete so den Nährboden für die Kriegsrhetorik der Rebellenbewegung und der Regierung. Das Jahrzehnt des Bürgerkriegs von 1991 bis 2002 mit Zehntausenden Toten wurde von beiden Kriegsparteien maßgeblich durch die Geschäfte mit transnationalen Unternehmen finanziert, die mit «Konfliktdiamanten»1 ein gutes Geschäft machten. Die ohnehin schwach entwickelte Infrastruktur zerbrach, und diejenigen, die es sich finanziell leisten konnten oder berufliche Perspektiven jenseits von Sierra Leone sahen, darunter Ärztinnen und Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, flohen ins Ausland.

Nach dem Ende des verheerenden Bürgerkriegs waren es der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank, die die Regierung zwangen, die Gehälter im Gesundheitssektor bis unter die Armutsgrenze abzusenken, und so den Großteil des noch vorhandenen Gesundheitspersonals vertrieben. Gesundheitsversorgung musste nun fast immer privat bezahlt werden, die hohen Behandlungsgebühren schlossen Millionen Menschen vom Zugang zu Gesundheit aus. Die Exportorientierung der Wirtschaft wurde mit dem Friedensschluss von 2002 systematisch ausgebaut, ohne dass dies eine Verbesserung der Lebensbedingungen für die breite Bevölkerung mit sich gebracht hätte, im Gegenteil: Die großflächige Aneignung von Land durch Unternehmen, um Zuckerrohr und Maniok für die Produktion von Biosprit anzubauen, raubte der Bevölkerung die Ernährungsgrundlage und den Zugang zu Trinkwasser. In der Provinz Bombali, einer der von Ebola am schlimmsten betroffenen Regionen im Norden des Landes, sieht man Zuckerrohrplantagen so weit das Auge reicht.

Auch in den an Diamanten reichen Regionen im Osten des Landes wird die Verwirklichung des Rechts auf Gesundheit auf allen Ebenen torpediert. Um an die Diamanten zu gelangen, werden massenhaft Menschen vertrieben und enteignet, die oberirdischen Sprengungen finden im unmittelbaren Lebensraum der Bevölkerung statt und führen zu schweren Atemwegserkrankungen. Die Industrie wurde in den Verträgen zu keinerlei Reinvestitionen in die Bereiche Bildung oder Gesundheit verpflichtet. Sierra Leones Präsident Ernest Koroma ist stolz darauf, sein Land wie ein Unternehmen zu führen, er entbindet sich selbst und die internationalen Unternehmen von jedweder sozialen Verantwortung.

Es sind die beschriebenen Verdrängungsprozesse, durch die die Menschen und die potenziellen Überträger des Ebola-Virus – wie etwa Flughunde oder Fledermäuse – in engeren Kontakt zueinander geraten. Die Abholzung nimmt den Flughunden den angestammten Lebensraum, immer zahlreicher ist ihr Vorkommen in Waldgebieten, in die nun auch die vertriebenen Menschen ausweichen; Fledermäusen scheinen auf Palmölplantagen besonders gute Lebensmöglichkeiten vorzufinden. Das alles hat tödliche Folgen: Der Virus wird schneller vom Tierwirt auf den Menschen übertragen, entweder durch direkten Kontakt mit den Fledermäusen oder über andere Wildtiere, die ebenfalls von den Fledermäusen infiziert werden können und den Menschen als Nahrung dienen.2

