Afghanistan

Beckett wäre Hoffnung

25.09.2018   Lesezeit: 9 min

Der medico-Partner AHRDO in Afghanistan probt ein Stück über einen Selbstmordattentäter. Dann geschieht ein Selbstmordattentat.

Von Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn

Kabul am 15. August 2018, 16.00 Uhr. Die Proben zu unserem neuen Theaterstück, das den andauernden Konflikt im Land aus satirischer Perspektive behandelt, sind für heute beendet. Es fehlt nur noch der Feinschliff, dann kann unsere Inszenierung, inspiriert von Pablo Nerudas „20 Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung“ aufgeführt werden. Eine der heute geprobten Szenen hat den Titel: Der schönste Selbstmordattentäter der Welt. Die sechs afghanischen Kollegen und ich scherzen ausgelassen über die Absurdität dieser in Afghanistan bis vor Jahren noch unbekannten Form des (Er-)Mordens, die inzwischen den Alltag der Menschen auf Schritt und Tritt bestimmt. Wir sammeln ein paar Sätze, die viele Afghanen tagtäglich als Überlebensmantra zu hören bekommen. „Wann immer du eine Gruppe von mehr als fünf Menschen siehst, bleib fern, es könnte sich jemand in die Luft sprengen.“ Oder: „Untersteh dich, nach einer Explosion den Opfern sofort zu helfen. Ein weiterer entehari könnte darauf warten, auch dich in den Tod zu reißen.“

So etwas muss ich meiner Familie in Hamburg nicht sagen. Im Normalfalal tauschen wir höchstens die Verabschiedungsfloskel „Bis heute Abend“ aus. Im Probenraum wird es kurz still, alle schauen betreten zu Boden. Dann ergreift Doktor Sharif (Spitzname „Actor Sharif“), einst politischer Gefangener und Guerillero, das Wort: „Hjalmar jan, leider haben 40 Jahre Krieg nicht nur unsere Körper und Seelen zerstört. Auch unsere Fähigkeit, sich sprachlich ausdrücken zu können, ist von der ewigen Gewalt und Angst stark verzerrt worden. Aus diesem Grund sprechen viele von uns heute nur noch eine vernarbte Sprache. Es ist eine Tragödie.“

Überleben, alles andere ist Luxus

Beim Stichwort „Tragödie“ sind wir schnell wieder bei unserem Stück, und der Enthusiasmus über die anstehende Aufführung kehrt zurück. Saleem, der Schauspieler, der die Rolle des „schönsten Selbstmordattentäters der Welt“ mit großem Gestus spielt, ist im Begriff, seine aus Coca-Cola- und Pepsi-Dosen bestehende „Explosionsweste“ auszuziehen, als bei einer Kollegin das Smartphone klingelt. Die Nachricht: Ein Selbstmordattentäter, ein echter und definitiv nicht schön, hat sich soeben mitten in einem Vorbereitungszentrum für angehende Studenten in die Luft gesprengt. Nur wenige Autominuten von uns entfernt, mitten in einer vorrangig von Angehörigen des Volkes der schiitischen Hazara bewohnten Gegend im Westen Kabuls. Fünf meiner sechs Kollegen leben mit ihren Familien dort. Unsere gute Laune stirbt den Sekundentod, die Handys werden zum wichtigsten Gut. In der Ferne hören wir die Sirenen von Ambulanzen. Es heißt, zwölf Menschen seien ums Leben gekommen.

Am Abend gegen 21.30 Uhr sitze ich mit drei Kollegen in unserem nur drei Kilometer vom Tatort entfernten Büro. Mittlerweile ist die Zahl der Todesopfer auf 35 angewachsen, zum Glück ist darunter niemand von unseren Leuten, aber einige Bekannte sind verletzt oder verschollen. Meine langjährigen Weggefährten können ihre Wut kaum mehr kontrollieren, Tränen der Empörung und Ohnmacht fließen. Draußen mischen sich die Sirenen der Rettungswagen mit den Gebetsrufen der sunnitischen Moscheen im Umkreis. Wir bekommen sofort eine Gänsehaut. Leider stehen sich derzeit in Afghanistan auch wieder sunnitische und schiitische Muslime gegenüber, wobei letztere seit der Herrschaft des „Eisernern Emirs“ Abdur Rahman Khan im späten 19. Jahrhundert gern als „Ungläubige“ und „Spione“ denunziert werden. Radikale sunnitische Führer rufen wieder einmal dazu auf, die Kāfirs endlich auszurotten. Es gibt viele Wege zu sterben in Afghanistan.

