Kapitän wider Willen
Zwei junge Männer übernehmen die Verantwortung für 50 Menschen
Die Küste Tarfaya nahe der Stadt El Aaiún in der Westsahara dient als Abfahrtsort für Migrant:innen, um die Kanarischen Inseln zu erreichen. Von dort startete auch der junge Lamine Thiam auf einem traditionellen Fischer-Holzboot die gefährliche Überfahrt. Mit ihm auf der Flucht: rund 50 Frauen, Männer und Kinder aus dem Senegal, Gambia, Mali, Guinea-Conakry und der Elfenbeinküste.
An die Küste der Westsahara gebracht wurde die Gruppe in Konvois von passeurs, sogenannten Fährleuten. Am Meer angekommen wurden sie an weitere passeurs vermittelt, die die Logistik der Überfahrt auf die Kanarischen Inseln organisierten.
Als Fischer weiß Lamine Thiam, wie eine Piroge zu lenken ist, also übernahm er das Steuer und die Verantwortung, die Menschen sicher auf die Kanarischen Inseln zu bringen. Um auf hoher See nicht den Kurs zu verlieren, bat er den jungen Senegalesen Sindo Mbaye, ihm beim Navigieren zu assistieren. Dafür, dass Lamine sich bereiterklärt, das Boot zu steuern und Sindo ihn unterstützt, wurde ihnen der hohe Preis für die Überfahrt erlassen. Doch der Preis, den sie letztlich zahlen müssen, ist höher.
Nachdem es anfangs noch Probleme mit dem Bootsmotor gab, begann die Gruppe in der Nacht vom 3. Juli 2024 die Überfahrt. Lamine war noch nie so weit mit dem Boot draußen, er fürchtete die hohen Wellen und die Sturmböen des Atlantiks. Zusammen mit Sindo saß er direkt neben dem Motor des Schiffs. Dabei ahnten sie nicht, dass die marokkanische Küstenwache sie schon bei ihrer Abfahrt beobachtet und fotografiert hatte. Ein einziges Foto diente später als Beweismittel, um Lamine und Sindo der Schlepperei anzuklagen.
Nachdem die marokkanische Küstenwache die Abfahrt der Piroge abgewartet hatte, griff die Marine das Boot schließlich auf. Beide, Lamine Thiam und Sindo Mbaye, wurden als vermeintliche Schleuser identifiziert und ins Gefängnis in El Aaiún gebracht. Noch minderjährig wurden sie der Schlepperei angeklagt. Lamine Thiam und Sindo Mbaye drohten fünf bis 20 Jahre Haft, ohne anwaltliche Unterstützung waren sie auf sich allein gestellt. Ihre Mitreisenden wurden zeitweise in eine Haftanstalt gebracht und anschließend ins Landesinnere gefahren, weit weg von der Küste.
Die Zustände im Gefängnis von El Aaiún sind katastrophal: Kontakt nach Außen ist kaum möglich, die Lebensmittelversorgung kritisch und die Inhaftierten leiden unter psychischen Belastungen. Um Lamine Thiam und Sindo Mbaye psychisch und politisch zu unterstützen, besuchen lokale Aktivist:innen die beiden im Gefängnis. Sie konnten auch einen Rechtsbeistand organisieren. Erst kürzlich konnte Lamine – dank der Unterstützung der Aktivist:innen – seine Familie in Gambia kontaktieren.