Armut macht krank

Seit Jahrzehnten sterben die Menschen in Sierra Leone an vermeidbaren Krankheiten, was sich – wie eingangs erwähnt – aufgrund fehlender Behandlungsmöglichkeiten noch verstärkt.3 Der Ebola-Virus trifft aber weder jene, die von den Herrschaftsverhältnissen profitieren, noch jene, die die Erosion der sozialen Infrastruktur entschieden und durchgesetzt haben, sondern vor allem arme und kranke Menschen. Durch die Übertragung der Erreger von Mensch zu Mensch sind Arme in beengten Wohn- und Lebensverhältnissen einem höheren Infektionsrisiko aussetzt. Während Wohlhabende es sich leisten können, in großzügigen Häusern zu leben und Privatfahrzeuge zu besitzen, wohnen in den Armenvierteln teils ganze Familien in winzigen Hütten, schlafen in gemeinsamen Betten und fahren in übervollen Sammelbussen. Auch sind arme Menschen in stärkerem Maße auf innerfamiliäre Solidarität im Krankheitsfall angewiesen. In der aktuellen Krise wird der Ebola-Virus besonders häufig durch die Pflege von erkrankten Angehörigen übertragen, sodass häufig ganze Familien nacheinander erkranken und sterben.

«Das hier ist keine Naturkatastrophe», sagt Paul Farmer, Professor an der Harvard Universität, «Ebola ist der Terrorismus der Armut.»4 Im Extremfall führt ein solches durch die Armut hervorgerufene Infektionsrisiko zu massiven Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die sich nicht mehr allein medizinisch begründen lassen. Der militärisch durchgesetzte Cordon sanitaire, die Isolierung des größten Slums in Liberias Hauptstadt Monrovia, ist hierfür ein drastisches Beispiel. Restriktionen der Mobilität haben dramatische ökonomische Folgen: So kamen große Teile des Güterverkehrs in Liberia, Sierra Leone und Guinea zum Erliegen, was die Versorgung mit Nahrungsmitteln gefährdet. So sind zum Beispiel die Preise für Reis bereits um über 30 Prozent gestiegen.

Begründetes Misstrauen

Wieso also sollten die Menschen in einem Land wie Sierra Leone, die den Staat bisher als alles andere als fürsorglich erlebt haben, jetzt den Empfehlungen der Behörden Glauben schenken, Behörden, die vielerorts ganze Viertel abriegeln, ohne die eingeschlossenen Menschen ausreichend zu versorgen? Wieso auf einen Staat vertrauen, der in Sierra Leone seit Jahrzehnten als Produzent von Unsicherheit, Angst und Willkür wahrgenommen wird?

Dieses tiefe Misstrauen auch gegenüber öffentlichen Vorbeugungsmaßnahmen und eilig aus dem Boden gestampften «Aufklärungskampagnen» ist die denkbar schlechteste Voraussetzung für die vielen lokalen HelferInnen und AktivistInnen vor Ort, darunter jene vom NMJD, die ihre Arbeit aus genau diesem Grund jetzt auf Ebola-Aufklärung umgestellt haben. Denn sie können auf eines bauen: Die Menschen vertrauen ihnen, das ist ihr wichtigstes Gut. Seit Wochen gehen sie von Tür zu Tür und versuchen in Gesprächen, Angst, Misstrauen und der fatalistischen Haltung der Menschen entgegenzutreten. Sie erklären geduldig, dass es lebensgefährlich ist, kranke Angehörige zu Hause zu pflegen oder aus Misstrauen gegenüber den Behörden zu verstecken, und dass all jene, die eine Ebola-Infektion überleben, tatsächlich geheilt sind, und warnen vor der wachsenden Stigmatisierung. Und sie versuchen, trauernde Angehörige respektvoll davon zu überzeugen, ihre an Ebola gestorbenen Liebsten nicht zu umarmen und Alternativen für die besonders für Muslime wichtige Totenwaschung zu finden. Und – das ist vielleicht der wichtigste Teil ihrer Arbeit – sie stellen Forderungen an die Politik und klagen die Wahrung der Menschenwürde ein. «Der Umgang mit der Epidemie ist auch eine Frage der Menschenrechte», sagt Josephine Koroma vom NMJD. Die entwürdigenden Praktiken der Seuchenbekämpfung führen zu Verwerfungen – vereinzelt sogar zu Auseinandersetzungen mit tödlichem Ausgang, wenn Verwandten die Toten mit Polizeieinsatz brutal entrissen werden.

