Der Einsatz für Menschenrechte, Minderheitenrechte und eine demokratische Verfasstheit des Landes bedeutet in der Türkei seit der Formierung des autoritären Staates unter Erdogan in den meisten Fällen staatliche Verfolgung, die mit einer Haftstrafe endet. In den kurdischen Gebieten der Südost-Türkei ist die Situation bereits seit 2015 vollständig eskaliert: der Abriss ganzer Städte, die Vertreibung Hunderttausender sowie der Absetzung demokratischer gewählter Bürgermeister*innen bestimmen die politische und gesellschaftliche Landschaft.
Auch die medico-Partner*innen sind von der staatlichen Repression betroffen. So wurde im November 2016 der Rojava Hilfs- und Solidaritätsverein verboten. Als Hilfsorganisation für syrische Kurd*innen gegründet, leistete der Rojava-Verein über Monate humanitäre Hilfe für die ausgebombten und vertriebenen Bürger*innen kurdischer Städte in der Türkei, u.a. mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln und Baumaterial. Auch wenn die Büroräume geschlossen, die Ausstattung beschlagnahmt und zwangsversteigert wurde, sind solidarische Netzwerke von Freiwilligen erhalten geblieben, die weiterhin Hilfe für die Menschen in den betroffenen Gebieten der Südosttürkei organisieren.
Gefangene ins türkische Parlament gewählt: Leyla Güven
Letztes Jahr im Frühjahr trafen wir die kurdische Politikerin Leyla Güven noch als Ko-Vorsitzende des Demokratischen Gesellschaftskongresses in ihrem Büro in Diyarbakir. Damals tauschten wir uns über die Entwicklung in den kurdischen Städten nach den Aufständen der Jugendlichen und der brutalen Niederschlagung durch das Militär aus. Wir sprachen viel über die Errungenschaften der kurdischen Gesellschaft während des Friedensprozesses, die alle verloren gegangen scheinen und über die letzten Schlupflöcher die bleiben, um die Hoffnung auf Demokratie und Gleichheit nicht aufzugeben.
Für die Unterstützung durch medico für obdachlos gewordene Familien aus der Stadt Şırnak bedankte sich Güven und bat ihre Unterstützung an. Im Juni diesen Jahres wurde sie dann für die pro-kurdische Partei HDP als Abgeordnete aus der Hakkari-Provinz ins türkische Parlament gewählt. Bis heute bleibt ihr Sitz im Parlament jedoch frei. Leyla Güven sitzt seit dem 31. Januar im Hochsicherheitsgefängnis in Diyarbakır. Ihrer öffentlichen Kritik an dem türkischen Einsatz in den nordsyrischen Kanton Afrin folgte umgehend ein Haftbefehl. Ähnlich wie der HDP Vorsitzende Selahattin Demirtaş führte sie ihren Wahlkampf aus dem Gefängnis heraus und erhielt dabei die Unterstützung ihrer weiblichen Mitgefangenen, die ihr die Kandidatur vorschlugen. Es ist für Güven nicht das erste Mal, dass sie ihren Einsatz für Menschenrechte mit einer Haftstrafe bezahlt. Die Immunität als Abgeordnete hätte nun zu ihrer Entlassung führen müssen, doch bisher haben die Richter dem Antrag auf Entlassung nicht stattgegeben. In einem Brief aus dem Gefängnis schreibt sie, dass sie selber nicht damit rechnet bald entlassen zu werden.
Letzter Ausweg Flucht: Leyla Birlik
Auch die kurdische HDP-Politikerin Leyla Birlik trafen wir bei der letzten Türkeireise in Diyarbakır. Die Politikerin aus Şırnak erlebte die Angriffe und Gräueltaten des türkischen Militärs auf die kurdische Bevölkerung hautnah mit und begleitete Verletze in die Krankenhäuser. Sie verlor in den Auseinandersetzungen einen Schwager, sein toter Körper wurde vom Militär an ein Auto gebunden und durch die Stadt geschleift. Kurz nach seiner Beerdigung wurde Birlik im November 2016 das erste Mal verhaftet, der Vorwurf lautete ähnliche wie bei Leyla Güven und tausenden ihrer Parteikolleg*innen, Journalist*innen und Oppositionellen auf „Beleidigung des Staatsoberhauptes“ und „Unterstützung einer terroristischen Organisation“. Damals saß sie zwei Monate im Gefängnis und wurde wegen mangelnder Beweise zunächst frei gelassen. Sie berichtete schon bei unserem Treffen, dass sie immer einen gepackten Koffer bereit habe, für den Fall der erneuten Verhaftung. Und so kam es auch. Ihr Einsatz für die Bevölkerung Şırnaks, für die Einhaltung der Menschenrechte und die Artikulation der Interessen großer Teile der Bevölkerung im Südosten der Türkei wird weiter verfolgt und bestraft. Im letzten Jahr folgten erneute Verhaftungen, Prozesstermine und die Verurteilung zu einer Haftstrafe ohne Bewährung. Leyla Birliks letzter Ausweg war schlussendlich die Flucht über die Grenze nach Griechenland - illegal - denn bei der letzten Entlassung aus der Untersuchungshaft behielten die Behörden ihren Reisepass. In Griechenland hofft sie nun auf politisches Asyl. Ob sie dieses bekommen wird ist noch unklar, denn immer mehr Regierungskritiker*innen suchen Zuflucht in Griechenland. In Booten überqueren sie auf einer nicht ungefährlichen Reise die Ägäis oder den Grenzfluss Meric. Seit dem vereitelten Putschversuch in der Türkei und der Flucht türkischer Soldaten nach Griechenland sind die Beziehungen beider Länder angespannt. So ist zu befürchten, dass um die Beziehungen nicht weiter zu belasten, Menschen wie Leyla Birlik das lebenswichtige Recht auf politisches Asyl verwehrt wird.
Die demokratische Türkei in weiter Ferne
Der Einsatz von Leyla Güven und Leyla Birlik für eine demokratisch verfasste Türkei und für die ethnisch-religiösen Vielfalt und Gleichheit aller ist unermüdlich. Dass dieser Einsatz zurzeit mit einer Gefängnisstrafe und der Flucht aus der Türkei einen niederschmetternden Weg nimmt, zementiert die politische Lage in der aktuellen Türkei. Nach der Wiederwahl Erdogans, der knappen Mehrheit für das Wahlbündnis seiner AKP-Partei und der faschistischen MHP wird die Verfolgung kritischer Stimmen, die Niederringung demokratischer Ideen und die gewalttätige Repression gegen Proteste auf der Straße weiter gehen.
Solange weder Verbote noch Gefängnisstrafen verhindern, dass sich die Menschen gegenseitig beistehen, bleibt medico an der Seite derjenigen die nicht aufgeben können und ihr Recht zu Bleiben und Mitbestimmung in kleinen Schritten umsetzen. So unterstützen wir weiterhin den Bau der „Häuser der Hoffnung“ für die Familien bei Şırnak. Unsere Solidarität gilt den Tausenden, die in den Gefängnissen der Türkei sitzen, denjenigen die, die unsichere Flucht auf sich nehmen und denjenigen die unter den autoritären Bedingungen weiter für die Freiheit und Gleichheit aller streiten.