Da augenblicklich die Zahl der zivilen Opfer von Tag zu Tag steigt, haben die Regierung des Präsidenten Aschraf Ghani und die internationale Gemeinschaft in der Bevölkerung fast jeden Kredit verspielt. Mit dem Islamischen Staat (IS) ist im Osten ein zusätzlicher, absolut unbarmherziger Akteur am Werk, der gewillt scheint, die Leidensfähigkeit der Afghanen endgültig zu brechen. „Für eine Mehrheit von uns ist die Vorstellung von Frieden und Gerechtigkeit, ist der Traum von einem glücklichen und selbstbestimmten Leben immer mehr zu einer ontologischen Unmöglichkeit geworden. Was allein zählt, ist das Überleben. Alles andere ist Luxus“, so Hadi Marifat, Intellektueller und Dichter, seit gut zehn Jahren einer meiner besten Freunde.

Diese für die Anhänger von Deportationen afghanischer Asylbewerber aus Deutschland möglicherweise unangenehme Lagebeschreibung hält uns an diesem Abend andererseits nicht davon ab, genau das Gegenteil von dem zu tun, was Hadi gerade gesagt hat. Also widmen wir uns dem Luxus der (politischen) Kunst, in diesem Fall der afghanischen Aneignung von Kasimir Malewitschs Das Schwarze Quadrat. Dieses dient als Eingebung für ein grauschwarzes afghanisches Quadrat, das den ständig erlebten Übergang von Traurigkeit (Grau) in Schwermut (Schwarz) und zurück symbolisiert und als bewusst abstrakt gewähltes Emblem für unser neues Stück fungieren soll. Gemeinsam mit dem Schriftsteller und bildenden Künstler Hamid (Spitzname: „Fidel“) diskutieren wir darüber, ob das Symbol des Quadrats nicht besser durch ein Minuszeichen ersetzt werden sollte, da die afghanische Wirklichkeit so unfassbar hart ist, dass sämtliche, auch nur erträumten Neuanfänge immer mindestens bei minus 100 beginnen. Betroffenes Schweigen, dann ein plötzliches Handyklingeln. Hadi wird gebeten, sich morgen der Trauerfeier für die Opfer des jüngsten Anschlags anzunehmen.

Die eben noch verstümmelten Flügel wachsen wieder nach. Für die nächsten Stunden sind Hadi und Hamid frenetisch am Telefonieren und Tweeten, gepaart mit Momenten von existenzieller Lähmung ob der scheinbaren Sinnlosigkeit des Lebens in Afghanistan. Hamid schlägt vor, dass unser nächstes Stück eine afghanische Version von Samuel Becketts Warten auf Godot sein sollte: „Auch wir warten seit Jahren darauf, dass uns jemand rettet, aber sowohl unsere vermeintlichen Erlöser als auch unsere eigenen Versuche, diese Drecksspirale endlich zu unterbrechen, führen immer wieder in dieselbe Sackgasse der verstümmelten Hoffnungen. Es ist einfach nur absurd, Afghane zu sein.“

Obwohl es schon weit nach Mitternacht ist, versucht Hadi, die Familien der Opfer zu kontaktieren und zu fragen, ob, wo und wann die größtenteils verstümmelten Körper der zwischenzeitlich 45 Todesopfer beerdigt werden sollen. Eine Gedenkstätte wird erwogen, aber schnell stellt sich heraus, dass die wenigsten bereits identifiziert worden sind und einige der Toten keine Angehörigen in Kabul haben, sondern als Hoffnung einer ganzen Familie hierhergeschickt wurden. Das heißt, viele Eltern dürften noch nicht einmal wissen, dass ihre Kinder bei einem Anschlag ums Leben gekommen sind.

Andererseits müssen die Toten innerhalb von 24 Stunden gewaschen und beerdigt sein, sonst ist es wahrscheinlich, dass die Regierung sich der Körper annimmt und man diese nie wieder sehen wird. Schließlich wird beschlossen, einen lokalen Polizeichef zu treffen, der beim vorgesehenen Massenbegräbnis die Sicherheit garantiert. Leider ist von dem am nächsten Tag nichts zu sehen.