In der Provinzhauptstadt Kenema streikten ArbeiterInnen, deren lebensgefährliche Aufgabe es ist, die Toten abzutransportieren und zu verbrennen, nachdem die Regierung monatelang die versprochene Gefahrenzulage nicht bezahlt hatte. Sie ließen die Leichen vor dem Regierungsgebäude liegen.

Auch in Ebola-Krankenstationen wurden ähnliche Streiks begonnen, um ausstehende Löhne einzufordern. Es sind die krank machenden Verhältnisse, die Menschen dazu bringen, zu einer so unerträglichen Maßnahme zu greifen. Gerade deshalb ist es so wichtig, schon jetzt Perspektiven für die Zeit nach der Epidemie zu entwickeln: Für eine Gesundheitsfürsorge, die ihren Namen verdient, für den Zugang zu Bildung und eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. «Indem die Regierung den Menschen das Recht auf Bildung vorenthält, verhindert sie, dass Menschen für ihr Recht auf Gesundheit streiten», sagt Joseph Pokawa vom NMJD, «wir brauchen echte Solidarität. Falsch verstandene Hilfe versäumt es, die Betroffenen zu ermächtigen, sich selbst zu helfen.»

Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik – Strukturelle Prävention

Die von der Ebola-Epidemie betroffenen Länder brauchen akute, massive Unterstützung bei der Krankenversorgung, etwa durch den Aufbau von Behandlungszentren und die Ausbildung freiwilliger Fachkräfte, ebenso bei der Epidemiekontrolle durch Aufklärung und Vermeidung von Neuinfektionen. Gleichzeitig müssen die Lebensgrundlagen derjenigen gesichert werden, die besonders unter den Quarantänemaßnahmen leiden – etwa all jene, deren ökonomische Basis von Mobilität und täglichen Kleinsteinkommen abhängt und die keine Reserven zum Ausgleich von Einkommensausfällen haben. Doch geht es um mehr als das: Die mit dem Globalisierungsprozess entstandenen Gesundheitsrisiken dürfen nicht zur Legitimation einer Politik der kurzfristigen Krisenintervention im Stile quasimilitärischer Operationen mit Luftbrücken, militärischem Sanitätspersonal und Feldlazaretten – begleitet von Wohltätigkeitsveranstaltungen und Katastrophenbildern zum Spendensammeln – dienen.

Eine Politik, die ökonomische Interessen über die Rechte der Menschen stellt und den Großteil der Bevölkerung in Westafrika dazu zwingt, alle Kraft in den Kampf um das tägliche Überleben zu investieren, wird freiwillig keine gesundheitsfördernden Lebensbedingungen schaffen. Für eine strukturelle Prävention, die sich nicht nur mit dem Abfedern des eingetretenen Elends begnügen will, wird nicht weniger benötigt als ein Paradigmenwechsel in der Weltgesundheitspolitik, der die neoliberale Marktdominanz zurückweist und für eine Gesundheitsfürsorge streitet, die allen Menschen zugänglich ist und ein Leben in Gesundheit und Würde ermöglicht.

Stärkung der WHO

In der Ebola-Epidemie wurden die begrenzte Handlungsfähigkeit und Schwerfälligkeit der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die nicht zuletzt zu der verspäteten Reaktion auf die Epidemie führten, offenbar. Dafür wurde die WHO auch medial heftig kritisiert. Neben nicht von der Hand zu weisenden internen Blockaden, die hierfür mit verantwortlich zu machen sind, liegt die Schwäche der Organisation wesentlich in ihrer chronischen Unterfinanzierung begründet. Ihr Jahresbudget entspricht mit zwei Milliarden US-Dollar für das Jahr 2014 dem eines Großkrankenhauses wie der Berliner Charité. Die langjährige Finanzierungskrise, die vor allem die flexibel verfügbaren Mitgliedsbeiträge betrifft, ist seit mehr als 20 Jahren vor allem auf Betreiben der USA und anderer großer Geberländer faktisch eingefroren worden, um mit freiwilligen Zusatzzahlungen mehr direkten Einfluss auf die Aktivitäten der WHO auszuüben. Zuletzt musste die WHO in ihrem aktuellen Budget die Mittel für schnelle Hilfe im Epidemie- und Krisenfall (Outbreak and Crisis Response) um mehr als die Hälfte verringern – auf 228 Millionen US-Dollar für die Jahre 2014 bis 2015.

Die Kürzung von Budgets und die damit entstandene Abhängigkeit von privaten Geldgebern führen zum Kontrollverlust und zu einer problematischen Konkurrenz zwischen den verschiedenen Programmen der WHO um die Gunst der privaten Geber, die ihr Geld meist nur zweckgebunden für spezifische Projekte bereitstellen. Private Stiftungen stehen zu Recht im Verdacht, im engen Schulterschluss mit der Gesundheitsindustrie in der WHO nur die Projekte zu finanzieren, die auf kurzfristige Prestigegewinne und Profite hoffen lassen.5

Wie verheerend der Einfluss interessierter Kräfte auf die Politik der WHO sein kann, zeigte sich 2009: Mit der Ausrufung der globalen (Schweine-)Grippe-Pandemie durch den H1N1-Virus, der sich bald als kaum gefährlicher als die jährlichen Grippeviren herausstellte, war die WHO maßgeblicher Taktgeber für eine massive Bevorratung vieler Staaten mit Grippemedikamenten, deren Wirksamkeit nicht verlässlich nachgewiesen war. Auch die Impfstoffindustrie profitierte massiv von dieser «Angstwerbung». Erst später stellte sich heraus, dass 5 von 16 Mitgliedern des Beratergremiums der WHO, das für die Einschätzung der Gefährlichkeit dieser Epidemie verantwortlich war, finanziell mit Pharmaunternehmen verflochten waren.

Um die Einflussnahme von korporativen Interessen auf die Entscheidungen und Schwerpunktsetzungen der WHO zu minimieren, damit sie in den Debatten um Privatisierungen und den ideologischen Fetischismus der freien Märkte die Wichtigkeit öffentlich verantworteter Gesundheitsversorgung verteidigen kann, ist die öffentliche Finanzierung der WHO durch ihre Mitgliedstaaten unerlässlich. Zugleich sollte die WHO in ihren Beratungstätigkeiten und Normsetzungspraxen ihr Augenmerk wieder verstärkt auf den Ausbau und die Unterstützung lokaler Gesundheitszentren und nationaler Gesundheitssysteme richten: Um Krankheiten wie Ebola nachhaltig bekämpfen zu können – beziehungsweise erst gar nicht entstehen zu lassen –, bedarf es sozialer Strukturpolitiken, die lokales, insbesondere zivilgesellschaftliches, und damit kontextsensibles Wissen sowie auf die Partizipation der Betroffenen ausgerichtete Prozesse der Selbstorganisation zum Ausgangspunkt nehmen. Solche Referenzen gibt es durchaus auch im Kontext der WHO: Das beste Beispiel ist vielleicht die Kommission für die Sozialen Determinanten von Gesundheit, die in einem umfangreichen Prozess unter Einbeziehung vieler Stimmen der globalen Zivilgesellschaft von 2005 bis 2008 wesentliche Erkenntnisse über die Bedeutung sozialer Politiken für gute Gesundheit zusammenführte und ihren Bericht mit den starken Worten schloss: «Soziale Ungleichheit tötet Menschen in großem Maßstab.»6

Ohne Umverteilung keine Gesundheit

Eine Gesundheitsversorgung, die sich dem Ziel, Gesundheit für alle zu erreichen, verpflichtet fühlt, darf weder allein der Eigenverantwortung der Bevölkerung überlassen bleiben noch an kommerzielle Akteure delegiert werden. Sie muss in öffentlicher Hand liegen.