Kabul, am 16. August 2018, 3.40 Uhr. Es klopft an der Tür. Hadi tritt ein. „Hjalmar jan, ich kann nicht schlafen. Können wir noch ein wenig plaudern?“ Wir setzen uns auf den Boden. Das Licht bleibt aus. Erstickendes Schweigen. Dann Hadis Frage: „Wie oft steigt der Phönix aus der Asche, bis er aus Verzweiflung krepiert?“

Ich antworte irgendeinen Stuss. Irgendetwas mit „die Zukunft gehört den Afghanen, weil ihr seit Jahrzehnten die Kunst des Überlebens, des Widerstands und der Unerschütterlichkeit trainiert habt, und es genau diese Fähigkeiten sind, die wir im Westen schon vor langer Zeit verloren haben“. Hadi ist nicht überzeugt. Wie so sollte er auch? Wir umarmen uns. „Schlaf gut. Wir sehen uns in ein paar Stunden.“

Beckett würde zugrunde gehen

Kabul, 16. August 2018, die genaue Zeit hat keine Bedeutung mehr. Es ist einfach nur der Zeitraum nach einem weiteren Selbstmordanschlag in einem Land, in dem die Hoffnung der allermeisten Menschen seit Generationen immer neuen Vernichtungsfeldzügen geopfert wird. Wäre Beckett heute noch am Leben, er würde an Afghanistan zugrunde gehen. Warten auf Godot wird hier zum Warten auf den nächsten Selbstmordanschlag, und im Gegensatz zu Godot, der niemals kommt, besteht für alle meine afghanischen Kollegen kein Zweifel, dass es diesen nächsten Anschlag irgendwann geben wird. Getreu dem Motto: Es hat sich schon seit Tagen niemand mehr in die Luft gesprengt. Es kann nicht mehr lange dauern, und dann heißt es wieder Gräber schaufeln.

Wir haben unsere Proben für heute verschoben. Stattdessen waren Hadi, Doktor Sharif, Saleem, Fidel, Assad, Yunus, Qazim, Khatera und Zahra – die letzten beiden sind die Hauptdarstellerinnen des neuen Stücks – auf der Gedenkfeier für die Opfer, wo sie gemeinsam mit Hunderten von Trauernden und ohne Polizeischutz das Massengrab für die Anschlagsopfer geschaufelt haben. Insgesamt neun zerstückelte Körper sind bei extremer Hitze und gegen den Widerstand von bewaffneten Milizen, die den Gedenkort plötzlich für sich beanspruchen wollten, wortwörtlich zu Grabe getragen worden.

Zurück im Büro sitzen die Kollegen – solidarische Totengräber allesamt – völlig erschöpft und stumm vor mir. Ich serviere ihnen Tee. Einer schläft sofort ein. Hadi ist mit seinen Kräften ebenfalls am Ende, aber er tweetet und telefoniert irgendwie weiter. Doktor Sharif misst sich selbst den Blutdruck. Khatera und Zahra waschen sich den Sand aus den Gesichtern. Sand der Trauer und Wut. Ich bitte sie, mir in einem Satz oder einer Frage zu beschreiben, wie es dort war auf dem Gedenkhügel. Was sie fühlten oder dachten, als sie dort gegraben haben. Ihre Antworten sind eine Anklage gegen alle, die in Afghanistan den Krieg forcieren und davon profitieren. „Ich habe mich gefragt, wer mein Grab schaufeln wird, wenn ich irgendwann Opfer eines Anschlags werden sollte“, sagt Saleem. Und Khatera meint: „Bis vor Kurzem noch habe ich mich auf genau jenem Hügel mit Freundinnen regelmäßig zum Picknick getroffen. Heute habe ich dort die Körper meiner Landsleute begraben. Ich frage mich, wie ich diesen Hügel in der Zukunft erinnern werde.“

„Das Schlimmste von allem ist“, äußert sich Zahra, „dass ein gewaltsamer Tod für uns immer mehr zur Norm wird. Ich frage mich ständig, wann es mich endlich trifft. Ich hoffe nur, dass der Tod schnell eintritt und ich nicht tagelang langsam verrecke.“ Und noch mal Khatera: „Es klingt pathetisch, aber trotz aller Trauer und Wut hat mir der Tag heute auch Mut gemacht.“ Nein, Khatera jan, deine Worte sind nicht pathetisch. Du und die anderen, ihr sagt einfach nur die Wahrheit, nichts als die Wahrheit. Und wir, die wir auf unterschiedliche Art und Weise dazu beitragen, dass ihr mehr Zeit investiert, euren baldigen Tod zu antizipieren als gemeinsam mit euren Lieben das Leben zu genießen, wir haben verdammt noch mal die Pflicht, euch zuzuhören.

PS: Die Generalprobe beginnt am nächsten Tag neun Uhr.
 

Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn, dessen Text wir hier veröffentlichen und der zuerst in der Wochenzeitung „Freitag“ erschien, ist ein langjähriger Kollege in der Zusammenarbeit mit dem afghanischen medico-Partner AHRDO. Die Menschenrechtsorganisation arbeitet u.a. mit Theater der Unterdrückten wie in der oben geschilderten Probe-Arbeit. Diese immer gefährdete Arbeit an einer kollektiven Erinnerung, die Demokratie und Menschrechte möglich macht, können Sie unterstützen.

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Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2018. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!


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