Während die lange vernachlässigte Forderung nach der Stärkung der Gesundheitssysteme in Zeiten von Ebola eine Renaissance bis in die Bundesregierung hinein erfährt, gibt es indes keinen Konsens darüber, ob dies durch private oder öffentliche Gelder finanziert werden sollte und woher die Mittel stammen sollen. Aus unserer Perspektive ist die Umsetzung einer wirksamen Daseinsvorsorge nur über eine progressive Besteuerung von Unternehmensgewinnen, Einkommen und Vermögen finanzierbar. Progressive Besteuerung bedeutet, dass der Steuersatz immer höher wird, je stärker das Einkommen ansteigt.

Die Wiedereinführung der Vermögenssteuer stößt bei den Regierungen fast aller Länder in Europa auf erbitterten Widerstand. Mehr noch: Viele Staaten verzichten auf die Erhöhung ihrer Staatseinnahmen, indem sie globalen Unternehmen legale Schlupflöcher bereitstellen. Diese Praxis gilt für Europa genauso wie für Westafrika. Die Höhe der Steuergeschenke, die die Regierung von Sierra Leone allein im Jahr 2011 an Unternehmen machte, entspricht der achtfachen Höhe des Gesundheitsbudgets des Landes.7 Nicht neue bi-und multilaterale Handelsverträge zum Schutz der Interessen von Investoren sind notwendig, um weltweit gesündere Lebensbedingungen zu gewährleisten, sondern Verträge, mit denen die Wirtschaft grenzüberschreitend sozial eingehegt wird. Das wäre ein zentraler Baustein für eine strukturelle Prävention im Gesundheitsbereich.

Darüber hinaus zeigen die Erfahrungen in vielen Ländern, dass privatisierte Gesundheitssysteme die soziale Ungleichheit im Hinblick auf Krankheit und Tod eher noch verstärken, da der Zugang gerade denjenigen verwehrt wird, die besonders auf Gesundheitsdienste angewiesen sind, weil sie stärker krank machenden Armutsverhältnissen ausgesetzt sind. Ohne die massive Erhöhung der öffentlichen Ausgaben werden sich daher weder Epidemien wie Ebola noch andere gesundheitliche Herausforderungen der heutigen Zeit in einer Weise bekämpfen lassen, die soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod vermindert statt verstärkt.

Internationalisierung des Solidarprinzips

Damit auch Regierungen extrem verarmter Länder und die WHO ihren Aufgaben gerecht werden können, bedarf es einer dauerhaften finanziellen Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft zur globalen Gesundheitspolitik, die auf einem Bekenntnis zu öffentlichen und solidarischen Strukturpolitiken beruht und nicht allein auf kurzfristigen, jederzeit aufkündbaren Hilfsgeldern. Das Solidaritätsprinzip ist der Schlüssel zur Implementierung eines allgemeinen und sozial gerechten Gesundheitssystems. Die Schaffung eines internationalen Umverteilungsmechanismus, ähnlich dem deutschen Länderfinanzausgleich, ist notwendig. Er verpflichtet die reicheren Länder dazu, Ressourcen an Länder zu transferieren, deren fiskalische Möglichkeiten nicht ausreichen, um Gesundheit aus eigener Kraft zu garantieren.

Kritische Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen setzen sich seit einigen Jahren für ein völkerrechtlich wirksames Rahmenabkommen ein, das die Regierungen zur Finanzierung eines Gesundheitsfonds verpflichtet. Diese konkrete Forderung ergibt sich aus dem Menschenrecht auf Gesundheit und hat bereits Eingang in die Diskussionen der UN-Generalversammlung gefunden.

Die Schaffung von funktionierenden Gesundheitssystemen scheitert nicht an fehlenden Ressourcen, sie scheitert an der Weigerung, die bestehenden Ressourcen gerecht zu verteilen. Wenn sich das nicht ändert, bleibt es für die Menschen in Sierra Leone ein Phantasma, über soziale Teilhabe zu sprechen. Es ist allein eine Frage der politischen Bereitschaft und des Drucks der Öffentlichkeit.

Zum Weiterlesen

BRUNELLI, BIANCA: Structural Adjustment Programs and the Delivery of Health Care in the Third World. Health Policy Commons 2007.

CHRISTIAN AID U. A. (HRSG.): Losing Out. Sierra Leone’s massive revenue losses from tax incentives. 2014. HANRIEDER, TINE: Institutioneller Wandel durch Krisen. Ebola als Reformschub für die globale Gesundheitsarchitektur? WZB Mitteilungen 146/2014.

JUSU, AMBROSE R.: Macroeconomic Policies and their Impact on Health in Sierra Leone, New York 2013.

STORENG, K ATERINI T.: The GAVI Alliance and the «Gates Approach» to health System strengthening, London School of Hygiene and Tropical Medicine, London 2014.

www.aljazeera.com/programmes/specialseries/2014/10/fire-blood-2014102384236524375.html

www.jacobinmag.com/2014/11/philanthropic-poverty/

http://globalhealth.thelancet.com/2014/09/04/ebola-or-messy-cocktail-public-health-and-globalisation-post-colonial-africa

www.dw.de/deutsche-ebola-hilfe-kommt-nur-langsam-an/a-18048250

 

Anne Jung ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet seit 1998 bei der sozialmedizinischen Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international. Sie koordiniert die Kampagnenarbeit unter anderem zu den Themen Gesundheit und Handelbeziehungen und ist für die afrikabezogene Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Seit 2008 leitet sie Lehrveranstaltungen zu Kampagnen als Instrument politischer Kommunikation.

Dr. med. Andreas Wulf ist Arzt und arbeitet seit 1998 als medizinischer Projektkoordinator bei medico international mit den Schwerpunkten globale Gesundheitspolitik und Bewegungen, gesundheitsbezogene Entwicklungszusammenarbeit, internationale Pharmapolitik, soziale und politische Determinanten der Gesundheit und Nahost.

 

1 Unter Konfliktdiamanten werden Diamanten verstanden, die von Rebellenbewegungen oder anderen nicht legitimierten Akteuren abgebaut und verkauft werden, um aus dem Erlös kriegerische Konflikte zu finanzieren.

2 Vgl. https://farmingpathogens.wordpress.com/2014/04/23/neoliberal-ebola.

3 In den ersten vier Monaten seit dem Ausbruch von Ebola starben in Sierra Leone 440 Menschen an Ebola; im statistischen Durchschnitt starben im gleichen Zeitraum aber auch 650 Menschen an Meningitis, 790 an HIV/AIDS, 845 an Durchfallerkrankungen und mehr als 3.000 Menschen an Malaria.

4 Zitiert nach: www.washingtonpost.com/blogs/achenblog/wp/2014/10/06/paul-farmer-on-ebola-this-isnt-a-natural-disaster-this-is-the-terrorism-of-poverty/; vgl. auch das Tagebuch von P. Farmer aus Liberia: www.lrb.co.uk/v36/n20/paul-farmer/diary.

5 Charakteristisch hierfür sind das milliardenschwere Programm zur Ausrottung der Kinderlähmung, bei dem der Rotary Fund eine wichtige Rolle als Finanzgeber spielt (www.endpolio.org/de), ebenso wie die enge Verflechtung von Nahrungsmittelindustrie und der Bill und Melinda Gates Stiftung bei der Entstehung des Global Alliance for Improved Nutrition GAIN (www.gainhealth.org/).

6 Vgl. www.who.int/social_determinants/thecommission/en/.

7 Vgl. Christian Aid u. a. (Hrsg.): Losing Out. Sierra Leone’s massive revenue losses from tax incentives, 2014.

 

Dieser Text erschien in der Reihe STANDPUNKTE, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung


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